Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 33. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit zwei Wochen protestieren in unzähligen Städten und Ortschaften der Türkei Hunderttausende Menschen. Was als friedlicher Widerstand gegen die Bebauung eines zentralen Platzes in Istanbul begann, hat sich durch das überraschend harte Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten zu einer landesweiten Protestbewegung ausgeweitet.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin ist bestürzt über das Verhalten von Politik und Polizei. Gerade in Berlin, einer Stadt, in der mehrere Hunderttausend Menschen mit türkischen Wurzeln leben, wird das autoritäre und unverhältnismäßige Vorgehen mit großer Sorge verfolgt. Bei uns gehören das Demonstrationsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu den unverbrüchlichen Grundwerten jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin.
Die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das Abgeordnetenhaus von Berlin gibt deshalb seiner Hoffnung Ausdruck, dass es zu einem friedlichen Dialog zwischen der Regierung und der Oppositionsbewegung auf Augenhöhe kommt und die fundamentalen Freiheitsrechte der Menschen respektiert werden. Das derzeit durch den Ministerpräsidenten in Erwägung gezogene Referendum verstehen wir als ein Signal zur Deeskalation. Das Abgeordnetenhaus von Berlin gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Konflikte demokratisch gelöst werden können.
Am vergangenen Dienstag hat die Piratenfraktion einen neuen Fraktionsvorstand gewählt. Ich beglückwünsche zur Wahl als neue Fraktionsvorsitzende Herrn Alexander Spies und Herrn Oliver Höfinghoff. – Herzlichen Glückwunsch und auf gute Zusammenarbeit!
Dann habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Der Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/0718 – Amtliche Tiersammelstelle auskömmlich ausstatten – ist in der 25. Sitzung am 17. Januar 2013 an den Ausschuss für Ausschuss für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Verbraucherschutz, Geschäftsordnung überwiesen worden. Nunmehr wird vor dem Hintergrund der Zuständigkeit im Senat die ausschließliche Überweisung an den Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung vorgeschlagen. – Widerspruch gegen diese geänderte Ausschussüberweisung höre ich nicht. Dann verfahren wir so.
1. Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Zensus 2011“, 2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Zensus 2011“, 3. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „Berlin nach dem Zensus: solide Finanzplanung statt Taschenspielertricks“, 4. Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Schluss mit Haushaltsvoodoo und Kakofonie in der Koalition – Senat muss nach Zensus für Klarheit sorgen“, 5. Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „200 000 Unterschriften für die ökologische Rekommunalisierung der Energieversorgung – Abstimmung am 22. September!“.
Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der SPD-Fraktion das Wort. – Frank Zimmermann, bitte schön!
Die Ergebnisse des jüngsten Mikrozensus haben in vielen Gesichtern große Fragenzeichen hinterlassen, übrigens auch hier im Haus, das darf man zugeben. Wie kann es sein, dass sich die Statistiker um 180 000 verschätzt haben? Woran liegt es, dass die laufende Datenfortschreibung und die Zahlen des Zensus so dramatisch voneinander abweichen? Es bedarf keiner besonderen oder höheren Logik, um festzustellen, dass mindestens eine der beiden Methoden fehlerhaft ist. Vielleicht sind es aber auch beide.
Das Problem betrifft alle Bundesländer, denn alle Bundesländer haben danebengelegen. Bundesweit liegt die Differenz bei 1,5 Millionen. Die letzte Fortschreibung vor dem Zensus hatte im April 2011 für Berlin 3 472 000 Einwohnerinnen und Einwohner ergeben, ermittelt auf der Basis der Volkszählung 1987, fortgeschrieben mithilfe der Meldedaten. Geht der Fehler wirklich zu 60 Prozent auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger zurück, die sich bei ihrem Wegzug aus Berlin nicht abgemeldet haben? Was ist mit den übrigen 40 Prozent?
Fest steht: Die bundesweit angewandte Methode führt zu einer größeren Fehlerhäufigkeit bei den Melderegistern in den Ballungsräumen. Das sehen wir an den Zahlen für Hamburg und Berlin, die erheblich von denen der anderen Bundesländer abweichen. Welche Konsequenzen ergeben sich also für den Umgang mit den Melderegistern? – das ist ein Thema, das wir unbedingt beraten müssen.
Man darf sich aber auch fragen, wie zuverlässig der Mikrozensus ist. Er ist im Prinzip eine Hochrechnung wie eine Meinungsumfrage. Von einer bestimmten Anzahl von Haushalten werden repräsentativ Daten erhoben und hochgerechnet. Wie hoch ist die Fehlerquote? Repräsentativ heißt ja nicht, dass das Ergebnis stimmt. Muss etwa das zugrundeliegende Bevölkerungsstatistikgesetz des Bundes überarbeitet werden? Ist es wirklich zeitgemäß, dass Deutschland seine Einwohnerzahl, wie beim Zensus 2011 jetzt geschehen, mindestens teilweise schätzt, oder müssen wir nicht zu einer vollständig registerbasierten Ermittlung kommen, wie es etwa die skandinavischen Länder machen?
Wir ziehen das Thema hier nicht hoch, weil wir beleidigt wären, dass unsere Prognosen nicht zuträfen, oder weil wir schlechte Verlierer im Länderfinanzausgleich wären.
Wir müssen Klarheit gewinnen über die Auswirkungen auf das Finanzgefüge unter den Ländern, über unsere Einnahmesituation und vor allen Dingen über das, was es für die Berlinerinnen und Berliner bedeutet. Für unsere Planungen von der Steuerentwicklung bis hin zu den Investitionen brauchen wir verlässliche statistische Daten, und wir brauchen sie schnell. Für den 25. Juni ist die Beratung des Haushalts 2014/15 im Senat vorgesehen. Im Sommer muss die Finanzplanung des Landes fortgeschrieben werden, einschließlich der großen Investitionen und aller weiteren mittelfristigen Planungen. Wir können also nicht warten. Es ist deshalb aus unserer Sicht beinahe zwingend – ich würde sogar sagen, es wäre sehr nett und hilfreich –, wenn wir in der letzten Sitzung vor den Ferien den Mikrozensus hier zum Thema der Aktuellen Stunde machen könnten. – Herzlichen Dank!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen haben wir durch die Bekanntgabe der Ergebnisse des Zensus 2011 erfahren, dass wir 180 000 Berliner weniger sein sollen, was bedeuten würde, das wir 5,2 Prozent weniger Einwohner hätten als bislang angenommen. Dieses Ergebnis wirft viele Fragen auf, ähnlich wie in der Rede des Kollegen Zimmermann gerade zum Ausdruck gekommen ist. Antworten gibt es bisher kaum, vielleicht einige erste Analysen.
Im Vordergrund steht im Moment – und sicher auf bei der heutigen Plenardebatte – die Frage der haushalts- und finanzpolitischen Bewältigung dieser Differenz der angenommenen und der tatsächlichen Einwohnerzahl unserer
Was bedeutet diese Abweichung für die konkret anstehenden Haushaltsberatungen? Diese Frage muss in dem Wissen gestellt werden, dass hinter jeder u. U. kleiner werdenden Zahl im Haushaltsplan eine gesetzliche Verpflichtung oder ein politisches Anliegen, ja auch viele politische Versprechungen stehen.
Zuvor wird aber die Frage zu klären sein – der Kollege Zimmermann hat darauf hingewiesen –, ob die Ergebnisse des Zensus wirklich belastbar sind. Der Senat wird zu prüfen haben, ob er den Feststellungen widersprechen muss oder ob die Ergebnisse methodisch und statistisch haltbar sind. Da es aus meiner Sicht kaum vorstellbar erscheint, dass administrativ gesehen von heute auf morgen 180 000 Menschen verschwunden sind, scheint mir eine ernsthafte und kritische Überprüfung dieser Erhebung angezeigt.
Wir werden aber auch in jedem Fall den Blick schärfen müssen für die Frage, warum es überhaupt – auch bundesweit – derart große Abweichungen geben kann, denn verlässliche und belastbare Zahlen über die Einwohner unseres Landes sind nicht nur für die Frage des Länderfinanzausgleichs und damit für die Haushaltsaufstellung und -planung wichtig. Sie sind auch Grundlage der Organisation unseres demokratischen Gemeinwesens.
Stimmbezirke und Wahlkreise werden nach der Anzahl ihrer stimmberechtigten Einwohner geschnitten, um dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl und dem Grundsatz der Gleichheit des Mandats Rechnung zu tragen. Wir kennen auch in Berlin Abstimmungen und Befragungen, gerade auf kommunaler Ebene, wo es Quoren gibt, die erfüllt werden müssen, damit ein sich artikulierender Wille des Volkes auch eine Rechtsfolge und eine gestaltende Verbindlichkeit erfährt. Von daher ist die Frage der Sicherung und Pflege zutreffender Einwohnerdaten eine zutiefst demokratische Frage, die sich bis in den Bundesrat auswirken kann, wo die Stimmanteile der Länder abhängig von der Bevölkerungszahl sind.
Wir werden uns das Melderecht in Theorie und Praxis anschauen müssen. Hier scheint eine Ursache zu liegen, weil das An- und Abmeldeverhalten von Wohnsitzen offenbar nicht verpflichtend genug ausgestaltet, geschweige denn im Nichtbefolgensfalle ausreichend und wirkungsvoll sanktioniert ist.
Wir werden uns fragen müssen, ob auch ausufernder Datenschutz und das damit einhergehende Misstrauen gegen unseren Staat, das in Teil der Gesellschaft verbreitet zu sein scheint, eine Ursache bilden. Im Kern hat unser Gemeinwesen, wenn man alle öffentlichrechtlichen Einrichtungen betrachtet, alle erforderlichen Daten über die Einwohner unseres Landes, um ein ak
tuelles und belastbares Melderegister pflegen zu können. Liegt es vielleicht auch an völlig unsinnigen Verboten des Staates gegen den Staat, Daten abzugleichen und auszutauschen, um verlässliche Datengrundlagen schaffen zu können?
Wie schreiben wir jetzt eigentlich unsere Zahlen fort? Auf welcher Grundlage wird Berlin nunmehr Prognoseentscheidungen treffen können? Viele Herausforderungen der öffentlichen Daseinsvorsorge – Schulen, Kitas, Wohnungen usw. – hängen von Bevölkerungsprognosen ab. Brauchen wir jetzt weniger Einrichtungen in diesem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, oder müssen nur Schwerpunkte anders gesetzt werden? War es richtig, die Datenbasis für so grundlegende Fragen – ich denke, das ist gerade deutlich geworden – auf einer 24 Jahre alten Volkszählung beruhen zu lassen? Müssen die Intervalle für solche Erhebungen nicht erheblich verringert werden?
Ich denke, dieser Ausschnitt an sich aufdrängenden Fragestellungen zeigt, dass die Ergebnisse des Zensus weit über den haushalts- und finanzpolitischen Aspekt hinausgehen und uns auffordern, sie zum Anlass zu nehmen, hier eine ganz grundsätzliche Debatte zu führen. – Vielen Dank!
Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen jetzt Frau Pop – bitte schön, Frau Kollegin!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung! Ich möchte von dieser Stelle sagen: Herzlichen Glückwunsch an den Berliner Energietisch und Dank an 265 000 Berlinerinnen und Berliner, die sich mit ihrer Unterschrift für Klimaschutz und eine andere Energiepolitik hier in Berlin starkgemacht haben!
Und wir werden heute noch darüber debattieren, dass es keine Termintricksereien bei der Abstimmung geben soll, sondern zur Bundestagswahl die Abstimmung mit stattfinden soll.
Aber ein anderes Thema hat uns alle die letzten zwei Wochen regelrecht in Atem gehalten, der neue Zensus und seine konkreten Folgen für unsere Stadt. Darüber wollen wir heute debattieren. Während vor einigen Tagen die Überschriften noch lauteten: Panik nach dem Zensusschock, Vorsicht Giftliste – und gar von einem Schwarzen Freitag bei der Koalition die Rede war, will heute der
Senat nicht mal mehr über die finanziellen Folgen des Zensus hier reden. Ein Schelm, der Böses dabei denkt!
Stattdessen soll heute über statistische Probleme und das Meldewesen debattiert werden, wie die beiden Kollegen das hier gerade begründet haben. Keine Frage, das muss man auch tun. Aber können das bitte nicht die Fachleute klären und wir uns hier als Parlament heute mit der ernsthaften Politik befassen?
Denn auf mich – und ich bin vermutlich nicht die Einzige – macht das eher den Eindruck, dass man, was die Haushaltszahlen angeht, die Verdunkelungstaktik der letzten Tage beim Senat weiter betreibt. Der Finanzsenator ist zurzeit so etwas wie eine wandelnde Desinformationsagentur. Heute so, morgen anders, bis zuletzt keiner bei seinen Taschenspielertricks durchblickt.
An einem Tag werden noch Blut, Schweiß und Tränen beschworen. Es wird die Kein-Stein-bleibt-auf-demanderen-und-kein-Auge-trocken-Brachialrhetorik angeworfen, Herr Schneider, als ob die schlimmsten Zeiten der Haushaltssanierung noch bevorstünden. Und das verwunderte Publikum muss kurz danach zur Kenntnis nehmen, dass derselbe Finanzsenator plötzlich verkündet, die Rückzahlung in Höhe von knapp 1 Milliarde Euro, die dieses Jahr ansteht, sei quasi aus der Protokasse zu bezahlen, ohne neue Schulden, ohne große Anstrengung.
Von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit sind bei diesem Senat, wenn überhaupt, nur noch Spurenelemente vorhanden. Da werden erwartete Steuermehreinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe nicht eingetragen. Im Zinstitel wird ebenfalls Geld in gleicher Höhe gebunkert, andere erwartbare Rückzahlungen auch nicht eingepreist. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Und wo konnte man das besser erkennen als im letzten Jahr? – Im letzten Jahr zur gleichen Zeit prognostizierte der Finanzsenator mit dem Statusbericht ein Minus von 800 Millionen Euro zum Jahresende 2012. Und wie war der reale Abschluss? – Nur ein halbes Jahr später, trotz der Zahlung an den BER, die Sie sich hier genehmigt haben, bei knapp 700 Millionen plus. Das war eine Abweichung von anderthalb Milliarden Euro und sollte uns allen, vor allem der Koalition, eine Warnung sein, den propagierten Zahlen des Finanzsenators überhaupt noch Glauben zu schenken.