Protokoll der Sitzung vom 23.06.2011

in Verbindung mit

lfd. Nr. 29:

Antrag

Unternehmen in Vielfalt fördern

Antrag der Grünen Drs 16/4271

Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Saleh.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon vor 1961 war Deutschland ein Einwanderungsland. Italiener und Portugiesen sorgten im Ruhrgebiet nicht nur für die Etablierung von Pizza und Spaghetti, sondern vor allem für einen günstigen Abbau von Kohle. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei vor 50 Jahren, an welches wir heute erinnern, war leider deutlich vom damaligen Zeitgeist geprägt. Eine Anwerbung galt nur für unverheiratete, gesunde Menschen und auch nur, wenn sie aus dem europäischen Teil der Türkei stammten. Nach zwei Jahren sollten sie Deutschland wieder verlassen. Diese Inhalte lockten gering qualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten, deren Verweilen ausdrücklich nicht geduldet war. Sie sollten arbeiten, sie sollten wirtschaften und so wenig wie möglich unsere Gesellschaft prägen. Wir alle wissen, dass es zum Glück anders gekommen ist. Die Inhalte des Vertrags wurden drei Jahre später geändert. Die Gastarbeiter kamen, und die Gastarbeiter blieben. Sie trugen einen wesentlichen Beitrag zum Wachstum unseres Landes bei. Sie holten ihre Familien nach. Die sprichwörtlichen Koffer, auf denen sie saßen, wurden ausgepackt. Auch mein Vater kam in den 60er-Jahren nach Berlin. Er wurde irgendwann heimisch, holte seine Kinder nach und wollte, dass diese mehr Chancen auf Wohlstand und Teilhabe haben. Sie sollten es besser haben durch Bildung und Teilhabe.

Geschichten und Biografien wie diese prägen seit 50 Jahren unser Land. Die Entwicklung unserer Stadt ist eng mit den Erwartungen der Migrantinnen und Migranten verknüpft, mit ihrem Heimischwerden, aber auch mit schwierigen Arbeitsbedingungen, mit ihrem Leben am Rande der Gesellschaft. Niemand hat das besser beschrieben und dargestellt als Günter Wallraff in seinem Buch „Ganz unten“, in dem er seine persönlichen Erlebnisse als vermeintlicher Gastarbeiter schildert. Mit seinem Buch hat er vielen in der Gesellschaft die Augen geöffnet.

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Heute müssen wir uns fragen, wie unsere Stadt mit den Geschichten der Menschen umgeht. In vielen Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien betone ich immer wieder, dass ihre Biografien Potenziale und Chancen bergen, dass sie stolz darauf sein können, wie ihre Eltern und Großeltern unsere Wirtschaft und Gesellschaft prägten und prägen, und dass sie neben der deutschen Sprache ihre Sprache als kulturelles Erbe verstehen und würdigen sollen. Gerade in einer globalisierten Welt ist Mehrsprachigkeit nicht von Nachteil.

[Beifall bei der SPD, der CDU und der Linksfraktion]

Hinterfragt eure persönlichen Geschichten, es geht um eure Identität, schämt euch dafür nicht, denn unsere Stadt hat Platz für viele Identitäten!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Aber auch wir in der Politik müssen unsere Geschichte hinterfragen. Wo sind heute Spuren der Zuwanderinnen und Zuwanderer? Wo haben sie gewohnt? Wie waren ihre Lebensumstände? Die Entwicklung der gesellschaftlichen Prozesse ist heute noch zu wenig sichtbar, zu wenig dokumentiert. Die Menschen haben ein Recht auf ihre Geschichte, sie haben ein Recht darauf, dass sie verarbeitet und gezeigt wird. Sie haben auch ein Recht darauf, dass ihre Leistungen und ihr Beitrag für unsere Stadt nicht vergessen werden. Sie verdienen unseren Respekt und unsere volle Anerkennung!

[Beifall bei der SPD, der CDU, den Grünen und der Linksfraktion]

Deswegen haben wir uns entschlossen, in der Aktuellen Stunde genau dieses Thema und diese Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Heute Vormittag hat der Regierende Bürgermeister einen Empfang gegeben und viele Menschen mit einer Gastarbeiterbiografie eingeladen, um ihnen die Anerkennung der Stadt Berlin zu zeigen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Es kann jedoch nicht nur um den Umgang mit unserer Geschichte gehen, vielmehr müssen wir uns mit der Gestaltung unserer Gegenwart und vor allem unserer gemeinsamen Zukunft auseinandersetzen. Weltoffenheit, Toleranz, Veränderung – all das gehört zum Selbstverständnis Berlins. Wir alle wissen, dass die Menschen nicht nur ihre Arbeitskraft zu uns brachten, sie kamen mit ihrer eigenen Kultur, mit ihrer eigenen Religion, mit ihren eigenen Lebensentwürfen. Dies kann eine Bereicherung sein, wir müssen es nur nutzen. Der Umgang mit den Strukturen anderer Kulturen und Religionen muss noch etwas besser werden. Tage wie diese sollten auch türkische und muslimische Verbände vor die Frage stellen, wie sie ihren Beitrag dazu leisten, dass das Miteinander in der Gesellschaft noch besser funktioniert.

[Beifall bei der SPD]

Es ist auch notwendig festzustellen, dass es für den Islam nach wie vor keine Körperschaft des öffentlichen Rechts

gibt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sich die vielfältigen Moscheegemeinden erst einmal auf eine Struktur einigen – auch das wäre eine Form der Anerkennung.

Unsere vielfältigen Wurzeln sind ein Teil Berlins, ein Teil Deutschlands, ein Teil unserer Gesellschaft. Bei allen Chancen und Herausforderungen muss man dieses mit sich tragen.

Zu Frau Kollegin Baba: Sie haben vorhin, wie ich finde, die Probleme gezeigt, die es gab. Und Sie haben die Probleme auch ausgeführt, aber ich will mal aus meiner Sicht sagen: Es gibt nicht Schwarz-Weiß in der Politik. Es gibt, glaube ich, ein ganz breites Mittelfeld. Was im Großen und Ganzen in Berlin passiert, die bilateralen Ehen, die Freundschaften innerhalb der Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen, die Freundschaften im Studium, auch das ist die Wahrheit zur Integration in Berlin. Die Integration ist viel weiter, und auch Sie, bitte, zerreden Sie sie nicht, sondern: Die Integration in Berlin ist hunderttausendfach gelungen.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Vielen Dank! – Das Wort für die CDU-Fraktion hat der Kollege Dr. Wegner.

Sayın Başkan, Sevgili Arkadaşlar! Oder zu Deutsch: Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!

[Beifall bei der CDU, der SPD und den Grünen]

Der 31. Oktober 1961 ist das Datum des Abschlusses des Anwerbeabkommens Deutschland-Türkei. Es ist die Fortentwicklung dessen, was 1955 mit Italien und 1960 mit Griechenland und Spanien und danach mit Tunesien und Marokko verabredet worden ist. Dieses Abkommen zur zeitlich begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften – der Kollege Saleh hat darauf Bezug genommen –, also mit Rotationsprinzip, ohne Familiennachzug, maximale Aufenthaltsdauer von zwei Jahren – 1964 wurde das dann geändert –, dieses Abkommen ist eine Erfolgsgeschichte. Es ist Erfolg in der Förderung des Wirtschaftswachstums und der Fortentwicklung des deutschen Wirtschaftswunders. Es ist ein Erfolg in der wachsenden Globalisierung der Weltwirtschaft. Die Berliner Traditionsmarke Telefunken ist mittlerweile in türkischem Besitz. Es ist ein Erfolg in der Schaffung des sozialen Aufstiegs der zuziehenden Gastarbeiter, daheim wie hier. Und es ist ein Erfolg in der Erweiterung der kulturellen Vielfalt in der Gesellschaft. Das sehen wir hier in dieser Stadt. Es ist ein Erfolg in der Bereicherung der Nationen, wenn man sich beispielsweise den Tourismus anschaut. Es ist ein Erfolg für Deutschland vor Ort. 80 000 türkische Unternehmen in Deutschland, das sind 38 Prozent aller türkischstämmigen Unternehmen in ganz Europa. 400 000 türkischstämmige Arbeitnehmer, die dort beschäftigt werden, das sind

49 Prozent aller türkischstämmigen Arbeitnehmer in Europa. Und es ist ein Erfolg in Berlin. Im Zehnjahresvergleich 1999 bis 2009 konnten wir feststellen: von 5 000 Unternehmen auf über 8 000 Unternehmen in über 100 Branchen, von 20 000 Arbeitnehmern, die diese Unternehmen beschäftigen, auf über 30 000, von 650 Millionen Euro 1999 umgerechnet auf 3,5 Milliarden im Jahr 2009.

Dieser Erfolg hat Geschichte. 1954 erfolgte die Anmeldung des ersten deutsch-türkischen Handelsunternehmens in Berlin-Zehlendorf, 1962 die Eröffnung des ersten türkischen Restaurants in der Knesebeckstraße,

[Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne)]

1967 der erste Charterflug Berlin-Istanbul, 1972 der erste türkische Imbiss in Berlin, 1973 die erste Präsentation türkischer Erzeugnisse auf der Grünen Woche. Und es ist auch allen öffentlichen Mären zum Trotz ein Erfolg in der beruflichen Ausbildung. Während der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Wohnbevölkerung 18,7 Prozent beträgt, beträgt er im Bereich der beruflichen Bildung bei den jungen Menschen 28,6 Prozent. Kurzum: Migration hat nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Unternehmer, Investoren, Arbeitgeber und Ausbilder in das Land und damit in unsere Stadt gebracht.

Und wenn ein Mensch 50 Jahre alt wird, ist die Wahrscheinlichkeit allerdings auch relativ groß, dass in seinem Leben einiges schiefgelaufen ist. Und so ist dann eben auch in 50 Jahren Bestand Anwerbeabkommen einiges schiefgelaufen. Über 30 Jahre wurde, obwohl die Rechtslage sich entsprechend geändert hatte, darauf vertraut, dass die Gastarbeiter zurückkehren. Die Rezessionen 1967 und 1973 führten zum Anwerbestopp, ohne den Familiennachzug und die Familienzusammenführung in irgendeiner Weise dem anzupassen. Der stetig ansteigenden ausländischen Wohnbevölkerung durch Familiennachzug und auch durch das Kinderkriegen wurde seitens der damaligen Bundesregierung gesellschaftspolitisch nichts konstruktives Konzeptionelles entgegengesetzt. Und wie man in Westberlin besonders bewundern durfte, setzten sich verstärkt die örtliche Segregation und damit die soziale Ausgrenzung einer breiter werdenden sozialen Unterschicht fort. Zu einem guten Teil sind heute vorhandene Parallelgesellschaften, Quartiersniedergänge und nicht zu überwindende Bildungsferne bestimmter Schichten Produkte dieser verfehlten sozialliberalen Bundes- und Landespolitik jener Tage.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Özcan Mutlu (Grüne)]

Die sozialliberale Bundesregierung blieb in den späten Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahren Dauerkonzepte schuldig, sondern betrieb vielmehr eine Politik der durch Integrationskonzepte ergänzten Arbeitsmarktpolitik. Der erste Bundesausländerbeauftragte, ehemalige SPD-Ministerpräsident, Heinz Kühn, in NordrheinWestfalen, scheiterte mit seinem Integrationsmemorandum am eigenen SPD-Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg. 1982 folgte seitens der rot-gelben Koalition

dann der letzte untaugliche Versuch einer Rückkehrerförderung mittels Rückkehrprämie und Mobilitätsberatung. Danach begann dann die Wende in der damals so bezeichneten Ausländerpolitik, die man auch heute noch als Wettlauf einer Begrenzungspolitik sehen kann. Ab 1988 fand allerdings die Überlagerung der gesellschaftlichen Diskussion durch das Thema Asylmissbrauch statt, und das führte dann auch zu einem Tummelplatz rechtsradikaler Demagogie.

Ein Jubiläum soll aber an das Gelungene erinnern, also zurück zum Erfolg: Da sage ich Ihnen, als Christdemokrat bin ich besonders stolz, dass es in diesen 50 Jahren vorwiegend Christdemokraten waren, die die Weichen positiv gestellt haben,

[Beifall bei der CDU – Gelächter bei der SPD und den Grünen – Zurufe von den Grünen und der Linksfraktion]

1961 mit dem Abkommen der Bundesregierung Adenauer, im Übrigen noch mit einer absoluten Mehrheit versehen, 1964 mit einer CDU-geführten Bundesregierung, die den Wegfall des Rotationsprinzips und der zeitlichen Begrenzung bewirkte.

[Zuruf von Lars Oberg (SPD)]

Es sind Fakten, Herr Kollege Oberg, damit wissen Sie ja in der Regel sowieso nicht umzugehen.

[Beifall bei der CDU]

1981 war es eine CDU-geführte Landesregierung, die den ersten Ausländerbeauftragten auf Bundesländerebene etablierte, 1988 ein CDU-Bürgermeister, der in einer nicht selbstständigen Kommune zum ersten Mal einen Ausländerbeauftragten etablierte.

[Zuruf von Thomas Birk (Grüne)]

1991 war es die schwarz-gelbe Bundesregierung, die den Regelanspruch auf Einbürgerung mit Gesetzeskraft verfasste. 1992 war es ein Bundeskanzler der CDU, der den Asylkompromiss hinbekam und eine Rückversachlichung in der Integrationsdebatte herbeiführte. Und wiederum 1993 war es die christlich-liberale Koalition, die einen rechtlichen Anspruch auf Einbürgerung im Staatsbürgerrecht in Deutschland verankerte. 1997 war es eine CDUgeführte Bundesregierung, die die gesetzliche Verankerung des Ausländerbeauftragten deutschlandweit durchsetzte. 2004 und 2005 war es eine von der CDUPolitikerin Rita Süßmuth geleitete Kommission, die die verfassungskonforme Zuwanderungsgesetznovelle schuf, verehrte Frau Kollegin Baba-Sommer!

[Zuruf von Evrim Baba-Sommer (Linksfraktion)]

2005 war es eine CDU-Bundeskanzlerin, die das Amt des Bundesintegrationsbeauftragten im Kanzleramt mit Kabinettsrang aufwertete. 2006 war es ein CDU-Bundesinnenminister, der mit der Deutschen Islamkonferenz die religiöse Zugehörigkeit eines signifikanten Teils unserer Gesellschaft zur offiziellen Regierungsthematik erhob. Ebenfalls 2006 war es eine christdemokratische Staatsministerin, die den ersten Migrationsbericht in Deutschland

vorlegte. Und 2010 war es ein CDU-Ministerpräsident, der eine Türkischstämmige zur ersten Ministerin ihrer Ethnie in Deutschland ernannte, und nebenbei gesagt, mit einem breiten Zuständigkeitsbereich und nicht so ein Pillepalleressort wie jetzt in Baden-Württemberg.

[Beifall bei der CDU – Zuruf von Canan Bayram (Grüne)]

Und im Übrigen, gefolgt vom Mut des damaligen CDUErsten-Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg, einen Menschen mit Migrationshintergrund zum Senator für Hafen und Wirtschaft zu machen. Und es war ein von uns Christdemokraten nominierter Bundespräsident, der den Diskurs über den Islam in der bundesrepublikanischen Gesellschaft weiter entfacht hat.

[Zurufe von den Grünen]