Protokoll der Sitzung vom 08.10.2015

Ich verstehe gar nicht, was Sie wollen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte jetzt, dass wieder Ruhe einkehrt. – Danke schön!

[Heiko Herberg (PIRATEN): Wenn der keine Ruhe macht, dann mache ich auch keine Ruhe!]

Herr Kollege Herberg! Sie haben aber nicht das Wort! Ich rufe Sie jetzt auch zur Ordnung, Herr Kollege! – Herr Dregger hat das Wort.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Danke schön!

Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Ich kann Sie auch gar nicht verstehen, weil Sie alle gleichzeitig schreien; das hilft gar nicht. Also wenn Sie alles besser wissen, dann nehme ich das so zur Kenntnis. Alle Experten in diesem Land haben es nicht so gut gewusst wie die Piraten. Und diejenigen, die professionell an den Dingen arbeiten, haben die Konsequenzen daraus gezogen, als die Erkenntnisse bekannt waren. Und das heißt, als bekannt war, dass die Flüchtlingszahlen sich in dieser Weise entwickeln, sind die notwendigen Dinge auf den Weg gebracht worden. Das machen wir jetzt im Rahmen der Haushaltsverhandlungen, das machen wir darüber hinaus in der Verwaltung, der ich sehr dankbar bin.

Ich möchte noch mal auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen einschließlich der Führungen der Senatshäuser –

[Hakan Taş (LINKE) geht mit einem Smartphone zum Redner: Darf ich Ihnen kurz was zeigen?]

Nein, danke! Ich rede jetzt, Herr Kollege Taş!

Herr Kollege Taş, ich bitte Sie!

leisten Übermenschliches, um den Menschen, die an unsere Tür klopfen und um Schutz nachsuchen, Schutz zu gewähren. Das hat meinen tiefen Respekt und das hat auch Ihren tiefen Respekt verdient. Ich danke selbstverständlich auch nochmals den Ehrenamtlichen, ohne die diese kurzfristige Bewältigung dieser großen Zahl nicht möglich wäre. Lassen Sie uns doch zusammenstehen, lassen Sie uns vernünftig die Fakten zur Kenntnis nehmen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen! Dann werden wir auch die richtige Politik machen. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Als Nächstes Herr Dr. Lederer!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe zu, es gab in diesem Sommer einen Moment, in dem ich mir verwundert und voller Erstaunen die Augen gerieben habe. Das war der Moment, als die Bundesregierung angesichts Tausender in Budapest gestrandeter geflüchteter Menschen entschied, die Grenzen zu öffnen und diese Menschen willkommen zu heißen. Dieser Moment hatte etwas Befreiendes, nicht nur für die Menschen auf der Flucht, denen die Hand gereicht wurde. Er war befreiend auch und vor allem für die Menschen hier, die

täglich machtlos die Nachrichten verfolgten, die die Bilder sahen von ertrunkenen Kindern am Strand und von prügelnden Polizisten an Stacheldrahtzäunen. Es war der Moment, in dem die seit Wochen laufende Welle der Unterstützung, der spontanen und von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern selbst organisierten Hilfe endlich auf der politischen Ebene eine Entsprechung fand.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

„Wir helfen“ und „Wir schaffen das!“, hieß es plötzlich. Und einen kurzen Augenblick schien es, als könnte sich die Politik hierzulande zu einem freundlichen Gesicht durchringen. Einen Moment schien es also, als würde sich die Politik endlich auf ein ähnliches Level begeben wie die vielen Ehrenamtlichen tagtäglich.

Doch dieser Moment war schnell vorüber. Beginnend mit Bayern fanden Woche für Woche immer mehr Herren der Union, dass sich wohl eher die Bundeskanzlerin für ihr freundliches Gesicht entschuldigen sollte. Nicht erst gestern mit dem offenen Brief an Frau Merkel ist diese verbissene Kleingeistigkeit auch wieder in Berlin angekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal in einer Rede positiv Bezug auf Angela Merkel nehmen würde und dass ich sie vor den Dreggers dieser Welt in Schutz nehmen muss.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Und Herr Dregger, wenn Sie so überrascht waren, wie Sie es eben hier dargestellt haben, dann wäre es vielleicht ganz schlau gewesen, Sie hätten im Jahr 2012 mal der Rede Ihres Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit zugehört, als wir hier über Lampedusa geredet haben. Da hat der genau das gesagt, was Sie jetzt zum ersten Mal zur Kenntnis genommen haben wollen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Aber ja, es geht dieser Tage um unsere Grundwerte. Es geht um die Verteidigung des Menschenrechts auf Asyl. Und da war in den Tagen einiges aus dem Senat zu hören, wozu ich hier gern eine Klarstellung hätte. Nun ist der Regierende Bürgermeister heute entschuldigt. Aber das hätte ich erwartet, dass da auch mal eine deutliche Erklärung vom Regierenden Bürgermeister kommt. Denn auch in der SPD wird ja jetzt in dieses Horn gestoßen; nachdem Gabriel noch markig vom „Pack“ sprach, dem entgegenzutreten sei, knickt er jetzt davor ein. Und SPDFraktionschef Oppermann fordert die Kanzlerin in ultimativem Ton zur Überlastungsanzeige auf. Von CSU bis SPD verschärft sich der Ton. Ständig hören wir nun die Frage, ob Geflüchtete unser Grundgesetz akzeptieren, ob sie überhaupt unsere Werte teilen würden. Besonderer Treppenwitz an der Geschichte ist, dass solche Briefe dann ausgerechnet diejenigen unterschrieben haben, die vor einem halben Jahr nichts Besseres zu tun hatten, als hier gegen die Ehe für alle zu kämpfen. Die fordern jetzt

plötzlich den Schutz vor der Diskriminierung sexueller Minderheiten ein.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Herr Simon, Herr Juhnke, Herr Rissmann! Das ist eine Heuchelei sondergleichen. Schämen Sie sich dafür! Und Herr Henkel! Ich frage mich eigentlich, warum Sie den Brief nicht unterschrieben haben. Wussten Sie das eigentlich, was Ihre Parteikollegen der Bundeskanzlerin da mitteilen?

Den Geflüchteten aus Syrien und dem Irak wird gleichsam pauschal unterstellt, sie seien eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Dazu gesellt sich dann der Hinweis, dass die Stimmung in der Bevölkerung bald zu kippen drohe. Ich sage Ihnen mal Folgendes: Je öfter politisch Verantwortliche das Kippen der Stimmung beschwören, je öfter sie – wie Herr Dregger – fabulieren, die Belastungsgrenze sei bald erreicht, desto trüber wird die Stimmung in unserem Land werden.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Das bedient nämlich genau die Ressentiments, mit denen PEGIDA, BÄRGIDA und die sogenannten besorgten Bürger auf der Straße gegen Geflüchtete hetzen.

Und, Herr Dregger, Sie behaupten ja von sich, Sie seien ein Christ. Ich finde das unerträglich, was Sie hier erzählen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wenn in diesem Land irgendjemand an eine Belastungsgrenze geht, dann sind das die Tausend Ehrenamtlichen, dann sind das die Beschäftigten im LAGeSo, die seit vielen Monaten auf personelle Unterstützung warten, dann sind das auch die Polizistinnen und Polizisten, die nach wie vor völlig sinnlos Anzeigen wegen illegalen Grenzübertritts schreiben müssen, wenn Geflüchtete sich zur Registrierung bei ihnen melden. Fangen Sie doch endlich mal an, diesen ganzen bürokratischen Unsinn zu entrümpeln, bevor Sie von überschrittenen Belastungsgrenzen reden!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN – Beifall von Ole Kreins (SPD)]

Seit wie vielen Monaten, Herr Czaja, reden wir jetzt eigentlich von der Gesundheitskarte? Wo ist der Aufruf an die Beamten im Ruhestand, bei der Registrierung zu helfen? Ich freue mich ja, dass Herr Glietsch bei uns ist. Aber es gibt sicherlich noch mehr fähige Beamtinnen und Beamte, die anpacken würden. Man müsste sie nur einfach mal fragen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Aber statt den Geflüchteten zu helfen, beschäftigt den halben Senat die Frage, wie man sie schnell wieder loswird. Die zweifelhafte Asylrechtsverschärfung der ganz großen Koalition – bedauerlicherweise inklusive der Grünen – nach dem Flüchtlingsgipfel reicht denen nicht.

[Benedikt Lux (GRÜNE): Abwarten!]

Czaja, Henkel und Heilmann sind in einen Schäbigkeitswettbewerb der rechtspopulistischen Parolen eingetreten.

[Martin Delius (PIRATEN): Ha!]

Mario Czaja spricht von „organisierten Bearbeitungsstraßen“. Das klingt nach industrieller Abfertigung, nicht nach individueller Prüfung des Schicksals jedes einzelnen Menschen. Diesen Zynismus finde ich abstoßend.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Die Menschen ordentlich unterzubringen, sie medizinisch zu versorgen und sie wenigstens halbwegs zügig zu registrieren, das kriegt ihr nicht auf die Reihe, aber beim Abschieben wird auf dicke Hose gemacht. Frank Henkel kümmert sich nur um Abschiebungen und ist auch noch ganz stolz darauf. Er lässt Kinder aus dem Schulunterricht abholen – – Ordnen Sie gerade wieder eine Abschiebung an, Herr Henkel?

[Sven Rissmann (CDU): Hoffentlich!]

Oder hören Sie mir mal zu? – Er lässt Kinder aus dem Schulunterricht abholen. Geflüchtete teilt er in gut und schlecht ein und will sie in getrennte Sammelunterkünfte stecken. Für die Integration tut er nichts. Noch immer ist die Hälfte der Geduldeten in Berlin mit einem Arbeitsverbot belegt. Noch immer kriegen die allermeisten ein Verbot zur Aufnahme eines Studiums in ihre Papiere gestempelt. Herr Henkel! Wenn Sie Mitglied der Bundesregierung wären, ich glaube, Frau Merkel hätte Ihnen längst die Zuständigkeit entzogen oder vielleicht sogar schon das Vertrauen ausgesprochen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf von Andreas Gram (CDU)]

Und Thomas Heilmanns Vorschläge sind in der Tat ein Katalog des Grauens. Ausreisepflichtige will er mittellos auf die Straße schicken, Sondergerichte sollen Klagen gegen abgelehnte Asylanträge im Schnellverfahren abweisen. Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten sollen auf Truppenübungsplätzen untergebracht, das Verlassen der Unterkünfte verboten werden. Menschen, die es dann trotzdem tun, denen will er das Menschenrecht auf Asyl entziehen. Das ist grob verfassungswidrig, aber für schmutzige PR allemal gut genug.

[Burkard Dregger (CDU): Na, klar!]

Senator Heilmann ist der Meinung, dass Geflüchtete in medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung ihre Erkrankung oder ihr Trauma nur vortäuschen, um ihrer Abschiebung zu entgehen. Er unterstellt auch, dass viele Ärzte und Therapeuten den Behörden dabei helfen,

die Behörden zu betrügen. Ich sage Ihnen mal was: Wer Artikel 1 des Grundgesetzes zu opfern bereit ist, wenn es um geflüchtete Menschen geht, der soll mir nichts von den Werten des Grundgesetzes erzählen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]