Protokoll der Sitzung vom 23.06.2011

[Zurufe von den Grünen]

Wir, die CDU, blicken mit Stolz, aber nicht ohne Kritik auf das 50-jährige Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens.

[Zurufe von den Grünen]

Und wir können mit Fug und Recht sagen: Dort, wo andere, insbesondere die, die gerade den Mund so schön voll nehmen, wo andere viel heiße Luft geblasen haben oder wie Frau Baba-Sommer heute noch blasen, haben wir gehandelt.

[Beifall bei der CDU]

Ich glaube, kaum eine andere Partei kann objektiv eine solche Erfolgsgeschichte in Regierungsverantwortung vorweisen. Und mir bleibt eigentlich nur eines zu sagen: Ilk kuşak sizlere sonsuz çok çok teşekkürler. Ich danke Ihnen, dass Sie zugehört haben!

[Beifall bei der CDU – Beifall von Volker Thiel (FDP)]

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wegner! – Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Oberg.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wegner! Zunächst einmal möchte ich Ihnen meinen Respekt zollen. Sie haben mit Ihrer Rede bewiesen, dass sich in der CDU in den letzten Jahren einiges bewegt hat und dass Sie nach langen Wirren und langen Mühen dann doch auch im 21. Jahrhundert angekommen sind

[Zuruf von der CDU: Im Gegensatz zu Ihnen!]

und endlich akzeptiert haben, dass Deutschland und Berlin eine Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft ist. Wir haben nicht vergessen, dass das lange nicht der Fall war.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion]

Dann haben Sie es so sehr mit Fakten gehabt und auch mir gleich zugerufen, mit Fakten hätte ich es nicht so. Da

gibt es dann einige Fakten, die ich Ihnen auch nicht vorenthalten kann.

Ich kann Ihnen nicht vorenthalten, dass es Ihr Parteifreund Rüttgers war, der mit dem widerlichen Versuch, Kinder gegen Inder auszuspielen, in den Wahlkampf gezogen ist.

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion – Evrim Baba-Sommer (Linksfraktion): Genau!]

Ich kann es Ihnen nicht ersparen, dass Ihr Parteifreund Koch mit einer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unter dem Motto „Wo kann man hier gegen die Ausländer unterschreiben“ an die Macht gekommen ist.

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Ich kann es Ihnen auch nicht ersparen, dass Sie es hier in diesem Parlament waren, die sich gegen das Integrationsgesetz gestellt haben und die auf wirklich merkwürdige Art versucht haben, es verächtlich zu machen.

[Zurufe von Uwe Goetze (CDU) und Andreas Gram (CDU)]

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU! Gehen Sie auf die Straße, sprechen Sie mit den Leuten! Dann werden Sie erleben, dass das, was Sie als Fakten verkaufen, einer anderen Realität gegenübersteht. Gehen Sie zu den Menschen und sprechen Sie darüber, wie die sich in dieser Gesellschaft akzeptiert fühlen! Sie und Ihre Partei haben einen großen Anteil daran, dass Menschen, deren Eltern in diesem Land geboren sind, deren Großeltern nach Deutschland gekommen sind, sich heute hier noch fremd fühlen, weil sie schlichtweg nicht akzeptiert werden. Ich schäme mich, wenn ich mich mit solchen Menschen unterhalte und sie mir offen ins Gesicht sagen: Herr Oberg! Wann ist es endlich so weit, dass wir hier akzeptiert werden? – Wir kämpfen dafür, dass diese Menschen hier akzeptiert werden, und Ihre Partei hat noch einiges aufzuarbeiten, denn Sie haben einen wesentlichen Anteil daran, dass diese Menschen heute in dieser Gesellschaft um Anerkennung ringen. So viel zu den Fakten. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Uwe Goetze (CDU): Peinlich! – Andreas Gram (CDU): Gerade den Windeln entschlüpft!]

Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Dr. Wegner.

Verehrter Herr Kollege Oberg! Das waren vielleicht 20 Prozent Fakten und 80 Prozent Agitation,

[Beifall bei der CDU]

aber ich darf Sie einfach daran erinnern, dass der von Ihrer Partei gestellte Bundesinnenminister Otto Schily nahezu wörtlich gesagt hat: Die beste Integration ist Assimilation. – Ich glaube nicht, dass Sie mit diesem Spruch großartig in der Migrantencommunity punkten werden.

[Lars Oberg (SPD): Hier geht es nicht um punkten!]

Zum Thema Integrationsgesetz: Sie machen schlichtweg einen Fehler – das ist auch der Grundfehler des von Ihnen mit beschlossenen Integrationsgesetzes –, nämlich dass Sie ausschließlich auf Herkunft abstellen,

[Dilek Kolat (SPD): Stimmt gar nicht!]

während wir gesagt haben: Herkunft ist ein Teil, Leistungen und andere Dinge sind weitere Teile, die dazu gehören.

[Beifall bei der CDU]

Noch ein Punkt, lieber Kollege Oberg! Es gibt so ein schönes Abgeordnetenhausbüchlein. Das gucken Sie sich einmal an. Danach unterhalten wir uns über mein zehnjähriges Anwerbeabkommen, okay?

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Das Wort zur Fortsetzung der Debatte hat Frau Breitenbach von der Linksfraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wegner! Ich teile Ihre Position auch nicht eins zu eins, und ich finde, da müssen Sie auch noch einmal gucken, wie viel Agitation und Propaganda dabei war. Aber ich lasse es jetzt einmal stehen.

Vor 50 Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen abgeschlossen. Wer damals nach Deutschland und nach Berlin kam, ist heute im Rentenalter. Wer heute früh auf dem Empfang war, konnte einige von ihnen kennenlernen. Diese Menschen aus der Türkei, aber auch aus vielen anderen Ländern haben die wechselvolle Geschichte der Integrations-, man kann aber auch sagen Desintegrationsgeschichte in der Bundesrepublik und auch in der DDR am eigenen Leib erfahren und zum Teil auch erlitten. Es hat sehr lange gedauert, nämlich bis Ende der 90er-Jahre – Herr Wegner! Bis Ende der 90er-Jahre – Ist der Mann eigentlich noch da? – Nein! Dann kann ihm das ja jemand sagen. –,

[Dr. Michael Wegner (CDU): Hier ist er!]

dass sich das vereinigte Deutschland dazu durchringen konnte, sich selbst als Einwanderungsland zu bezeichnen. Damals war zumindest die CDU nicht in Regierungsverantwortung.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Es hat im Übrigen auch dementsprechend lange gedauert, bis die gesellschaftliche Integration aller hier lebender

Menschen als eine gesellschaftspolitische Aufgabe begriffen wurde.

Die Bundesrepublik hat ab Ende der 50er-Jahre und in den 60er-Jahren gezielt Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus südeuropäischen Ländern angeworben. Sie sollten als billige Arbeitskräfte die Lücken in einer boomenden Wirtschaft schließen. Die jungen Männer und vor allem Frauen, die kamen, hofften auf vernünftige Arbeitsbedingungen, und sie hofften auf gute Löhne. Die Realität sah meist anders aus. Sie wurden nicht nur ausgebeutet, sie wurden auch ausgegrenzt, und viele von ihnen landeten im Wohnheim oder in Abrisshäusern. In der Bundesrepublik und auch – das sage ich noch einmal – in der DDR mit den Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern herrschte damals die Vorstellung, dass die Menschen zum Arbeiten kommen und dass sie, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Das entsprach auch dem Selbstbild der meisten Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Darüber konnten wir heute früh einiges hören. Dieses Selbstbild hat sich auch erst im Laufe der 70er-Jahre gewandelt.

Mit dem Anwerbestopp, den die Bundesregierung verhing, wurden die Grenzen für die Arbeitsmigranten geschlossen. Wer hier lebte, ging nicht mehr zurück, sondern holte die Familie nach oder gründete hier Familie. Viele Arbeitsmigrantinnen und -migranten bauten für sich und ihre Familien hier eine Zukunft auf. Die Rückkehroptionen wurden verschoben und oftmals auch aufgegeben. Nur die offizielle Politik, Herr Wegner, hielt eisern an der alten Vorstellung der vorübergehenden Anwesenheit fest. Sie hielten auch an der alten Politik fest. Dies taten sie Jahrzehnte, obwohl die Realität alle Lügen strafte.

Der Bevölkerungsanteil der Menschen mit Migrationshintergrund wuchs. Ihre Löhne waren nicht hoch, und viele von ihnen lebten dort, wo Wohnungen billig sind und meist leider auch schlecht waren. Die Antwort der Bundesregierung darauf war Mitte der 70er-Jahre die sogenannte Zuzugssperre. Damit durften Ausländerinnen und Ausländer nicht mehr in Gebiete und Stadtteile ziehen, in denen der Ausländeranteil höher als 12 Prozent war. Schon ein Jahr später wurde die Zuzugssperre wegen verfassungsrechtlicher Bedenken aufgehoben, allerdings nicht in Westberlin. Hier galt das Grundgesetz nicht, und an der Zuzugssperre wurde festgehalten. Erst in den 90erJahren beendete der damalige rot-grüne Senat dieses skandalöse Vorgehen. Man muss sagen: Sie haben es endlich beendet.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Diese Zuzugssperre in Berlin war für viele der Migrantinnen und Migranten der ersten und auch der zweiten Generation Realität. Dieses Zuzugssperre war vor allem ein Zeugnis dafür, dass die Migrantinnen und Migranten nicht als Teil dieser Gesellschaft anerkannt waren, und dass sie sich auch nicht als Teil dieser Gesellschaft fühlen sollten. Mit den Folgen dieser Ausgrenzung der Integrationspolitik haben wir alle heute noch zu tun, aber vor allem diejenigen, die dies damals erlebt haben und erdulden mussten.

Heute leben rund 160 000 türkeistämmige Berlinerinnen und Berliner hier, türkischer und kurdischer Zugehörigkeit, Muslime, Aleviten, Christen und Atheisten. Der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens und ein Blick zurück zeigen, dass sich im gesellschaftspolitischen Verständnis von Berlin viel verändert hat. Die Stadt bekennt sich zu ihrer Vielfalt. „Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“ ist das Leitmotiv der rot-roten Integrationspolitik.

[Benedikt Lux (Grüne): Ho, ho, ho!]

Berlin ist die Hauptstadt der gesellschaftlichen Integration. Menschen aus über 190 Ländern leben gemeinsam in dieser Stadt. Die türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten und viele andere, wie die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, politisch Verfolgte aus den unterschiedlichsten Ländern, ehemalige Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter aus Vietnam, Angola oder Mosambik, und Zehntausende EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, sie alle haben Berlin geprägt, sie alle haben Berlin verändert, und zwar zum Guten.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Burgunde Grosse (SPD) und Raed Saleh (SPD)]

Viele haben es schon gemacht, und ich finde, auch wir als Abgeordnete sollten uns bei ihnen dafür und diese Leistung herzlich bedanken.