Protokoll der Sitzung vom 08.10.2015

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Das Land Berlin muss sich jetzt entscheiden: Wollen wir Willkommenskultur, eine Politik für Menschen in Not, eine Politik der Hilfe und Solidarität, wie sie von den Berlinerinnen und Berlinern jeden Tag ganz selbstverständlich praktiziert wird? Oder wollen Sie eine Politik für den Stammtisch? – Unsere Entscheidung hier ist ganz klar: Wir können diese Herausforderungen meistern, und wir wollen sie meistern. Die Menschen in unserer Stadt machen es uns jeden Tag vor.

[Zuruf von Stefan Evers (CDU)]

Ja, es liegen große Anstrengungen vor uns. Ja, es wird auch Zeit kosten. Und auch: Ja, es wird nicht alles problemlos und konfliktfrei laufen. Aber es macht den Unterschied, ob wir sagen, wir können das gemeinsam schaffen, oder ob die Politik selbst noch die Ängste und Sorgen schürt und befeuert. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, den vorhandenen Ängsten der Berlinerinnen und Berliner zu begegnen, nicht, Herr Dregger, indem wir den Rassisten nach dem Mund reden. Die politisch Verantwortlichen müssen sich der Hetze vom rechten Rand entgegenstellen, auch wenn der Wind mal etwas stärker weht.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Und dann müssen wir deutlich machen: Nein, wir lassen es nicht zu, dass etwa Menschen mit geringem Einkommen gegen Flüchtlinge ausgespielt werden. Wer glaubt denn ernsthaft, dass es den Ärmsten in der Gesellschaft besser ginge, dass mehr Kitaplätze entstünden, dass alle gute Arbeit hätten, wenn wir keine Flüchtlinge aufnehmen würden? Statt Abschreckung und Ausgrenzung zu predigen, muss endlich angepackt werden, müssen die vielen Willkommensinitiativen in unserer Stadt unterstützt werden. Ihre warmen Grüße hier im Haus sind wohlfeil, Herr Henkel!

Dabei geht es zunächst um die menschenwürdige Unterbringung. Aber es geht um mehr. Es geht um den Empfang von Flüchtlingskindern in Kitas und Schulen. Es geht um Perspektiven in Arbeit und Ausbildung. Es geht um eine gute Gesundheitsversorgung. Und es geht um die Unterbringung in den Nachbarschaften, was gleichzeitig dazu beiträgt, Ängste abzubauen. Es geht darum, Menschen an den Entwicklungen um sie herum zu beteiligen, Armut und Perspektivlosigkeit zu bekämpfen. Frau Merkel hat gestern im Europäischen Parlament ganz klar Haltung bezogen. Ich wünschte mir, dass diese Erkenntnis nicht nur in Europa gilt, sondern vor allem für die CDU in Deutschland und in Berlin. Denn wir und viele Menschen in unserer Stadt sagen es klar und deutlich:

Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, die sich abschottet, in der Menschen wegen ihrer Herkunft stigmatisiert und ausgegrenzt werden, in der Nazis Flüchtlingsunterkünfte abfackeln und die Politik vor dem Mob zurückweicht.

[Beifall von Katrin Möller (LINKE)]

Es geht kurz gesagt zuallererst um eine Haltungsfrage. Es geht um unsere Haltung zu dieser Frage. Wir müssen Mut machen, statt Ängste zu schüren. Und wenn Sie, meine Damen und Herren hier im Senat, insbesondere die drei zitierten Herren, das nicht hinbekommen, wenn es Sie überfordert, Stammtischparolen auch in Ihrer eigenen Partei entgegenzutreten, und Sie deshalb lieber mit einstimmen: Nun, niemand ist gezwungen, ein Amt auszuüben, dem er nicht gewachsen ist. – Vielen Dank!

[Anhaltender Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN – Beifall von Ole Kreins (SPD) – Zuruf von Stefan Evers (CDU)]

Bevor jetzt Herr Senator Henkel für den Senat das Wort erteilt bekommt, will ich noch einmal darauf hinweisen: Die Ungestörtheit hier am Rednerpult gilt für alle, und es darf auch nie wieder so etwas vorkommen, Kollege Taş. Ich hoffe, das gilt dann auch für die Zukunft, wir müssen da nicht mehr extra darauf aufmerksam machen.

[Zuruf von Stefan Gelbhaar (GRÜNE)]

Die Geschäftsordnung lässt genug Möglichkeiten der Zwischenfrage, Zwischenbemerkungen und Ähnlichem zu, um sich mit dem Redner oder der Rednerin auseinanderzusetzen.

[Dr. Klaus Lederer (LINKE): Das ist ja ekelhaft!]

So, jetzt hat Herr Senator Henkel das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt fünf Tage her, es war am vergangenen Samstag, dass wir den 25. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert haben.

[Christopher Lauer (PIRATEN): Falsche Rede!]

Ich war am Samstag in Frankfurt am Main. Ich hatte die große Ehre, die große Freude, bei diesem Jubiläum unsere Stadt zu vertreten.

[Heiko Herberg (PIRATEN): Thema verfehlt! – Stefan Gelbhaar (GRÜNE): Wir haben die andere Aktuelle Stunde genommen!]

Berlin hat vom Zusammenwachsen so profitiert wie kaum ein anderer Ort in Deutschland. Wir können auf das stolz sein, was die Menschen in unserem Land in den letzten 25 Jahren geleistet haben. Wir können stolz sein darauf,

wie sich unsere Stadt zum Positiven verändert hat, wie weit wir gekommen sind, geeint, gemeinsam in Frieden und im Wohlstand.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Ülker Radziwill (SPD) und Karlheinz Nolte (SPD)]

Es war eine würdige Veranstaltung mit einem Bundespräsidenten, der eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Rede gehalten hat, der ein Gespür hatte für den richtigen Ton, den unser Land in diesen Tagen braucht.

Aber ich habe auch etwas anderes bemerkt bei den vielen Gesprächen innerhalb und außerhalb der Festveranstaltung. Die Stimmung war anders. Sie war nicht so gelöst wie am 9. November im vergangenen Jahr, etwa an der Lichtergrenze. Das heutige Deutschland hat nicht nur gefeiert, sondern war gedanklich auch bei den Problemen im Hier und Jetzt. Der Druck, unter dem unser Land in diesen Tagen im Angesicht der Flüchtlingskrise steht, ist gewaltig. Der massive Zustrom, der seit Anfang September noch einmal deutlich zugenommen hat, bringt Kommunen und Länder an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Und es ist gewaltig, was unser Land leistet. Und es ist gewaltig, was unser Land noch leisten muss.

Neue Jahresprognosen zu den Flüchtlingszahlen will keiner abgeben, aber es kursieren mittlerweile siebenstellige Zahlen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Opposition heute zeigt, dass sie die nationale Herausforderung von historischem Ausmaß anerkannt hat. Ihre parteipolitische Abrechnung eben lässt mich jedoch daran zweifeln, dass Sie die Dimension, vor der wir stehen, wenigstens im Ansatz begriffen haben.

[Beifall bei der CDU – Zuruf von Udo Wolf (LINKE)]

Dabei müssten Sie wissen, Sie könnten jedenfalls wissen, wie ernst die Lage ist, eben nicht nur hier in Berlin. Sie wissen, dass die Entwicklung so nicht ungebremst weitergehen kann. Frau Bayram! Ich frage Sie einfach einmal: Reden Sie doch einmal mit Herrn Kretschmann! Reden Sie mit ihm, vor welchen Herausforderungen Ihre Parteifreunde in Baden-Württemberg stehen – was Sie dort zu hören bekommen! Ich hatte am vergangenen Wochenende das große Vergnügen, mich einmal mit ihm auszutauschen. Reden Sie auch einmal mit Ihrem grünen Ministerpräsidenten!

[Beifall bei der CDU – Beifall von Karlheinz Nolte (SPD) und Robert Schaddach (SPD) – Zuruf von Udo Wolf (LINKE)]

Wenn Sie dies tun, dann werden Sie auch zu dem Ergebnis kommen, dass wirklich niemand auf diese Welle vorbereitet war,

[Andreas Gram (CDU): Die Piraten!]

(Dr. Klaus Lederer)

nicht beim BAMF, nicht in Bayern, nicht in NordrheinWestfalen, auch nicht wir hier in Berlin. Wir müssen vieles bewältigen, obwohl wir das Ende derzeit nicht absehen können, obwohl es für vieles, was jetzt zu tun ist, gar keine Blaupause gibt. Das schaffen wir nur, wenn wir als Stadt zusammenstehen.

[Beifall bei der CDU]

Es gibt viele Berlinerinnen und Berliner, die helfen. Es gibt viele Berlinerinnen und Berliner, die spenden. Es gibt viele, die anpacken. Es gibt Polizisten, die Zelte aufbauen, Feuerwehrleute, die Essensrationen verteilen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insbesondere im LAGeSo und in der Ausländerbehörde, die bis zum Umfallen arbeiten. Das ist gelebte Willkommenskultur, auch von der Verwaltung. Und das lassen wir uns nicht von Ihnen kaputtreden.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Zuruf von Oliver Höfinghoff (PIRATEN)]

Wir haben bislang viel improvisiert. Jetzt geht es darum, das Verwaltungshandeln zu stabilisieren. Da sind wir vorangekommen. Wir haben mit dem landesweiten Koordinierungsstab mittlerweile funktionierende Stabsstrukturen, die es uns erlauben, etwas vor die Lage zu kommen. Ich denke, den beiden zuständigen Staatssekretären Herrn Gerstle und Herrn Glietsch, die mit dieser enormen Last beeindruckend umgehen, die mit ihren Stäben unermüdlich daran arbeiten, die vielen Probleme zu lösen, ihnen gilt der Dank genauso wie den vielen Ehrenamtlichen.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Zurufe von der LINKEN]

Ihnen gilt deshalb der Dank, weil es keine Verschnaufpause geben wird. Es kommen jeden Tag neue Busse. Es kommen jeden Tag neue Züge. Es gibt keinen Punkt, an dem wir sagen: Jetzt können wir die Lage mal etwas abarbeiten. – Vor allem Unterbringung und Registrierung müssen funktionieren. Darauf kommt es dem Senat an. Wir wollen und müssen dafür sorgen, dass jeder ein Dach über dem Kopf hat, und das ist jeden Tag ein Kraftakt, aber wir stellen uns dieser Verantwortung gerade auch mit Blick auf den nahenden Winter.

Es geht jetzt nicht mehr um die kleinen Lösungen. Es geht um Großprojekte wie Tempelhof, ICC, Messehallen mit enormen Herausforderungen für Logistik und Sicherheit. Wir reden hier von Unterkünften für mehrere Tausend Menschen mit allen sozialen Spannungen und Problemen, die sich daraus ergeben können. Hier macht der Kollege Czaja, der von Ihnen so gescholtene, wie ich finde, einen hervorragenden Job.

[Beifall bei der CDU]

Ich bezweifle, vor allem auch vor dem Hintergrund des eben Gehörten, dass Sie auch nur ansatzweise das leisten könnten, was er leistet. Herr Dregger hat das Beispiel der Gerhart-Hauptmann-Schule schon genannt. Ich bin fest

davon überzeugt, dass Senator Czaja mit seiner Arbeit mehr für die Willkommenskultur in unserer Stadt getan hat als Sie mit all Ihren Sonntagsreden.

[Beifall bei der CDU – Zuruf von Uwe Doering (LINKE)]

Bei allen Gedanken, die wir auf die Unterbringung verwenden, dürfen wir nicht vergessen, wozu das Asylrecht überhaupt da ist, auf das sich derzeit so viele berufen. Das Asylrecht hat einen klaren Zweck. Unser Asylrecht soll diejenigen schützen, die vor politischer Verfolgung fliehen, nicht diejenigen, die sich hier ein besseres Leben erwarten. Ich werfe niemandem diesen Wunsch vor, damit das klar ist, aber dazu ist das Asylrecht nicht da. Dazu ist es nicht geeignet.

[Beifall bei der CDU]

Ich sage Ihnen auch, was wir in Deutschland können und was nicht. Wir können verfolgten Menschen Schutz bieten, aber nicht allen Menschen eine neue Heimat. Ich verstehe nicht, warum Sie in Ihrer Aktuellen Stunde hier einen Gegensatz zwischen Willkommenskultur und Abschiebung herstellen.

[Oliver Höfinghoff (PIRATEN): Das ist Teil des Problems!]

Den gibt es nicht, denn beides gehört zusammen. Das gehört zum System. Wessen Antrag abgelehnt wird, wer nicht bleiben kann, der muss unser Land auch wieder verlassen.

[Beifall bei der CDU – Beifall von Renate Harant (SPD)]

Ich weiß, das wollen Sie nicht hören. Frau Bayram hat es am Montag im Innenausschuss noch mal auf den Punkt gebracht. Sie hat ganz offen gesagt: Die Grünen wollen, dass möglichst alle ein Bleiberecht bekommen. – Aber das kann und wird nicht funktionieren. Sie werden die Menschen in unserem Land nur für eine Willkommenskultur gewinnen, wenn Sie gleichzeitig dafür sorgen, dass abgelehnte Asylbewerber wieder gehen. Dass nicht alle, die unsere Grenze überqueren, dauerhaft bleiben, das ist eine Wahrheit, die auch Sie akzeptieren müssen. Selbst Ihre Landesvorsitzende, Frau Bayram, Frau Jarasch fordert mittlerweile effizientere Abschiebungen.