Protokoll der Sitzung vom 26.03.2015

Uns allen muss aber auch klar sein, dass wir nach dem Anlauf der Jugendberufsagentur mit einem vorübergehenden Anstieg der Jugendarbeitslosenzahlen zu rechnen haben. Denn wir haben die große Hoffnung, dass viele junge Menschen, die aus der Statistik herausgefallen wären oder bereits herausgefallen sind, nun durch die Jugendberufsagenturen in Arbeit gebracht werden können.

Ein gleichberechtigter Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist bei der Einrichtung der Jugendberufsagentur unser Ziel. Deshalb ist es schlichtweg falsch, was vereinzelt in der Presse zu lesen war, nämlich dass behinderte Jugendliche von den Angeboten der Jugendberufsagenturen ausgeschlossen wären. Einen solchen Ausschluss hätten wir selbstverständlich nicht akzeptiert.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Behinderte sind ein integraler Bestandteil der Arbeit der Jugendberufsagentur. Auch sie – und ich sage: gerade auch sie – haben ein Recht darauf, dass ihnen beim Übergang von der Schule in den Beruf eine Hilfestellung gegeben wird.

Die Jugendberufsagentur soll als Anlauf- und Beratungsstelle alles aus einer Hand bieten, was den Zugang zu Ausbildung und Arbeit möglich macht. Sie ist gerade auch für Jugendliche mit schwierigen Ausgangsbedingungen wichtig und gedacht. Deshalb werden auch bestehende Verfahren für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Schwerpunkt an die Jugendberufsagentur gebunden werden.

Über der Jugendberufsagentur steht ganz klar der Wille, Jugendarbeitslosigkeit nicht zu verwalten, sondern sie abzuschaffen. Beratungsangebote unter einem Dach, koordiniert und gebündelt – das ist der richtige Weg. So schaffen wir einen einfachen und niedrigschwelligen Zugang zu Information und Beratung. So werden wir weitere Hürden für die berufliche Integration von Jugendlichen aus dem Weg räumen. So finden die betroffenen Jugendlichen passgenaue Angebote, mit denen sie etwas anfangen können.

Dafür bedarf es aber einer neuen Durchlässigkeit. So soll die Jugendberufsagentur die Schulen konsequent und systematisch in ihr Netzwerk einbinden. Angefangen von integrierten Sekundarschulen bis hin zu Gymnasien sollen die Schülerinnen und Schüler erfasst werden, um klar zu wissen: Welcher Bedarf herrscht wo? Welche Angebote werden wo gebraucht?

Im ersten Schritt wird sich die Jugendberufsagentur um junge Menschen unter 25 kümmern. Das beruht auf den Bundesregelungen zur Leistungsgewährung, die meist auf ein Alter von 25 Jahren ausgerichtet sind. Jeder dieser Jugendlichen soll die Möglichkeit zu einem Berufsabschluss haben. Wir wollen aber erreichen, dass die neuen Angebote auch auf junge Menschen bis zum 28. Lebensjahr ausgeweitet werden können. Viele von ihnen gelten als sogenannte Altbewerber. Das sind Arbeitssuchende, die ihre Ausbildung nicht im Jahr ihres Schulabgangs aufnahmen. Manche haben sich mehrfach vergeblich um einen Ausbildungsplatz beworben; andere haben in Wartezeiten Wehrdienst, Auslandsaufenthalte oder Praktika absolviert. Ihre Chancen bei weiteren Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz sinken mit zunehmendem Alter. Wir wollen diese Altersgruppe aber nicht vergessen oder gar aufgeben. Außerdem können die Tätigkeiten, die in Wartezeiten ausgeübt wurden, sogar ein wichtiges Pfund sein: Dort haben die Jugendlichen persönliche Erfahrungen oder auch schon erste berufliche Qualifikationen erworben, die im Berufsleben, der Arbeitswelt oder dem Wirtschaftsstandort Berlin dienlich sein können.

Die Koalition kann im Gegenzug mit einer offensiven und effektiven Wirtschaftspolitik den Jugendlichen und jungen Menschen Berlins dienlich sein. Wenn wir die Voraussetzungen für neue und nachhaltige Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft motivieren, weiterhin in unsere Stadt zu investieren, wenn wir zudem unsere Instrumente von Berlin-Arbeit – wie eben die Jugendberufsagentur – konsequent einsetzen, wo nötig nachjustieren und Unterstützung wie nur möglich leisten, dann setzen wir auf eine erfolgversprechende Arbeitsmarktpolitik und können die Arbeitslosenquote weiter senken. Dann haben wir die Chance, bis 2016 noch viel mehr junge und ältere Menschen in existenz- und zukunftssichernde Arbeit zu bringen. Dann können wir bis 2021 unserem Ziel nahe kommen, Vollbeschäftigung für alle Berlinerinnen und Berliner zu erreichen. Die Jugendberufsagentur ist auf diesem Weg ein wichtiger Meilenstein. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Danke schön, Herr Kollege! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Frau Kollegin Remlinger das Wort. – Bitte schön, Frau Kollegin!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach hundert Tagen als Regierender Bürgermeister ist es sicherlich zu früh, sich eine Goldmedaille um den Hals hängen zu lassen – auch wenn man in hundert Tagen durchaus eine Menge auf den Weg hätte bringen können. Schließlich haben Sie, Herr Regierender Bürgermeister Müller, schon einige Jahre politischer Marathonarbeit auf dem Buckel und sehen sich die Arbeit des Senats nicht als gerade der U 19 entstiegener Jungprofi an. Taktiktraining kennen Sie, Winkelzüge auch.

Bemerkenswert finden wir es deshalb schon, dass wir heute weder eine Regierungserklärung noch wenigstens eine kurze Bilanz Ihrer Amtszeit zu hören bekommen, keinen Satz zum Flughafen, keinen Satz zur Wohnungsnot, keinen Satz zu Flüchtlingen. Von einer Vision oder einigen Zukunftsideen für unsere Stadt wagen wir gar nicht zu sprechen oder auch nur darauf zu hoffen.

[Beifall bei den GRÜNEN – Senator Mario Czaja: Er ist entschuldigt. Einfach zuhören!]

Es gibt eine neue Sachlichkeit, Schwarzbrot statt Multivitamincocktail. Immerhin haben Sie uns, Herr Müller, eine schöne Überraschung heute hier besorgt. – Er hört mich bestimmt auch da draußen, Herr Czaja.

Für eine schöne Überraschung hat er für mich als Bildungspolitikerin in der Tat gesorgt, denn ich war etwas

überrascht – bin aber natürlich auch erfreut –, dass heute als Bilanz der ersten hundert Tage des neuen Senats ein Thema behandelt wird, das die grüne Handschrift trägt, aus unserer Feder stammt und in Hamburg wie in Berlin überparteilich konsensfähig war. Der Unterschied ist nur, dass es in Hamburg ein mutiger neuer Erster Bürgermeister Scholz auch wirklich zu seinem Kernprojekt gemacht hat.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Wir schlagen mit der Jugendberufsagentur ein neues Kapitel für die Berliner Jugendlichen am Übergang von der Schule zum Beruf auf. Dieses Kapitel trägt die Überschrift: Wir lassen niemanden zurück. – Wir freuen uns, dass es im Herbst in vier Bezirken losgehen wird, auch wenn ich sagen muss – das wissen die Beteiligten aber auch –, dass beim Thema Inklusion noch nachgearbeitet werden muss. Wenn wir sagen, dass wir alle Jugendlichen meinen, dann sollten wir auch alle Jugendlichen meinen.

[Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Wir glauben auch, dass die vier ausgewählten Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Marzahn-Hellersdorf, Spandau und Tempelhof-Schöneberg geeignete Partner für diesen Anfang sind. Wir sind davon überzeugt, dass beispielsweise ein Bezirk wie Friedrichshain-Kreuzberg nicht zuletzt von der Senatsverwaltung als Modellbezirk ausgewählt wurde, weil dort seit fast 30 Jahren intensive Netzwerkarbeit im Bildungsbereich geleistet wird, beginnend bei der frühkindlichen Förderung, weiter gehend über ein umfangreiches Eltern-Kind-Angebot in den vorbildlichen Familienzentren und den unterschiedlichsten Akteuren, wie beispielsweise den Familienhebammen und Stadtteilmüttern.

[Beifall bei den GRÜNEN]

In kaum einem anderen Bezirk ist so beherzt wie in Friedrichshain-Kreuzberg in den letzten Jahren die Schulstrukturreform umgesetzt worden, weil alle Beteiligten verstanden haben, dass die integrierte Sekundarschule kombiniert mit Trägerangeboten und den von mir beschriebenen Netzwerken ein richtiger Weg aus der Hauptschulsackgasse ist. Auf dieses dichte Netzwerk kann sich die neue Jugendberufsagentur in Friedrichshain-Kreuzberg wie auch in anderen Bezirken verlassen. Darüber freuen wir uns, auch weil es zeigt, dass dort der unbedingte Wille für eine positive Veränderung der Bildungslandschaft vorhanden ist.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Leider kann ich das aber nicht für alle hier im Haus sagen. Viel zu lange hat sich die Berliner Landespolitik im Bildungsbereich mit den letzten und vorletzten Plätzen abgefunden. „Dabei sein ist alles“, darf aber hier eben nicht das Motto sein. Hier brauchen wir den sportlichen

(Dr. Niels Korte)

Ehrgeiz des Senats. Sei auch das Siegertreppchen noch so fern, sollte man doch wenigstens um die Medaillen mitspielen wollen.

[Beifall bei den GRÜNEN]

So sehr ich an den Erfolg der Jugendberufsagentur glaube, so skeptisch bin ich bei Ihrem Engagement. Sie haben sich mit der Bildungsmisere in Berlin abgefunden. Sie leben ganz bequem damit, Bonusprogramm hin oder her, dass wir Schulen mit über 40 Prozent Schulabbrechern und Schulabbrecherinnen haben, Schulen, in denen nur ein Fünftel aller Jugendlichen überhaupt den Mittleren Schulabschluss besteht. Das ist nicht hinnehmbar. Es ist nicht hinnehmbar, wenn die Hauptstadt Deutschlands 10 bis 15 Prozent aller Schülerinnen und Schüler als funktionale Analphabeten in die Berufswelt schicken will – und das im Jahr 2015. Man kann an dieser Stelle nicht davon sprechen und auch nicht mit diesem einen Reformbaustein – ich habe Ihnen schon so oft gesagt das es nur ein Reformbaustein und nicht die Lösung ist –, wir hätten jetzt erreicht, dass keiner verloren geht. Wir verlieren weiterhin jährlich Tausende von Jugendlichen an diesen Schnittstellen.

Deshalb sage ich erneut, dass wir hier ein überparteiliches Bildungsbündnis für Berlin brauchen. Was wir nicht brauchen, ist, was wir jetzt im Moment sehen, dass ein Regierender Bürgermeister noch nicht einmal zu einer Debatte anwesend ist, in der sein Machtwort dringend nötig wäre.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Was Sie als Fraktionen hier gerade aufführen, ist das Duo Infernale der Bildung. Wir haben auf der einen Seite einen Ringkampf zwischen einer CDU auf der rechten Seite, die in den Ring steigt und sagt: Kulturkampf! Untergang des Abendlandes! Rettet die Gymnasien! Statt sich den tatsächlichen Herausforderungen in der Berliner Bildungspolitik zu stellen, gehen Sie über einen künstlich inszenierten Verteidigungskampf um die Gymnasien, die überhaupt niemand angreift.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Statt aufzuklären und mitzuregieren, machen Sie Eltern und Lehrern nur Angst. Sie geben hier die „FDP reloaded“ und lassen für das vermeintliche Wohl einer leistungsstarken Elite schon gern einmal viele andere Kinder einfach scheitern, die es mit guter Förderung mit Sicherheit auch weit bringen könnten. Das finden wir unverzeihlich.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Sie haben sich aus unserer Sicht mit ihrem Bildungsprogramm von jeder sozialen Verantwortung und Gesamtverantwortung für das Land Berlin verabschiedet. Sie

haben sich ganz offensichtlich stattdessen für den offenen Kampf gegen die Inklusion und gegen bessere Chancen für Migrantinnen und Migranten entschieden. Deshalb können Sie von mir nicht erwarten, dass ich ruhig hinnehme, dass wir heute brav und ernsthaft über den Erfolg der Jugendberufsagentur diskutieren, während Sie ganz offensiv den Schulfrieden im Land Berlin zerstören.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Nur deswegen sage ich: Dass Sie sich hier heute als CDU überhaupt trauen, das Thema „Wir geben keinen Jugendlichen verloren“ anzumelden, ist frech und ein grobes Foul.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Wo ist denn da jetzt aber eigentlich die SPD?

[Martin Delius (PIRATEN): Da sitzt sie doch, zumindest Teile davon!]

Die SPD sitzt aus meiner Sicht in ihrer Ecke und überlegt gerade, ob es nicht vielleicht eine gute Idee wäre, die Lunte von der anderen Seite her anzuzünden. Mit Inklusion können Sie zwar als SPD-Fraktion auch nicht richtig viel anfangen, aber irgendwie haben Sie sich erinnert, dass da noch irgendetwas war. Es gab noch die Gemeinschaftsschule. Wie viele haben wir davon noch? Wo sind die noch? Total desorientiert fuchteln Sie weiter mit dem Feuerzeug herum, gucken nicht nach rechts oder links, drehen sich im Kreis und merken nicht einmal – geschweige denn, dass Sie es argumentieren könnten –, dass die neuen Rahmenlehrplänen so tapsig ausgearbeitet und präsentiert wurden, dass sie die CDU zum Molotowcocktail umfunktioniert in den Ring schmeißen kann.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Dass dabei das Kleid eurer Senatoren lichterloh in Flammen steht, scheint einigen sogar ganz gut in den Kram zu passen. Ich bitte Sie aber alle, liebe Kolleginnen und Kollegen: So geht das nicht. Ich bitte Sie inständig, lassen Sie auf beiden Seiten das Zündeln am Schulfrieden sein. Deshalb habe ich gesagt, dass ich ein überparteiliches Berliner Bildungsbündnis will.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Wer in einem ideologischen Kulturkampf nur auf Wählerklientel schaut und sich dabei ideologisch selbst zu Hause fühlt, macht genau den Fehler, den wir den Institutionen bei der Jugendberufsagentur angekreidet haben. Es geht nicht um Sie, es geht um die Kinder und Jugendlichen im Land Berlin. Denen müssen wir helfen. Deshalb kommen Sie zurück an den Tisch, und lassen Sie uns

darüber reden, was der nächste Schritt nach der Jugendberufsagentur ist, um wirklich sagen zu können, dass wir Keine und Keinen verloren geben. An der Stelle will ich Sie kämpfen sehen. – Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass der Regierende Bürgermeister für heute bis 14.30 Uhr entschuldigt ist. Er nimmt an einer Besprechung der Regierungschefs teil. Es geht unter anderem um das wichtige Thema der Unterbringung von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland. Ich nehme an, Frau Kollegin Remlinger, Sie wollten jetzt nicht kritisieren, dass er daran teilnimmt. – Frau Kollegin Becker von der SPDFraktion hat jetzt das Wort.

Die rote Karte ist ja wohl für Frau Remlinger, oder? – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Remlinger! Diese rote Karte, die möchte ich Ihnen mal erteilen aus verschiedenen Gründen.