Protokoll der Sitzung vom 19.06.2014

Priorität der Piratenfraktion

Tagesordnungspunkt 17

Versprechen des Senats gegenüber den Flüchtlingen vom Oranienplatz und den Bewohnerinnen und Bewohnern der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule einhalten!

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und der Piratenfraktion Drucksache 17/1701

Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von grundsätzlich fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die Piratenfraktion. Das Wort hat der Abgeordnete Reinhardt. – Bitte sehr!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist Weltflüchtlingstag. Ich nutze diese Gelegenheit noch einmal, um an das Thema und die Idee hinter diesem Tag zu erinnern. Er erinnert an Millionen Menschen, die sich weltweit als Flüchtlinge und Vertriebene durchs Leben schlagen müssen. Das diesjährige Motto lautet: Leben in Würde und Sicherheit neu aufbauen.

In der Flüchtlingspolitik läuft momentan vieles in Deutschland und auch in Berlin falsch. Europa und Deutschland schotten sich ab. Während des Bürgerkriegs in Syrien übernimmt Deutschland nur einige Tausend Vertriebene und Geflüchtete von dort, während zum Beispiel in der Türkei und im Libanon Millionen Menschen aufgenommen werden.

Im letzten Jahr hat Berlin 500 Schutzsuchende abgeschoben. Das ist ein Drittel mehr als im Jahr 2012. Viele davon – etwa die Hälfte – stammten aus den Balkanstaaten Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina. Ein Großteil dieser Menschen gehört den Roma und anderen bedrohten Minderheiten an. Gegen diese Minderheiten geht der Senat mittlerweile rigoros vor. Aus einer kürzlich erhaltenen Antwort auf eine Kleine Anfrage wurde deutlich, dass Härtefallanträge von schutzsuchenden Roma in der Regel wesentlich schneller als andere Anträge bearbeitet und in der Regel auch negativ beschieden werden. Die Folge ist die schnelle Abschiebung.

Wie absurd die Aufenthalts- und Abschiebepolitik hier in der Stadt ist, können wir exemplarisch an zwei kürzlich geschehenen Fällen sehen. Zum einen hatten wir Simran Sodhi, die für das Vorzeigeprojekt von Integrationssenatorin Kolat als Integrationslotsin im Treptow-Köpenick tätig war. Sie sollte ausgewiesen werden, weil – Sie hören richtig – sie nicht genug verdient hat. Der öffentliche Aufschrei, der darauf folgte, war wirksam. Simran Sodhi wurde nicht ausgewiesen. Senator Henkel hat persönlich

(Wolfram Prieß)

interveniert und gesagt, es solle nicht so getan werden, als lohne sich Engagement nicht. Viele Simran Sodhis in Berlin haben einen ähnlich gelagerten Fall, aber nicht das Glück, so viel Aufmerksamkeit und öffentliche Unterstützung zu bekommen, dass Senatoren persönlich intervenieren. Das eben erwähnte Motto „Leben in Würde und Sicherheit neu aufbauen“ bewegt viele Menschen – vielleicht auch Simran Sodhi –, aber viele erhalten es nicht.

Der zweite Fall, den ich erwähnen möchte: Ende Januar wurde Familie Alijev über das Dublin-Verfahren aus Berlin nach Polen ausgewiesen. Die Familie hat zwei behinderte Kinder, und die Härtefallkommission war kurz davor, sich mit dem Fall positiv zu beschäftigen. Trotzdem fand die Abschiebung statt. Polizisten verweigerten zunächst diese Abschiebung aufgrund der Behinderung der Kinder, führten sie aber bei einem zweiten Mal dennoch durch, nachdem sie explizit dazu angewiesen wurden.

Die Flüchtlingspolitik leidet unter einer ganz spezifischen Problematik. Flüchtlinge sind aufgrund ihrer besonderen Umstände, z. B. weil sie in Lagern am Rand des Waldes leben oder unter der Residenzpflicht leiden, in vielen Fällen nicht in der Lage, auf ihr eigenes Schicksal aufmerksam zu machen und ihre eigene Lobbyistin bzw. ihr eigener Lobbyist zu werden. Sie sind in vielen Fällen unsichtbar. Das ist in vielen anderen Politikbereichen anders, wo man täglich mit Dutzenden Menschen zu tun hat, die auf ihre Anliegen aufmerksam machen. Umso wichtiger ist es nun, dass sich diese unsichtbaren Menschen seit einigen Jahren vermehrt in die Sichtbarkeit bewegen und sehr deutlich auf ihre Probleme aufmerksam machen.

[Beifall bei den PIRATEN – Beifall von Dr. Klaus Lederer (LINKE)]

Wir hatten 2011 die Abolish-Proteste von Flüchtlingen in Berlin. 2012 gab es einen Refugee-March. Dessen trauriger Anlass war ein Suizid in Würzburg. Dieser Marsch nach Berlin wurde auf dem Oranienplatz in Kreuzberg fortgesetzt und durch Proteste auf dem Pariser Platz. Diese Menschen hatten klare Forderungen zur Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in Deutschland. Sie forderten festen Aufenthalt, ein Leben in Wohnungen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – und Bewegungsfreiheit – die wie alle hier haben. Diesen Menschen schulden wir großen Dank, weil sie uns die Augen öffneten, weil sie uns ihre Situation und ihre Probleme zeigten und Möglichkeiten, damit umzugehen.

[Beifall bei den PIRATEN – Beifall von Katrin Schmidberger (GRÜNE) – Beifall von Dr. Klaus Lederer (LINKE)]

Trotzdem wurde seit Beginn des Jahres 2013 nicht mehr über diese Situation und diese Forderungen diskutiert, sondern nur noch über das Wann: Wann wird endlich der Oranienplatz geräumt? Wie schlimm ist es dort? Gibt es dort Ratten? Wann hauen diese Leute endlich ab und

belästigen uns nicht länger mit ihrem Bild in der Öffentlichkeit? – Schämen Sie sich, Senator Henkel und die ganze CDU, dass Sie diese Debatte hier und in der Öffentlichkeit immer wieder gesucht haben und den Fokus komplett von der gescheiterten Asylpolitik in Deutschland hin zu den angeblich unwürdigen Bedingungen der Unterkünfte der Menschen dort verschoben haben!

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Im März hat der Senat einige eher schwammige Versprechungen abgegeben, und Bürgermeister Wowereit hat sie am 10 April in seiner Regierungserklärung bekräftigt. Wie sieht es mit diesen Versprechungen aus? Es gibt eine Liste, auf die Menschen eingetragen werden sollten, für die der Senat – im Gegenzug zur Räumung – die Verantwortung übernehmen sollte. Herr Wowereit hat hier persönlich gestanden und von 467 Personen gesprochen. Plötzlich sind es nur noch 326. Die Differenz wird nicht ausgeglichen, obwohl es zum Beispiel in der GerhartHauptmann-Schule Menschen gibt, die durchaus bereit wären, sich die Unterkunft des Senats anzuschauen und an dem Kompromiss teilzuhaben. Dennoch wird die Liste nicht erweitert, und es bleibt bei den 326 Menschen.

Außerdem wurde versprochen, einen sicheren Aufenthalt für sechs Monate zu gewähren, solange die Verfahren laufen. Wir haben gerade gesehen, dass zwölf Flüchtlinge, die am Oranienplatz-Kompromiss beteiligt waren, akut von der Abschiebung bedroht sind und von der Berliner Ausländerbehörde bereits einen Ausweisungsantrag erhalten haben. Außerdem sind Menschen, die nicht in Berlin, sondern einem anderen Bundesland gemeldet sind und die Grenze übertreten haben, um dort zum Beispiel Pflichttermine wahrzunehmen, akut von der Abschiebung bedroht. Am Montag sagte Innensenator Henkel noch im Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung, er stehe zu seinem Wort des Abschiebeschutzes. In der Realität passiert aber das genaue Gegenteil. Für Menschen, die in anderen Bundesländern gemeldet sind, passiert sehr wenig.

Der Flüchtlingsrat hat explizit darauf hingewiesen, dass die Einzelfallprüfung der Anträge wenig Chancen auf Erfolg hat und wahrscheinlich bei drei Vierteln der Flüchtlinge keine Chance besteht, da sie in anderen Bundesländern gemeldet sind, da sie schon in Italien Verfahren beantragt haben usw.

Zu einem Punkt noch: Senatorin Kolat hat hier schon mehrfach Deutschkurse angekündigt. Die Mittel sind im Haushalt enthalten. Eigentlich sollten sie seit dem 1. Januar genutzt werden. Das ist ein weiteres Beispiel für etwas, das immer noch nicht funktioniert. – Die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Es bleibt zu konstatieren, dass der Senat seine Forderungen an die Flüchtlinge durchsetzt: Der Oranienplatz ist geräumt. Die Schule wird wahrscheinlich demnächst

geräumt. Weitere Proteste werden nicht hingenommen. Die Menschen, die in Charlottenburg-Wilmersdorf Kirchenasyl beantragt haben, wurden radikal ausgewiesen und nach Sachsen-Anhalt transportiert. Aber die Versprechen, die der Senat gemacht hat, werden nicht eingehalten. Darauf muss man heute, kurz vor dem Weltflüchtlingstag, noch einmal hinweisen. Es setzt sich eine lange Reihe der Verfehlungen in der deutschen und der Berliner Flüchtlingspolitik fort. Hier muss sich etwas ändern. Darauf wollen wir hinweisen.

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Vielen Dank, Herr Reinhardt! – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Abgeordnete Frau Radziwill. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Uns liegt ein auf die Schnelle und mit heißer Nadel gestrickter Antrag der Opposition vor. Was wird kritisiert? – Angeblich habe der Senat ein – wie Herr Reinhardt eben formuliert hat – schwammiges Versprechen nicht eingehalten. Was ist bisher passiert? – Der Senat hat sich hier im Frühjahr auf ein neues Terrain begeben, um eine festgefahrene Situation auf dem Oranienplatz aufzulösen. Ein anderer Umgang mit Flüchtlingen wurde an den Tag gelegt und zeigte Erfolge – die Politik der ausgestreckten Hand, die Politik, miteinander zu reden.

Der Senat hat entschieden, mit den Flüchtlingen zu sprechen und im Rahmen der Gesetze und der vorhandenen Spielräume gemeinsam nach Lösungen zu suchen und diese zu finden. Das bedeutet, die Flüchtlingspolitik in Berlin wird mit Augenmaß, Menschlichkeit und klaren Regeln umgesetzt. So hat es Klaus Wowereit in seiner Regierungserklärung vom 10. April dieses Jahres formuliert. Ich zitiere daraus:

Augenmaß, Menschlichkeit und klare Regeln: Das war auch unsere Leitlinie im Umgang mit der Situation auf dem Oranienplatz. Was sich dort in anderthalb Jahren entwickelt hatte, war unzumutbar und unhaltbar – für die Flüchtlinge genauso wie für die Anwohner. Ich sage ganz offen und auch selbstkritisch: Dass diese Lage so lange bestand und man den Eindruck haben musste, dass Behörden einfach wegsehen, war kein Ruhmesblatt.

[Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Die Verantwortlichen im Senat setzen nun ihren Teil der Verantwortung um und müssen hier wie ein gut ineinandergreifendes Räderwerk funktionieren. Das setzen wir voraus, die Menschen in dieser Stadt auch. Doch welche

Rolle spielt hier der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg? Warum hat der Bezirk die Situation auf dem Oranienplatz so lange über Monate geduldet, sogar befördert? Warum duldete der Bezirk die Situation in der GerhartHauptmann-Schule so lange? Welche Rolle spielt der Bezirk bei der Erstellung der sogenannten 464-Liste? Diese wichtigen Fragen blendet der Antrag komplett aus.

Diese besondere Situation und das Vorgehen der ausgestreckten Hand und des Miteinanderredens sind berechtigt, weil wir einen anderen Umgang mit Flüchtlingen wollen und Verbesserungen in der Asylgesetzgebung auch einfordern.

[Benedikt Lux (GRÜNE): Seit wann?]

Unsere Forderungen, dass wir eine Verbesserung der Residenzpflicht brauchen, ist nach wie vor aktuell. In einer solchen Situation geht es nicht nur um Schuldzuweisungen, sondern auch darum, den Blick über den Tellerrand der Paragrafen zu richten. Die Menschen in der Gerhart-Hauptmann-Schule brauchen, so sie denn unsere Hilfe annehmen wollen, unsere Unterstützung. Sie brauchen bessere Unterbringungsmöglichkeiten. Das ist dem Senat auch bekannt. In der letzten Plenarsitzung hat der Sozialsenator Czaja das auch klar formuliert. Gern zitiere ich auch aus dieser Rede:

Diejenigen, die derzeitig in der Schule sind, liegen formal in der Verantwortung des Bezirks, weil sie sich keinem rechtlichen Verfahren bislang unterworfen haben. Da wir aber wissen, dass der Bezirk alleine mit dieser Aufgabe mit Sicherheit nicht zurechtkommt, sind wir mit dem Bezirk im Gespräch, um Lösungen für dieses Problem zu finden, denn unser Ziel des gesamten Senats war, die Probleme am Oranienplatz und in der GerhartHauptmann-Schule zu lösen. Und da das auch das Ziel war, das auf der Pressekonferenz von Vertretern des Senats vorgetragen worden ist, ist das auch der Grund, warum ich mit den Bezirken im Gespräch bin.

[Hakan Taş (LINKE): Sagen Sie doch einmal etwas dazu, wie Sie das Problem lösen wollen!]

Nun liegt es in der Hand des Senats, aber auch und insbesondere in der des Bezirksamtes, gemeinsam hier Verbesserungen zu erreichen.

[Martin Delius (PIRATEN): Was macht der Senat?]

Der Senat wird, wenn es das Bezirksamt möchte, selbstverständlich Hilfe und Unterstützung liefern. Die Gespräche dazu laufen nach meinem Kenntnisstand.

Nun sind einige Tage vergangen.

[Martin Delius (PIRATEN): Seit März!]

Manchmal muss man auch ein wenig Geduld haben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das, was wir alle wollen, die Situation vor Ort zu verbessern und die Unterbrin

(Fabio Reinhardt)

gungsmöglichkeiten für die Menschen vor Ort zu bieten, gelingen wird.

[Martin Delius (PIRATEN): Wir haben Juni!]

Ich komme zum Schluss meiner Rede: Gerade im politischen Raum hat der Erfolg immer mehrere Väter und Mütter. Einseitige Schuldzuweisungen sind daher nicht zielführend.

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Lächerlich!]

Wir fordern gesetzliche Verbesserungen und schnellere Umsetzung und fordern gemeinsam humanitäre Hilfen, um Menschen besser zu helfen. Deshalb will ich zum Abschluss auch gemeinsam mit Ihnen formulieren: Kein Mensch ist illegal. In Berlin wird die Flüchtlingspolitik weiterhin mit Augenmaß und Menschlichkeit umgesetzt. – Ich danke für die Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]