Protokoll der Sitzung vom 26.01.2012

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer vom Bundesamt für Verfassungsschutz!

[Heiterkeit bei den GRÜNEN]

Eher zufällig, nämlich durch Veröffentlichung auf der Webseite Netzpolitik.org, ist uns bekanntgeworden, dass offenbar massenhaft Mobilfunkdaten zur Suche nach Autobrandstiftern in Berlin angefordert worden sind, und zwar über die Fläche von halb Friedrichshain. Das zumindest war ein Fall. Vorausgegangen war dem der Handygate-Skandal in Dresden bei der Demonstration gegen den Naziaufmarsch im vergangenen Jahr. Der Kollege Lux hat schon darauf hingewiesen.

Aufgerührt durch diesen Vorgang hatte meine Kollegin Marion Seelig schon vor elf Wochen, nämlich am 7. November 2011, eine Kleine Anfrage zu diesem Gegenstand eingereicht. Darauf hat der Kollege Lux eben ebenfalls hingewiesen – wir hatten das vorhin schon als Thema. Sie blieb bis heute unbeantwortet. Es gibt keine Zwischenmeldung, keinen Zwischenstand, und der zuständige Staatssekretär – er ist gerade mit seinem Handy beschäftigt, vielleicht kann er mal zuhören – hat vorhin auf mündliche Fragen eher rotzig und ignorant reagiert.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Er kann weder sagen, ob er die Bewältigung eines gewissen Aufwands zur statistischen Erfassung von Anlass und Umfang der Funkzellenabfrage für notwendig hält – für einen Rechtsstaatsfan ein Armutszeugnis – noch ob er für die Praxis dieser Maßnahmen eine gewisse Kontrolle seitens der politischen Führung für erforderlich erachtet noch wann Polizei und Staatsanwaltschaft begonnen haben, sich und damit auch uns Rechenschaft über die Nutzug dieser Ermittlungsmethoden abzulegen. Zwei bis drei Monate werde diese Bestandsaufnahme dauern, sagte er vorhin, zeitnah – Zitat – werde der Innenausschuss informiert. Ja, wann werden Sie denn fertig werden? Sie hatten doch jetzt elf Wochen Vorlauf. Bei zwei bis drei Monaten Bearbeitungszeit haben Sie jetzt noch eine Woche, und dann Klartext, Herr Staatssekretär! Oder aber, Sie haben vorhin schon wieder Unfug geredet.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

„Zeitnah“, dieses Wort hat bei mir ohnehin einen merkwürdigen Klang. In der vergangenen Plenarsitzung

[Zurufe von der CDU]

habe ich den Innensenator in einer Mündlichen Anfrage gefragt, wann meine Kleine Anfrage zum Übergangsgeld beantwortet werde. – Er hatte hier ausführlich vorgetragen. – Er antwortete mit „zeitnah“. Jetzt sind zwei Wochen vorbei, passiert ist jedoch nichts.

[Michael Dietmann (CDU): Das war früher ganz anders, was?]

Ich empfinde eine solche Informationspraxis, wie sie hier langsam einreißt, als Missachtung der Abgeordnetenrechte. Bei der Kleinen Anfrage zum Thema Funkzellenabfrage verweise ich auf § 50 Abs. 1 der Geschäftsordnung, wo als Richtwert steht:

Kleine Anfragen sollen innerhalb von zwei Wochen beantwortet werden.

[Bürgermeister Frank Henkel: Sollen, ja!]

Es sind jetzt elf Wochen. Elf Wochen und keine Meldung vom Senat. Ich finde, das ist ein dolles Ding. Der Staatssekretär kann noch nicht einmal sagen, wann Sie endlich zu Stuhle kommen werden, während die ganze Stadt über dieses Thema diskutiert.

Das passt auch zur Bagatellisierung des gesamten Vorgangs als solchem. Ja, lieber Kollege Juhnke, Brandstiftung ist kein Kavaliersdelikt. Aber Brandstiftung ist auch keine schwerste Straftat gegen Leib und Leben, es ist auch kein Terror, ist auch keine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Brandstiftungen sind bedauerlicherweise auch nicht so selten. Wenn die Berliner Polizei und die Staatsanwaltschaft künftig bei allen Straftaten vom Kaliber der Brandstiftung an aufwärts jedes Mal

dieses Mittel einsetzen würden, dann wäre das ein wahrer Datentsunami.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Das soll legal sein? – Nein, lieber Kollege Juhnke, das ist nicht legal. Dazu kann ich mir ein Urteil erlauben, ohne mehr zu kennen, als die kümmerlichen Informationen, die hierzu vom Senat bisher vorgelegt worden sind. Verfassungs- und strafprozessrechtlich stellt sich die Sache so dar: Erstens: Ermittlungsmaßnahmen greifen in Grundrechte der Betroffenen ein, einige weniger schwer, andere schwerer. Zweitens: Schwerer greifen diejenigen in Grundrechte ein, die die Persönlichkeitssphäre unmittelbar betreffen und Verdacht generieren, die – drittens – insbesondere ohne das Wissen der Betroffenen erhoben werden und – viertens – in flächendeckender, nahezu unbegrenzter Weise eingesetzt werden und die dann noch – fünftens – mit anderen Ermittlungsmethoden in einer Weise kombiniert werden, die wie bei Raster- oder Schleppnetzfahndung jede und jeden betreffen können, der über eine bestimmte Kombination von Merkmalen verfügt, die als Indizien für die Täterin oder den Täter von der Behörde festgelegt werden.

Das ist nicht DNA, Herr Trapp, das ist nicht einfach nur mal Gucken unter dem Mikroskop, ob man irgendwo etwas vom Tatort gesichert hat, und das dann abzugleichen. Das ist Verdachtserzeugung, weil man keinen Anfangsverdacht hat. Das ist etwas anderes.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Benedikt Lux (GRÜNE): Hat er recht!]

Dass all das hier vorliegt, hat Staatssekretär Krömer vorhin noch einmal bestätigt. Er hat gesagt: Die Maßnahme ist nicht für sich allein angewandt worden, sondern in Kopplung mit anderen. Was ist das? – Das ist Rasterfahndung. Einmal abgesehen davon, dass Rot-Rot gesagt hat, die Rasterfahndung wenden wir im Polizeirecht nicht an, gibt es jetzt das Argument: § 100g StPO stellt uns das Instrument ja zur Verfügung, und wenn wir das Instrument haben, dann setzen wir es auch ein, und schließlich gibt es auch einen richterlichen Beschluss.

Ja, meine Damen und Herren, formell rechtmäßig mag die konkrete Funkzellenabfrage, die vom Ermittlungsrichter am 23. November 2009 genehmigt wurde, sein, materiell-rechtlich ist sie es mit Sicherheit nicht. Die Rechtswissenschaft verzeichnet seit Jahren eine deutlich defizitäre Sicherungswirkung des Richtervorbehalts bei Maßnahmen mit Grundrechtseingriffen, auch bei Haftsachen.

Der Beschluss liegt uns vor. Ich habe ihn hier auch einmal mitgebracht. Darin finden sich keine Erwägung zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maß

nahme, keine Erwägungen zur Alternativlosigkeit, keine Erwägungen zum Umfang davon eventuell betroffener Unbeteiligter und auch nichts zur Schwere des Tatvorwurfs. Das liest sich, als sei hier einfach eine Zeugenvorladung unterschrieben worden. Das ist doch keine Zeugenvorladung, das ist doch keine Standardmaßnahme! Das ist eine Maßnahme, die Millionen von Handynutzern in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Das kann nicht rechtmäßig sein, Herr Juhnke, was auch immer Sie hier fabulieren.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Herr Juhnke! Wenn Sie einmal einen Augenblick zuhören könnten, – –

[Dr. Robbin Juhnke (CDU): Es ist nicht zu überhören, was Sie sagen! – Oliver Friederici (CDU): Das hängt auch von den Inhalten ab!]

Okay, Rechtsstaatsfans par excellence, ich merke es schon. Nicht alles, was geht und Erfolg versprechen kann, darf der Rechtsstaat anwenden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch beim Katalog des Paragrafen 100g. Das ist kein Freibrief für die Ermittlungsbehörden.

Zweitens – vielleicht interessiert das den Kollegen Juhnke auch, denn bei ihm ist es vorhin gar nicht aufgetaucht –: Die Berliner Polizei hat selbst erklärt, dass Funkzellenauswertungen nur bei schweren Straftaten und – jetzt können Sie mal wieder zuhören – als Ultima Ratio genutzt würden, wenn andere Ermittlungswege nicht zum Ziel führen. Die Praxis ist: Hunderte Anträge seit 2009 beim Ermittlungsrichter mit steigender Tendenz. Einer Handvoll Ermittlungsrichtern will das nicht aufgefallen sein, dass Anträge hereinflattern geradezu im Tagesrhythmus? Das betrifft die millionenfache Datennutzung Unbeteiligter. Dazu hat der Senat in Kürze folgende Fragen zu beantworten:

− Wie viele Funkzellenabfragen in welchen Bereichen der Polizei sind bei welchen Straftaten erfolgt?

− Wie viele Datensätze wurden herausgegeben? − Wie viele Menschen waren betroffen? − Wie viele wurden informiert? − Wie hoch ist die Aufklärungsquote? − Womit wurden die Daten gekoppelt? – Schwarzes Kapuzenshirt, oder was? Das würde ich gern einmal alles wissen. Wir wissen nichts über die Tragweite des Grundrechtseingriffs, weil wir darüber keine Informationen haben. –

− Was geschieht mit den Daten? Sind die gelöscht? Werden die aufbewahrt und weitergenutzt?

Für uns stellt sich die Sachlage wie folgt dar: Statt als Ausnahmemaßnahme wird die nicht individualisierte Funkzellenabfrage in Berlin offenbar wie eine Standardmaßnahme benutzt. Staatsanwaltschaft und Polizei machen das mit. Die Richter unterschreiben das. Eine Dokumentation existiert nicht. Die Kontrolle geheimer Er

mittlungsbefugnisse durch das Parlament kann dadurch überhaupt nicht stattfinden. Statt regulärer, beweisbezogener Polizeiarbeit wird die bequeme Methode der Indizienrasterbildung herangezogen, wird Verdachtsgenerierung betrieben und zwar unterschiedslos offenbar bei allen Delikten, die bei § 100g StPO stehen. Das ist selbst bei der geltenden Rechtslage ein handfester Überwachungsskandal. Herr Krömer hat vorhin gezeigt, dass er das immer noch nicht begriffen hat.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Zum Abschluss noch einige grundsätzliche Anmerkungen. Erstens: Die Linksfraktion sieht mit diesen Fällen schon jetzt belegt – wie in Dresden –, dass die nicht individualisierte Funkzellenabfrage nicht in rechtsstaatlicher Art und Weise in den Griff zu bekommen ist und Aufwand und Nutzen bei ihr in keinem Verhältnis stehen. Wir teilen das Ansinnen im Antrag unserer Bundestagsfraktion vom 18. Oktober 2011 der ersatzlosen Abschaffung dieses Instruments.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Zweitens: Als Instrument der Verdachtsgenerierung lässt die StPO offen, wie mit den offenen Daten umzugehen ist, wie sie weiter verwendet werden können und wie lange. Wir teilen jenseits unserer grundsätzlichen Position die Anmerkungen der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 27. Juli 2011. Die sollten Herr Krömer, Herr Kleineidam und vor allem Herr Juhnke einmal lesen, falls er an einem Bildungserlebnis interessiert ist.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Benedikt Lux (GRÜNE)]

Drittens: Mindestens ist die gesetzliche Klarstellung erforderlich, wann dieses Mittel eingesetzt werden kann, wie die Rechte Unbeteiligter geschützt werden können. Am 6. September hat das Land Sachsen einen Antrag im Bundesrat eingebracht. Das Land Berlin sollte sich tatsächlich kritisch mit dieser Ermittlungsmethode auseinandersetzen und auch in seiner Praxis sofort umsteuern.

Präventionsstaatlichkeit hat eine rechtstaatgefährdende Komponente. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren den Bundesgesetzgeber in diesem Bereich mehrfach zurückgepfiffen. Hier wird ein Weg beschritten, der falsch ist.

Kollege Dr. Lederer! Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen!

Es wird Zeit zu einer Umkehr hin zu einer bürgerrechtsorientierten Kriminalpolitik. – Vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN]

Vielen Dank, Herr Dr. Lederer! Auch der Begriff „rotzig“ gehört nicht in ein Parlament. Ich bitte alle Redner, sich eines etwas geschliffeneren Vokabulars zu bedienen – bei aller Emotionalität!

[Udo Wolf (LINKE): Das sind ja ganz neue Maßstäbe, die hier eingeführt werden!]

Jetzt hat Senator Henkel das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe diese Debatte mit hohem Interesse verfolgt, und mir drängt sich die Frage auf: Was ist hier ernsthafter Aufklärungswille, und was ist hier Showveranstaltung der Opposition?

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]