Protokoll der Sitzung vom 29.01.2015

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Es kann doch nicht sein, dass nur die Eltern einen Schulplatz für ihre Kinder finden, die sich einklagen, wie das eine Familie aus der Einrichtung Herzbergstraße mit Unterstützung des Flüchtlingsrats getan hat. Dass dann durch einen Fehler die Klage nur für zwei ihrer drei Kinder eingereicht wurde und das dritte Kind nun nicht in die Schule gehen kann – sie haben den Prozess gewonnen –, sondern auch hier erst eine erneute Klage Erfolg bringen könnte, das ist skandalös.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Wie passt das zu § 2 Abs. 1 Schulgesetz, in dem es heißt

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religiösen oder politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identität und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten.

Wie dringlich unsere Forderung nach Regelbeschulung für Flüchtlingskinder ist, wurde erst gestern wieder im Hauptausschuss deutlich. Welch vielfältige Nachnutzung Containerdörfer nach Meinung des Senats irgendwann einmal haben sollen, z. B. als olympische Dörflein, wie von Herrn Czaja schon öfter zu hören war, sei einmal dahingestellt, aber gestern wurde im Hauptausschuss schon unter Aufweichung der bisherigen durch uns ausdrücklich unterstützten Position der Senatsbildungsverwaltung, dass keine Beschulung in Gemeinschaftsunterkünften erfolgen wird, angekündigt, dass es ab dem nächsten Schuljahr wahrscheinlich doch dazu kommen kann. Als Grund wurde durch den Staatssekretär angeführt, dass bei anhaltender Zuwanderung, wovon auszugehen sei, die Schulkapazitäten in Berlin im Sommer überschritten würden. Hier wird doch die Planlosigkeit des Senats deutlich, denn das wissen wir nicht erst seit gestern.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Martin Delius (PIRATEN)]

Kommt als nächstes etwa die Beschulung in einer Ecke einer Notunterkunft in der Turnhalle? Wieso lässt der Senat nicht längst schon Schulergänzungsbauten errichten oder nicht genutzt Schulgebäude sanieren, um diesem Problem zu begegnen? Das erfordert endlich die Einsetzung einer Steuerungsgruppe bei der Senatsverwaltung. Das erfordert eine amtsübergreifende Zusammenarbeit. Die jetzige Praxis, dass die Beschulungsmöglichkeit kein Entscheidungskriterium für die Einrichtung von ohnehin problematischen Massenunterkünften ist, muss endlich beendet werden. Wir bleiben deshalb bei unseren Forderungen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank, Frau Kittler! – Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Herr Abgeordnete Oberg. – Bitte schön!

[Martin Delius (PIRATEN): Jetzt aber den Richtigen angreifen!]

Angriff? – Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Aufnahme und Unterstützung und Versorgung von Flüchtlingen in steigender Zahl wird gelegentlich als Kraftakt bezeichnet. Auch ich habe diesen Begriff hier schon verwendet, aber eigentlich ist er falsch. Er impliziert eine Anstrengung, von der man sich wünscht, dass sie geringer wäre. Es klingt wie die Klage über eine Last. Genau diese Klage ist aber unangebracht. Darum möchte ich die Aufnahme von Flüchtlingen, die Versorgung und auch die Beschulung lieber als zwingenden Akt der Menschlichkeit bezeichnen. Kein Kraftakt, sondern ein Akt der Menschlichkeit, auf den zu verzichten unsere Humanität grundsätzlich infrage stellt.

Wer wüsste besser als wir Deutschen – zumindest, wenn man ein Mindestmaß an historischer Erinnerung und Gedächtnis voraussetzt – um die Bedeutung von Asyl und die Ursachen von Flucht. Es waren im 20. Jahrhundert Hunderttausende Deutsche, die vor Deutschen geflohen sind, um wenigstens ihr Leben zu retten. Es waren wir Deutsche, die durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust Millionen Menschen in ganz Europa ermordeten und zur Flucht gezwungen haben. Es waren diese noch frischen Erinnerungen, die das Recht auf Asyl zu einem wichtigen Aspekt unseres Grundgesetzes werden ließen. Und gestatten Sie es mir, diesen historischen Exkurs zu Ende zu führen: Dass ausgerechnet ausländerfeindliche Gewalttaten Anfang der Neunziger der Ausgangspunkt für die Aushöhlung des Asylrechts waren, muss mit Blick auf die deutsche Geschichte als Sündenfall betrachtet werden. Beides zusammen, die historischen Quellen des Asylrechts und dieser Sündenfall der Neunzigerjahre, machen es uns zur Verpflichtung, die heute zu uns kommenden Flüchtlinge bestmöglich zu unterstützen.

Dann sind wir jetzt bei dem heutigen Thema. Besondere Sorge haben natürlich die Kleinsten, also die Kinder, verdient. Wir wollen – und ich sehe da eigentlich eine sehr große Einigkeit hier im Haus, kann deshalb die Rede eben nicht so ganz nachvollziehen –, dass diese Kinder von Anfang an einen guten Start in unsere Gesellschaft haben. Wir wollen, dass alle Kinder Deutsch lernen, die die Schule und auch die Kita besuchen. Vom ersten Tag an müssen wir sie so behandeln, als ob sie für immer blieben. Kein Tag darf verschenkt werden. Das ist das, was man Willkommenskultur nennt.

[Carsten Schatz (LINKE): Richtig!]

Die Vermittlung der deutschen Sprache in den Willkommensklassen oder Willkommensgruppen muss natürlich in den Schulen erfolgen. Ziel muss es sein, sie dann auch schnellstmöglich in die Regelklassen zu integrieren.

[Zuruf von Carsten Schatz (LINKE)]

Das alles fordert der Antrag. Das alles ist aber, und das wissen Sie, Frau Kittler, auch schon Realität.

(Regina Kittler)

[Regina Kittler (LINKE): Wie bitte? Haben Sie gerade eben nicht zugehört?]

Bitte sehen Sie es uns nach, wenn wir den Antrag ablehnen, aber wir haben es uns vorgenommen, grundsätzlich keinen Anträgen zuzustimmen, die die Beschreibung der Gegenwart in eine Forderung für die Zukunft verwandeln.

[Canan Bayram (GRÜNE): Ja, ja! Da muss man aber auch alle Augen zumachen!]

Dann lassen Sie mich noch ganz kurz über das sprechen, worauf Sie sich vom gestrigen Tag beziehen.

[Regina Kittler (LINKE) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Sie darf sie gleich stellen, wenn ich den Gedanken zu Ende formuliert habe. Vielleicht erübrigt sich das dann auch. – Jetzt war ich nicht im Hauptausschuss, ich weiß nicht, ob Sie da waren, aber nach dem, was mir an Informationen vorliegt, hat Staatssekretär Rackles dort mitnichten gesagt, dass man Containersiedlungen schafft, um dort die Kinder zu unterrichten, sondern dass man an Schulstandorten, also in den Schulen, ergänzend mit Containern zusätzlichen Raum schafft, so wie wir das in Schulen übrigens immer wieder tun, um dort die Kinder zu unterrichten.

[Joachim Krüger (CDU): Sehr richtig!]

Das ist eine verantwortliche Herangehensweise. Daran kann ich auch nichts Schlechtes finden, weil der Lernort die Schule ist. Die deutsche Sprache wird an den Schulen vermittelt. Und sobald sie erlernt ist, geht es in die Regelklasse. Da sind wir uns einig. Und ich mag auch nicht, dass wir hier eine Differenz konstruieren, wo es eigentlich keine gibt. – Und jetzt dürfen Sie gerne eine Zwischenfrage stelle.

Bitte, Ihre Zwischenfrage!

Ich habe immer noch nicht verstanden, warum Sie dann den Antrag ablehnen wollen. Übrigens kämpft Herr Rackles, weiß ich, wirklich dafür, dass die Kinder – –

[Lars Oberg (SPD): Wir auch!]

Ja, wie schön, dann stimmen Sie doch zu! Sie wissen ganz genau, dass solche mobilen Unterrichtseinheiten von der Planung bis zur Vollendung ungefähr anderthalb Jahre brauchen. Da frage ich Sie, wie das passieren soll,

wenn die Kapazität an den Schulen in Berlin im Sommer erschöpft ist. Das war die Aussage gestern. Dann heißt das, –

Ich glaube, die Frage wurde verstanden.

Frau Kittler! Sie sprechen jetzt ein wenig selbst gegen Ihren eigenen Antrag. Sie weisen auf die langen Planungsperioden hin und wissen gleichzeitig, dass die Ankunft und der Ort der Unterbringung der Flüchtlinge in Berlin eben nicht auf einem solchen langen Planungshorizont zu regeln ist. Wenn wir uns heute heranmachen, neue Schulstandort zu eröffnen mit dem Ziel, dort Kinder zu beschulen, müssten wir entweder davon ausgehen, dass wir sie mit langen Buswegen dort hinbringen, und wir würden in Kauf nehmen, dass es dann extra Schulen für Flüchtlingskinder gäbe. Beides hielte ich für falsch. Beides ist nicht der Weg, den der Senat bestreitet. Beides ist nicht der Weg, den diese Koalition unterstützen wird. Deshalb wissen Sie doch so gut wie ich, dass alles versucht wird, um genau diesem Ziel Rechnung zu tragen.

Jetzt erkläre ich Ihnen noch ein zweites Mal, warum wir den Antrag ablehnen. Noch einmal: Anträgen zuzustimmen, die die Wirklichkeit der Gegenwart beschreiben und so tun, als ob es das Ziel von morgen wäre, nennt man irgendwo anders unfreundlich Schaufensterantrag. Das würde ich hier aber nicht machen wollen, weil mir das Thema zu wichtig ist. Aber sehen Sie uns bitte trotzdem nach, dass wir dem Antrag dann nicht zustimmen werden.

Jetzt ist hier die Redezeit zu Ende. Ich überziehe sie einmal ganz kurz. Wir haben ein Redekontingent. Ich möchte gern die Gelegenheit ganz zum Schluss nutzen, einen Dank zu sagen, einen Dank an die vielen Lehrerinnen und Lehrer, die Schulleiterinnen und Schulleiter in der Stadt, die sich jeden Tag weit über ihre Pflicht hinaus für die Kinder engagieren, die nach Berlin kommen, um sie zu unterrichten und sie zu unterstützen.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Beifall von Ramona Pop (GRÜNE)]

Das, was dort geleistet wird, ist gelebte Solidarität und zeigt und beweist jeden Tags aufs Neue, dass dies eine menschliche Gesellschaft ist, dass dies eine menschliche Stadt ist, auf die wir sehr stolz sein können. Genau im Geiste dieser Leute, die sich jeden Tag engagieren, werden wir das auch weiterhin tun. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der CDU – Wolfgang Brauer (LINKE): Dann machen Sie spaßeshalber mal ein Vierteljahr Praktikum!]

Vielen Dank, Herr Oberg! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Bayram. – Bitte!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Oberg! Der erste Teil Ihrer Rede hat mir besser gefallen, weil Sie darin zumindest zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie Problembewusstsein haben. Tatsächlich ist die Realität für die Flüchtlingskinder in Berlin eine andere, nämlich Bildungsarmut in einem doch an sich ganz reichen Land. Das steht in krassem Widerspruch zu den Rechten, die die Kinder haben. Es ist kein Akt der Menschlichkeit. Wir haben die Kinderrechtskonvention unterschrieben. Darin steht, dass Kinder Rechte haben. Die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, das Recht des Kindes auf Bildung anzuerkennen. Daraus folgen Pflichten für diesen Senat, die er sträflich unterlässt. Das ist die aktuelle Situation.

Gerade das Beispiel Lichtenberg macht deutlich, dass es unverantwortlich ist. Wenn man dann noch weiß, was für Gerüchte in diesem Zusammenhang bestehen, dass der frühere Bürgermeister von Lichtenberg diese Unterkunft nur geduldet hätte, wenn die Kinder dort nicht in die Schule gehen, oder wenn man dann weiß, dass dort auch versucht wurde, in demselben Gebäude, in dem die Unterkunft ist, die Kinder zu beschulen, widerspricht das all dem, was Sie hier heute vorgetragen haben, Herr Oberg. Da würde ich mich an Ihrer Stelle erst einmal gründlich informieren, bevor Sie hier so tun, als wenn alles in Ordnung war. Für uns gilt das nicht. Es ist nicht in Ordnung. Der Senat muss sich mehr anstrengen, um den Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Interessant ist, dass wir dieses Jahr den 20. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention haben werden. Weil Sie gern feiern und besondere Anlässe nutzen, würde ich sagen, dass wir dieses Jahr doch zum Anlass nehmen sollten, die Kinder hier so auszustatten, wie es erforderlich ist. Wir sagen deutlich: Mit uns gibt es keinen Unterricht in den Einrichtungen und schon gar nicht in den Containern. Es wird diskutiert, dass dort teilweise auch die Beschulung erfolgen soll. Das geht wirklich nicht. Das geht auch zulasten der Kinder. Schauen Sie sich doch einfach einmal an, was die an Traumatisierungen, an Flucht hinter sich haben, gemeinsam mit den Eltern hierher zu kommen. Das, was ihnen helfen würde, wäre, schnell Freunde zu finden und tatsächlich hier anzukommen und vielleicht durch die Freunde in der Schule ein bisschen zu vergessen, wie sie in den Unterkünften leben. Auch das ist nicht kindgerecht. Da könnte Schule eine besondere Rolle spielen. Das sollten wir mitbedenken.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Das Wichtige für mich ist, dass die Kinder in einer Phase sind, wo sie in einer Entwicklung sind und eine besondere Förderung brauchen. An der Stelle wäre es mir wichtig – das sage ich in beide Richtungen, aber insbesondere in Richtung des für Flüchtlinge und Geflüchtete zuständigen Senators –, statt in jeder Senatsverwaltung eine eigene Taskforce einzurichten, würde ich mir wünschen, dass die Verwaltungsverantwortlichen tatsächlich einmal in die Unterkünfte gehen und den Kindern in die Augen schauen, wirklich in die Augen schauen und einmal sehen, was diese Kinder brauchen und was sich diese Kinder wünschen und wie es denen geht. Ich erwarte und erhoffe mir davon, dass Sie sich dann selbst fragen, ob Sie nicht mehr für die geflüchteten Kinder tun können, als Sie es bisher tun.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Vielen Dank, Frau Bayram! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Bentele. – Bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Innerhalb sehr kurzer Zeit reden wir jetzt in zweiter Runde im Plenum. Wir hatten die Zeit, über die Frage der Beschulung von Flüchtlingskindern im Ausschuss ausführlich zu sprechen. Insbesondere wichtig war der Bericht des Senats. Wenn ich alles zusammenfasse, stellt sich für mich das gleiche Bild dar, das wir am 11. Dezember gezeichnet haben. Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung. Wir haben allein in den letzten zwei Jahren einen Anstieg von 300 Prozent an Kindern, die wir beschulen müssen. Allein in den letzten drei Monaten gab es ein Plus von 36 Prozent.