Protokoll der Sitzung vom 02.10.2014

Da fällt es mir schwer, einfach Vertrauen zu haben.

Zwei Sätze noch zum Kollegen Lehmann: Sie haben darüber gesprochen, dass wir jetzt die notwendigen und richtigen Schritte tun müssen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Das ist richtig. Die Frage ist aber, ob alle Schritte dafür getan werden. In den Neunzigerjahren wurden noch Gebäude beschlagnahmt.

[Zuruf von Rainer-Michael Lehmann (SPD)]

Warum wird das jetzt nicht gemacht? Nach ASOG ist das möglich. Wir können Bundesgebäude beschlagnahmen, wir können auch andere Gebäude beschlagnahmen. Das sind keine Optionen, die ernsthaft diskutiert werden. Die werden einfach unter den Tisch fallen gelassen. Außerdem haben Sie 40 Prozent Flüchtlinge in Wohnungen erwähnt. Das waren einmal 85 Prozent. Die Zahl ist prozentual in den letzten Jahren halbiert worden. Und Sie erzählen es hier so, als wäre es ein Fortschritt.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Ich komme zum Ende: Wir müssen ernsthaft darüber diskutieren, wie langfristige und wie soziale Lösungen aussehen. Die Container sind höchstens ein kurzfristiger Schritt, aber nichts, was man anstreben sollte. – Danke schön!

[Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Vielen Dank Herr Reinhardt! – Nach § 63 Abs. 5 GO Abghs hat nun Herr Senator Czaja um das Wort gebeten. – Bitte sehr!

[Hakan Taş (LINKE): Das ist aber eine Überraschung! – Uwe Doering (LINKE): Wo sind die Standorte? – Zurufe von den PIRATEN: Dann gibt es noch eine Rederunde!]

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war gewünscht, dass wir in den Diskurs und in die Auseinandersetzung treten zu einer der sicherlich wichtigsten und in dieser Legislaturperiode drängendsten Fragen, die wir vorher nicht geplant, die aber entstanden sind aufgrund der internationalen Krisenherde und Unruhen. Wer aufmerksam die Zeitungen verfolgt, kann den dramatischen Anstieg an Krisenherden und Unruhen feststellen. Dies ist hier von allen zu Recht gesagt worden. Diese Situation führt dazu, dass nicht mehr nur Einzelne kommen, sondern Hunderttausende auf der Flucht sind, um in Europa Schutz zu suchen.

Die Ausbrüche dieser Krisen waren aber mitnichten von Experten vorhersehbar.

[Zuruf von Wolfgang Brauer (LINKE)]

Die Zahlen von den Experten, die uns Prognosen und Zahlen liefern, die alle Bundesländer damit versorgen, haben dies in den letzten Jahren nicht vermuten lassen.

[Carsten Schatz (LINKE): Es sind offensichtlich keine Experten!]

Die Prognosen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind von Woche zu Woche geändert worden. Wie Sie wissen, haben wir aktuell mit einem Zugang von 25 000 Asylbegehrenden für die verbleibenden Monate im Jahr 2014 zu rechnen. Dies bedeutet, 1 250 Menschen pro Monat. Im Januar dieses Jahres waren es noch 629, die neu nach Berlin gekommen sind. Das heißt, allein in wenigen Monaten hat sich diese Zahl verdoppelt. Dass das nicht planbar war, zeigt sich auch daran, dass in vielen anderen Bundesländern bereits viel dramatischere Situationen vorzufinden sind, als wir sie in Berlin haben, die wir immer mit Sicherheitspolster gearbeitet haben und auch noch Menschen unterbringen konnten, die hier nicht Asyl beantragt haben, sondern beispielsweise aus der Gerhart-Hauptmann-Schule oder vom Oranienplatz kamen, die wir zusätzlich zu den regulären Kapazitäten untergebracht haben. Es wird häufig vergessen, dass auch diese Aufgabe in Berlin gestemmt worden ist.

Im Jahr 2012 waren es 3 518 Asylsuchende, die nach Berlin verteilt worden sind und hier ihr Asylverfahren durchlaufen haben. Im Jahr davor waren es knapp 1 000. Seit Anfang September sprechen täglich 1 000 Flüchtlinge in der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und der zentralen Leistungsstelle im Landesamt für Gesundheit und Soziales vor. Das heißt, das, was früher in einem ganzen Jahr an Flüchtlingen in Berlin untergebracht worden ist, kommt heute an einem Tag. Ein Teil davon will natürlich auch Unterbringung in Berlin ermöglicht bekommen. Dies ist eine ganz enorme Herausforderung. Es bleibt natürlich unser Ziel, all denen eine menschenwürdige Unterkunft zu geben, die ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf ein faires Asylverfahren in Berlin durchlaufen.

Das Land Berlin hat seit dem überproportionalen Anstieg der Flüchtlingszahlen eine Fülle an neuen Unterkünften geschaffen. 46 Unterkünfte sind momentan in Betrieb. Derzeit leben rund 11 000 Menschen in diesen Unterkünften. Herr Reinhardt! Die Zahl der Flüchtlinge, die in Wohnungen untergebracht sind, ist nicht gesunken, sondern gestiegen. Natürlich ist die prozentuale Zahl gesunken, aber das ist doch eine Milchmädchenrechnung. Von den 19 000 Flüchtlingen sind heute 8 000 in Wohnungen untergebracht. Zu Beginn meiner Amtszeit waren es 6 000. Es ist doch eindeutig mehr geworden. Entweder sprechen Sie von Prozentzahlen oder von wahren Menschen. Ich spreche von wahren Biographien – und das sind 2 000 mehr.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Zuruf von Fabio Reinhardt (PIRATEN)

Natürlich hat sich das prozentual verändert. Weil die Zahl der Flüchtlinge gestiegen ist und wir vorher eine viel geringere Zahl in Berlin hatten, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, als es derzeitig der Fall ist.

(Fabio Reinhardt)

[Fabio Reinhardt (PIRATEN): Warum bleibt die Anzahl der Wohnungen dann gleich?]

In meiner Amtszeit, Herr Reinhardt, ist das erste Mal die Vereinbarung mit den städtischen Gesellschaften überhaupt erfüllt worden. Als die Linkspartei regiert hat, hat man das als Vereinbarung getroffen, es aber nie erfüllt. Da war die Flüchtlingszahl ein Viertel so hoch wie jetzt!

[Hakan Taş (LINKE): Das stimmt doch nicht!]

Das hätten Sie erst einmal bei der angespannten Lage hinbekommen müssen.

[Beifall bei der CDU – Kurt Wansner (CDU): Herr Taş! Sie müssen auch mal die Wahrheit ertragen! – Zurufe von der LINKEN]

Berlin hat sich verändert, natürlich. Berlin ist gewachsen, Berlin ist attraktiver geworden. Als ich als junger Abgeordneter, Herr Reinhardt, hier in das Parlament kam, hatten wir noch 15 bis 20 Prozent Leerstand in den Plattenbausiedlungen an den Stadträndern.

[Benedikt Lux (GRÜNE): Die Stadt war trotzdem attraktiv!]

Das ist heute alles nicht der Fall. Die Stadt ist attraktiver geworden, 40 000 bis 50 000 Menschen ziehen pro Jahr nach Berlin. Es ist eben nicht mehr so, dass Reserven vorhanden sind. Selbst in den Stadtrandgebieten steht nur 1 Prozent der Wohnungen frei zur Verfügung. Sie können mir glauben: Jede Wohnung, jede Einrichtung, die Sie uns nennen, wird umgehend geprüft. Sie können sich jederzeit, wenn Sie von Apartmenthäusern oder Ähnlichem sprechen, an die Berliner Unterbringungsleitstelle wenden und uns Objekte nennen. Sie wissen, dass wir dafür zur Verfügung stehen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Zillich?

Ja!

Bitte!

Herr Senator! Sie haben zu Recht angesprochen, dass die Lage auf dem Wohnungsmarkt schwieriger geworden ist, dass es deswegen auch schwieriger ist, Wohnungen für Flüchtlinge zu beschaffen. Wie bewerten Sie es dann vor diesem Hintergrund, dass Sie auf Anregungen der Opposition seit Jahren nicht reagiert, sondern jede Verantwortung zurückgewiesen haben, sich darum zu kümmern,

zusätzliche Apartments für Flüchtlinge und andere Personengruppen zu akquirieren? Warum haben Sie die Verantwortung dafür zurückgewiesen, dass Sie irgendetwas damit zu tun haben sollten?

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Richtig ist, Herr Kollege Zillich, dass es die Politik der letzten zehn Jahre gewesen ist, Flüchtlingsunterbringung in Berlin ausschließlich über den Tagessatz zu refinanzieren. Damit hat das Land Berlin nicht selbst Unterkünfte geschaffen, sondern sich auf die Anbieter privater und frei-gemeinnütziger Angebote eingelassen. Das war die Politik, die bislang im Berliner Senat verfolgt wurde, und die Sie zehn Jahre zu verantworten hatten.

[Steffen Zillich (LINKE): Nee, nee! That’s not the point!]

Es war auch in dieser Zeit sicherlich ein gangbarer Weg. Dieser Weg musste geändert werden.

[Steffen Zillich (LINKE): Darum geht es nicht!]

Deswegen haben wir aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen die Strategie verändert. Wir haben Zweierlei vor: einerseits geeignete Bestandsimmobilien aus Landesbesitz, die uns zur Verfügung gestellt werden,

[Steffen Zillich (LINKE): Okay! Das heißt, Sie wollen nicht antworten auf die Frage!]

um perspektivisch den überwiegenden Anteil der Unterbringungsmöglichkeiten in landeseigenen Immobilien zur Verfügung zu stellen. Aber – das ist doch die Erfahrung, die wir haben – ich habe elf Einrichtungen übernommen, jetzt haben wir 46. Die Erfahrung dieser Zeit ist, dass der Umbau dieser Einrichtungen sechs bis zwölf Monate, manchmal sogar etwas länger, in Anspruch nimmt. Deswegen benötigen wir parallel dazu schnelle Lösungen. Dafür gibt es zwei Wege. Das ist der Weg der Neunzigerjahre: Zeltstädte, Turnhallen, offene U-Bahnhöfe. Oder wir schaffen auf landeseigenen Grundstücken schnell errichtbare Wohncontainer. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. Und nicht die Alternativen, die Sie uns vorgaukeln, dass es leere Wohnungen in Berlin gibt. Davon nutzen wir jede, die überhaupt auch nur zur Verfügung steht.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal der Kollegin Breitenbach?

(Senator Mario Czaja)

Ich würde jetzt gern noch einmal zwei Gedanken zu Ende bringen, und danach kann Frau Breitenbach gern noch etwas fragen.

Unser Ziel ist es, dass wir eine humane, nachhaltige und kostenschonende Unterbringung gewährleisten. Dabei haben wir uns für den Weg der Wohncontainer entschieden. Denn anders als in Zeltstädten oder Turnhallen ist darin eine menschenwürdige Unterbringung mit allen in Berlin vorgegebenen Standards für Gemeinschaftsunterkünfte möglich. Alle Standards, die Berlin für eine Gemeinschaftsunterkunft vorgibt, sind in diesen Wohncontainerdörfern – ich habe dieses Wort überhaupt nie zurückgewiesen, das war der Kollege Esser gestern, aber dafür war es gestern womöglich zu spät im Ausschuss – möglich. Es sind Wohncontainerdörfer, ich werde sie auch immer so nennen, und sie sind auch für die jetzige Situation die richtige Entscheidung, um diese Flüchtlingswelle aufzufangen und allen eine humane, kostenschonende und nachhaltige Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Und wenn ich den Weg gehe, den Sie gehen wollen, 2 200 Flüchtlinge in Hostels unterzubringen, dann heißt das, dass selbst bei 30 Euro, und das ist der niedrigste Satz, den derzeit ein Hostel kostet, Sie wissen, dass das 30 bis 50 Euro sind, dass ich dafür in einem halben Jahr 32 Millionen Euro konsumtive Ausgaben habe, ohne eine einzige Unterkunft in Berlin geschaffen zu haben. Und jetzt nehmen wir 42 Millionen in die Hand und können diese Einrichtungen dann auch noch nutzen, wenn die Flüchtlingswelle abebbt, wir Studenten unterbringen wollen oder andere, Wohnungslose oder Obdachlose, in einer solchen Unterkunft unterzubringen sind. Das ist mit den Bezirken besprochen. Die Träger wollen eben nicht diese Einrichtungen selbst bauen, sondern sie wollen, dass wir sie bauen. Somit haben wir auch eine breite Auswahl an Betreibern, im Übrigen eine überproportionale Zahl an frei-gemeinnützigen Betreibern, die dies in Berlin erfüllen.

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Wir schaffen diese humanen, nachhaltigen und kostenschonenden Unterkünfte auf städtischem Grund und Boden. Sie gehören uns, und der Senat und meine Mitarbeiter haben sich umgehend auf diese Extremsituation eingestellt. Ihnen gilt für ihre aufopferungsvolle und extrem anstrengende Arbeit unser Dank. Aber ich will mich auch bedanken bei allen Kollegen im Senat für schnelle und unbürokratische Hilfe, denn die Zusammenarbeit mit der Senatsfinanzverwaltung, dem Liegenschaftsfonds, aber auch mit dem Bausenator Müller war ausgesprochen gut und der Lage angemessen. Und ich will mich bei den Kollegen Nußbaum und Müller an dieser Stelle ausdrücklich für diese Zusammenarbeit bedanken.

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Diese Aufgabe, eine angemessene Versorgung und Unterbringung hinzubekommen, ist eine gesamtstädtische Aufgabe. Dem werden wir auch gerecht. Ich appelliere an die Kollegen der Opposition: Nutzen Sie dies nicht für kurzfristige, durchschaubare politische Manöver, die nur missbraucht werden! Machen Sie nicht laufend falsche Versprechungen, dass in Berlin Apartmenthäuser zur Verfügung stehen oder irgendetwas anderes, sondern helfen Sie gemeinsam mit, dass wir in Berlin diese Aufgabe in dieser Situation meistern.

Erlauben Sie mir noch ein paar Sätze zu dem Thema, das vorhin angesprochen wurde, nämlich der Situation in Nordrhein-Westfalen. Ich glaube, wir sind uns einig darin, dass wir alle über diese Bilder von Gewalt in Flüchtlingsheimen schockiert waren. Für mich ist es wirklich unfassbar, dass Menschen vor Gewalt und Repression in ihren Heimatländern fliehen, hier nach Deutschland kommen, wo sie sich in Sicherheit wähnen, und dann gerade in einem Flüchtlingsheim eine solche Situation wieder erleben müssen. Dies ist schockierend, dies ist widerwärtig, und dagegen muss in jeder Form und an jedem Ort vorgegangen werden.