Protokoll der Sitzung vom 07.05.2015

[Allgemeiner Beifall]

Wir werden uns auch nicht von denen einschüchtern lassen, die sich im pseudobürgerlichen Gewand als Patrioten gerieren und dabei doch nur Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung propagieren. Auch hier engagieren sich zahlreiche Berlinerinnen und Berliner gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Auch das ist unser Berlin, und so soll es auch bleiben!

[Allgemeiner Beifall]

Bei all dem, was Berlin ausmacht, ist eine wichtige Frage bis heute ungeklärt, und sie beschäftigt uns weiterhin. Was in anderen Hauptstädten selbstverständlich ist, ist in Berlin durch Teilung und Krieg anders, verändert und auch neu zu definieren – die Frage, was eigentlich Berlins besondere Rolle und Aufgabe als Hauptstadt eines vereinten und demokratischen Deutschlands mitten in Europa ist. Mit der Beantwortung dieser Frage tut sich Deutschland – Berlin selbst aber auch – bislang ziemlich schwer, gerade natürlich mit Blick auf die Vergangenheit: Hauptstadt der Monarchie, Hauptstadt in der Nazidiktatur, Hauptstadt in der DDR-Diktatur, Stadt der Mauer und des

Kalten Krieges. Umgekehrt gesehen ist es aber gerade die deutsche Geschichte, die in Berlin konzentriert ist, deren Spuren in der ganzen Stadt sichtbar sind und es auch bleiben werden. Gerade im Umgang mit unserer Vergangenheit nimmt Berlin wohl am stärksten seine Hauptstadtfunktion für ganz Deutschland wahr.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Daraus folgt für uns, wie man es auch betrachtet: Der 8. Mai wird für uns immer bedeutend und zugleich die Mahnung sein, Verantwortung aus unserer Vergangenheit zu ziehen und die Zukunft Berlins in einem vereinten Europa weiter zu gestalten. – Vielen Dank!

[Allgemeiner Beifall]

Vielen Dank, Frau Kollegin! – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, ist es mir eine ganz besondere Ehre, heute eine Delegation der Volksversammlung der Republik Bulgarien in unserer Sitzung begrüßen zu dürfen. Die Delegation steht unter Leitung der Vorsitzenden der Volksversammlung, Frau Tsetska Tsacheva. – Herzlich willkommen im Abgeordnetenhaus von Berlin!

[Allgemeiner Beifall]

Für die SPD-Fraktion hat nunmehr Herr Saleh das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war ein wahnsinniger und menschenverachtender Vernichtungskrieg, der die Welt in Brand setzte. Dieses Datum steht für das Ende der größten Menschheitskatastrophe aller Zeiten – den Mord an 6 Millionen Juden und den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Völker Europas.

70 Jahre ist eine kurze Zeit. 70 Jahre, das ist weniger als ein Menschenalter. Deshalb erinnern und gedenken wir heute zu Recht in der Aktuellen Stunde an dieses Datum. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Verbrechen bleiben aktuell. Wir, und damit meine ich gerade unsere Jahrgänge, können und müssen das Gedenken weitertragen. Es darf kein Vergessen geben, und es darf keinen Schlussstrich geben.

[Allgemeiner Beifall]

Denn: Wenn wir unsere Vergangenheit ausblenden, werden wir blind für die Gegenwart. Dann besteht die Gefahr, dass in der Zukunft neues Unrecht entsteht.

Von 1945 bis 1985 mussten 40 Jahre vergehen, bis der 8. Mai als Tag der Befreiung verstanden wurde. Wir sind stolz auf unseren früheren Regierenden Bürgermeister und Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der den Mut hatte, diese Wahrheit auszusprechen. Es hat vier

(Ramona Pop)

Jahrzehnte gedauert, bis alle den 8. Mai als Tag der Befreiung verstanden haben. Das zeigt, wie kurz 70 Jahre sind, wie stark unser heutiges Land auf diesen Tag zurückgeht, wie stark unsere Stadt Berlin von diesem Tag geprägt ist.

Die Folgen des Krieges sind vielerorts in Berlin immer noch sichtbar. Die Folgen des Völkermords sind hingegen auf bedrückende Weise unsichtbar. Wie beschreibt man den Verlust an jüdischem Leben, an Kultur, an Vielfalt? – Viele Initiativen, viele Ehrenamtliche verlegen in Berlin Stolpersteine, um den Verlust sichtbar zu machen. Auch viele Schülerinnen und Schüler beteiligen sich daran. Vor vier Wochen haben der Regierende Bürgermeister Michael Müller und ich die Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg besucht. Wir trafen auf eine engagierte, auf eine wachsende Jugendgemeinde und besichtigten eine Synagoge, die wieder Zulauf hat. Menschen jüdischen Glaubens kommen wieder nach Berlin, und sie bereichern unsere Stadt.

[Allgemeiner Beifall]

Wir sind dankbar dafür, dass Berlin heute wieder Heimat für die größte jüdische Gemeinde in Deutschland ist. Das ist nach nur 70 Jahren ein großes Kompliment für unsere Stadt.

Diese positive Entwicklung werden wir, wir alle in diesem Raum, unterstützen, und, wenn es sein muss, auch beschützen.

[Allgemeiner Beifall]

Auch innerhalb Europas haben wir Vertrauen zurückgewonnen. Aus Siegern und Besiegten wurden Partner auf Augenhöhe. Besonders Polen und Frankreich, die von Deutschland so oft angegriffen wurden, sind unsere Freunde geworden. Wir erinnern uns an den Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau: ein starkes Zeichen und ein entscheidender Moment für die Versöhnung mit unseren polnischen Nachbarn. Unser Land ist heute ein geachteter, ein respektierter Teil der Weltgemeinschaft. Berlin ist zum Sehnsuchtsort und zur weltoffenen Metropole gereift.

[Beifall bei der SPD]

Nichts davon war selbstverständlich. Für all das, was Deutschland nach dem Krieg widerfahren ist, gibt es ein simples deutsches Wort: Gnade. Die Weltgemeinschaft hat Gnade walten lassen. Das kann ihr nicht leichtgefallen sein, und es verdient unseren Respekt. Aber diese Gnade ist zugleich eine Verpflichtung. Unsere Generation trägt keine Schuld für die Geschichte. Aber um Schuld geht es beim heutigen Gedenken auch nicht. Es geht um Verantwortung. Verantwortung für die Geschichte heißt auch, das Gedenken immer wieder neu in die Sprache unserer heutigen Zeit zu übersetzen und dabei alle einzubeziehen.

In einer Sache ist Deutschland heute einzigartig: Wir sind das einzige Land auf der Welt, dessen Gründungskonsens

auf einer Niederlage beruht. Der 8. Mai ist zum symbolischen Gründungsdatum unserer Republik geworden. In meiner Generation gibt es nicht mehr viele, die noch Zeitzeugen in der eigenen Familie haben – aus Altersgründen, aber auch, weil viele unserer Eltern und Großeltern aus anderen Ländern stammen. Wenn wir wollen, dass der Gründungskonsens unserer Gesellschaft nicht verloren geht, sondern weiter ausgebaut und vertieft wird, dann müssen wir gerade auch junge Menschen – und damit meine ich alle in Berlin lebenden jungen Menschen – in das Gedenken einbeziehen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Wie das funktionieren kann, habe ich selbst erlebt: auf einer Fahrt mit jungen Menschen, die die ganze Vielfalt Berlins widerspiegelten, nach Auschwitz. Die Jugendlichen sahen die Berge an Kinderschuhen – jedes Paar hatte einmal einem Kind gehört. Und sie sahen einen Berg an Koffern – jeden dieser Koffer hatte einmal ein Mensch getragen. So verstanden die Jugendlichen instinktiv die Dimension des Verbrechens. Die Jugendlichen verstanden die Geschichte, und sie verstanden sich als Deutsche mit allen Licht- und Schattenseiten. – Genau diese Übersetzung des Gedenkens für die heutige Gesellschaft – das ist die Aufgabe unserer Generation.

[Allgemeiner Beifall]

Wir müssen den 8. Mai nicht nur als Tag des Erinnerns und Gedenkens betrachten. Der 8. Mai ist vielmehr Teil unserer nationalen Identität geworden. Es mag schwer sein, Geschichte in die Gegenwart zu übertragen: Die Analogien bleiben immer zum Teil falsch. Und doch ist die Art, wie wir mit den heutigen Konflikten in dieser Welt umgehen, die Messlatte. Sie zeigt, ob das Gedenken nur ein Ritual ist oder ob wir wirklich die Nation sind, die wir sein wollen. Viele Deutsche haben während und nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlingserfahrungen gemacht. Heute zeigt sich jeden Tag in Berlin und in Deutschland, ob wir wirklich ein humanes Land geworden sind. Es zeigt sich daran, wie wir mit Flüchtlingen umgehen – ob wir kalt sind oder ob wir mitmenschlich sind. Ich bin der festen Überzeugung: Wir können und wir müssen noch mehr Mitmenschlichkeit zeigen.

[Allgemeiner Beifall]

Auch mit Blick auf äußere Konflikte zeigt sich, wer wir sind. Millionen Menschen in Russland sind während des Zweiten Weltkriegs gestorben. Es ist das Land, das gleich unter zwei schrecklichen Diktaturen leiden musste: unter Hitlers Vernichtungskrieg von außen und unter dem Stalinismus mit seinen Millionen Opfern im Innern. Es mag sein, dass wir heute Konflikte mit Russland und unterschiedliche Interessen haben. Europa muss dabei selbstverständlich zusammenhalten. Eines müssen wir dabei aber auf jeden Fall vermeiden: Russland darf weder in der Tages- und Parteipolitik noch in den Medien zu einem undifferenzierten Feindbild erklärt werden. Wir be

kommen den Frieden in Europa nur hin, wenn wir Russland als gleichberechtigten Partner auf Augenhöhe verstehen.

[Allgemeiner Beifall]

Auch innerhalb Europas müssen wir versuchen, die Nation zu sein, die wir sein wollen. Wie gehen wir heute mit den Gesellschaften in Südeuropa um, die nach der Eurokrise in Not geraten sind? – Natürlich müssen wir für ökonomische Vernunft eintreten. Aber wir sollten uns vor jeder Form einer neuen Arroganz gegenüber Griechenland oder wem auch immer hüten. Denn Arroganz und Überheblichkeit schaffen Misstrauen und Angst.

[Allgemeiner Beifall]

Denn es gibt – und auch dafür steht der 8. Mai – kein deutsches Schicksal in Europa. Es gibt nur eine europäische Zukunft, an der wir Deutsche im Guten wie im Schlechten teilhaben. Europa ist nicht das Problem – es ist die Lösung. Mitmenschlichkeit statt Kälte, Dialog statt Feindbilder, Augenhöhe statt Arroganz – all diese Werte sollten wir vertreten, nicht aus einer historischen Schuld heraus, sondern aus Verantwortung für die Zukunft und aus der Gnade, die wir nach 1945 erfahren haben. Wenn wir das umsetzen, dann zeigen wir uns gegenüber unserer deutschen Geschichte würdig. Dann ist der 8. Mai wirklich ein Tag der Befreiung für uns und für unsere Nachbarn. – Vielen Dank!

[Allgemeiner Beifall]

Danke schön! – Für die Fraktion der Linken hat jetzt Herr Udo Wolf das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Michael Müller! Sie haben hier am 2. Mai zur Befreiung Berlins geredet. Wir haben Zeitzeugen gehört, die den Holocaust überlebt, den Krieg durchlitten und die Befreiung vom Faschismus erlebt haben. Das war sehr bewegend, und ich bin froh, dass Sie als Regierender Bürgermeister dafür die passenden Worte gefunden und auch den richtigen Ton getroffen haben.

[Allgemeiner Beifall]

Ich sage das, weil es in diesen Tagen vielleicht nicht der richtige Ton ist, so ganz besonders stolz auf die Leistungen des Nachkriegsdeutschlands zu sein, sondern vielmehr aus der Perspektive der Opfer und des Leids, das die Nazi-Barbarei angerichtet hat, darüber zu reden. Das gelingt in diesen Tagen, in denen viel über das Kriegsende vor 70 Jahren geredet wird, nicht jedem deutschen Politiker. Ich möchte mich deshalb bei Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, für Ihre Rede noch einmal ganz persönlich ganz herzlich bedanken.

[Allgemeiner Beifall]

Denn, lieber Michael Müller, Sie haben es geschafft, der Opfer der Nazi-Barbarei und des Krieges zu gedenken, den Befreiern zu danken, einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen und unsere historische Verantwortung ganz aktuell zu belegen. Sie haben den Alliierten gedankt und dabei die besondere Rolle der Roten Armee und der polnischen Kämpferinnen und Kämpfer betont.

Sie, Herr Präsident, haben den ersten Stadtkommandanten und Berliner Ehrenbürger Nikolai Bersarin gewürdigt. Das alles kommt anderen in der deutschen Politik nur sehr schwer über die Lippen. Aber es ist nun einmal eine historische Tatsache, dass Berlin von der Roten Armee befreit wurde und dass die Nazi-Armeen in keinem anderen Land so gewütet haben wie in Polen und der Sowjetunion. Unabhängig davon, wie man zum Stalinismus, zur heutigen Regierung in Russland oder anderen ehemaligen GUS-Staaten steht: Den Männern und Frauen, die ihr Leben eingesetzt haben, um dem deutschen Faschismus das Handwerk zu legen, gebührt unser Dank und unser ehrendes Anerkennen.

[Allgemeiner Beifall]

Das Erinnern historischer Fakten ist wichtig, denn es geht um das Lernen aus der Vergangenheit. So, wie wir hier sitzen, haben wir eine historische Verantwortung, und das ist keine Gedenkredenfloskel. Diese Verantwortung ist konkret. Sie bedeutet, dass überall da, wo Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und rechtsextreme, menschenfeindliche Ideologien gepredigt werden, Demokratinnen und Demokraten aufstehen müssen.

[Allgemeiner Beifall]

Wir müssen mit dem Erinnern an das grauenhafteste Kapitel deutscher Geschichte Aufklärung betreiben. Wir müssen uns NPD-Kameradschaften und Pegida, Bärgida – und wie der ganze Spuk sich schimpft – immer wieder entgegenstellen – jeder und jede, so gut er oder sie kann.