Protokoll der Sitzung vom 12.11.2015

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Und jede und jeder in dieser Stadt muss seine Chance auf angemessenen Wohnraum haben. Wir lassen nicht zu, dass die Menschen in Berlin gegeneinander ausgespielt werden: die Rentnerin gegen den Studenten, der Flüchtling gegen die alleinerziehende Mutter. Sie alle beanspruchen zu Recht ihren Platz in Berlin.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU und den PIRATEN]

Berlin und auch die anderen Bundesländer bemühen sich zurzeit um pragmatische Lösungen. Doch auf Bundesebene herrscht ein unsägliches Chaos. Die Bearbeitung von Asylanträgen dauert immer noch viel zu lange. Zugleich werden fast jede Woche neue politische Ideen von Regierungsvertretern in die Öffentlichkeit hinausposaunt. Der Tiefpunkt der Debatte ist der Versuch, den Familiennachzug von syrischen Flüchtlingen zu begrenzen. Es ist klar, auf Dauer ist eine Situation, wie wir sie im Moment erleben, nicht tragbar. Natürlich ist Deutschland nicht unbegrenzt belastbar. Aber mit denjenigen, die bereits hier sind, muss man respektvoll umgehen. Beim Familiennachzug anzusetzen, ist der falscheste aller Wege!

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Das ist unmenschlich. Es bedeutet, dass Frauen und Kinder im Kriegsgebiet bleiben sollen. Oder meint der Bundesinnenminister, dass jetzt tausendfach Frauen und Kinder über die gefährliche Balkanroute kommen sollen? Eine Begrenzung des Familiennachzugs ist aber auch völlig kontraproduktiv. Denn wenn man Familien zerreißt, dann kann keine Integration gelingen. Deshalb schafft diese Idee Unsicherheit und Angst. So schadet man der Integration in Deutschland. Daher ist die Idee abzulehnen!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Solche Debatten zeigen, dass es einen inneren Konflikt in der Union gibt. Die CSU steht dem Rechtspopulisten Viktor Orbán näher als der eigenen Kanzlerin. Auch die CDU-Minister Schäuble und de Maizière gehen auf Distanz zur Kanzlerin. Und die CDU-Bundestagsfraktion stellt sich gegen die Haltung der Kanzlerin. Dieser Konflikt ist in solch einer angespannten Lage unerträglich. Die Union steht auf der Bundesebene am Rande der Regierungsfähigkeit. Meine Hoffnung ist, dass die Berliner CDU sich nicht weiter in diesen Sog hineinbegibt, dass wir weiter sachlich und pragmatisch arbeiten. Mit Paro

len und Scheinlösungen ist in Berlin niemandem geholfen. Stattdessen müssen und werden wir weiter unsere Hausaufgaben machen und diese Situation so gut wie möglich meistern – miteinander und nicht gegeneinander. Bitte bleiben Sie auf diesem Weg! Gerade in Ihren Ressorts und Verantwortungsbereichen ist doch so viel zu tun. Konzentrieren Sie sich lieber darauf!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Auf Bundesebene erleben wir politische Geisterfahrer. Doch auch die europäische Politik ist Teil des Problems. Europa droht an der Flüchtlingskrise zu scheitern. Deutschland ist mittlerweile fast das letzte Land mit einer liberalen Flüchtlingspolitik. Wenn es nicht mehr zu mehr Gemeinsamkeiten innerhalb der EU kommt, dann ist klar, das europäische Projekt der gemeinsamen Lasten und der Solidarität steht vor dem Aus. Zugleich ist die Flüchtlingskrise die Quittung für eine misslungene Politik der Weltgemeinschaft in den letzten 15 Jahren.

[Beifall von Burgunde Grosse (SPD)]

Wir haben nach 2001 Interventionen in Afghanistan, dem Irak und in Libyen erlebt. Aber es hat kaum oder gar keine politischen Lösungen gegeben. Das Vakuum, das nach den Interventionen und nach dem Arabischen Frühling entstanden ist, haben radikale Kräfte für sich genutzt.

[Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Deshalb sind Afghanistan und der Irak natürlich keine sicheren Drittstaaten. Wer ernsthaft so tut, als wenn Afghanistan ein sicherer Drittstaat wäre, der macht der Bevölkerung etwas vor.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Wir müssen uns doch nicht wundern, wenn sich Menschen auf den Weg zu uns machen. Früher schien der Krieg in Syrien weit entfernt, nun sind die syrischen Kriegsflüchtlinge Teil unserer Lebenswirklichkeit in Berlin. Genau diese Zusammenhänge müssen wir den Menschen erklären. Wir müssen als Politik den Mut haben, auch in Kleingärten, auch in Vereinshäusern zu erklären, wie kompliziert diese Welt ist und dass Deutschland keine Insel ist.

Integration beginnt, wenn die Leute ihre Koffer auspacken. Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Als die Gastarbeiter zu uns kamen, da glaubten viele noch, dass sie Gäste bleiben würden. Aber es sind Deutsche geworden. Die Aussage, dass die Leute schon bald wieder zurückkehren, war eine Lebenslüge. Und diese Lebenslüge dürfen wir nicht wiederholen. Viele Flüchtlinge werden bei uns bleiben. Sie sollen zu gleichberechtigten Berlinerinnen und Berlinern werden. Sie sollen teilhaben an unserer Wirtschaft, an unserer Kultur und an unserer Demokratie. Dafür brauchen wir

mehr als nur eine Willkommenskultur. Wir müssen dafür sorgen, dass sich Berlin für die, die hier sind, weiter wie eine Heimat anfühlt und dass Berlin für die, die zu uns kommen, zu einer Heimat wird.

Wie kann das gelingen? – Ich glaube, dass wir einen neuen Verständigungsprozess über das Gemeinsame, das Verbindende brauchen, eine Debatte über eine neue deutsche Leitkultur. Die Diskussion über die Leitkultur müssen wir gemeinsam führen, die Alteingesessenen und die Zugezogenen. So können wir Ängste abbauen, auf beiden Seiten. Eine Leitkultur heißt, wir stehen auf dem Boden des Grundgesetzes, alle gemeinsam. Rechtsstaatlichkeit und Schulpflicht, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Verbot der Diskriminierung von Minderheiten, Religionsfreiheit statt Staatsreligion, das sind Selbstverständlichkeiten. Wer sie nicht achtet, schließt sich aus der Gemeinschaft aus.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Unsere Werte gehen aber über die Rechte des Grundgesetzes hinaus. Wir stehen für harte Arbeit und soziale Sicherheit. Wir stehen ein für die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Und wir lassen auch nicht zu, dass diese Gleichberechtigung mit Verweis auf angebliche kulturelle Unterschiede beschränkt wird. Wir stehen ein für die gewaltfreie Erziehung. Zu unserer Leitkultur gehört auch, dass wir die Mitte unserer Gesellschaft stark machen, dass wir nach politischem Konsens suchen und dass wir Extremismus ablehnen, egal ob Rechtsextremismus, Linksextremismus, religiösen Extremismus oder Antisemitismus. Extremismus hat bei uns in Berlin keinen Platz!

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Denn genau weil wir eine Demokratie sind, genau weil wir alle die Werte einer offenen Gesellschaft leben und teilen, deshalb fliehen die Menschen zu uns. Sie wollen nicht nach Saudi-Arabien oder nach Katar; sie wollen in Freiheit leben. Sie wünschen sich ein Leben in unserer Wertegemeinschaft. Das kann uns stolz machen und selbstbewusst. Es heißt aber auch, dass unsere Werte und unserer Kultur stärker werden und nicht schwächer, wie manche behaupten. Genau das müssen wir als Politik der Bevölkerung immer wieder erklären, erklären, erklären. Wir müssen das Gespräch mit den Berlinerinnen und Berlinern suchen, überall in der Stadt, auch an den Stammtischen. Und wir müssen, auch wenn es schwerfällt, jeden Tag neu für die Werte der Menschlichkeit, der Demokratie und der offenen Gesellschaft werben, anstatt Ängste zu schüren und Vorurteile zu verbreiten. Das ist unsere Aufgabe in dieser Zeit.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Beifall von Udo Wolf (LINKE) und Harald Wolf (LINKE)]

PEGIDA, AfD und andere Rechte sind die rhetorischen Brandstifter in unserer Republik. Die Gewalt der Worte schafft die Grundlage für einen neuen rechten Terror. Mittlerweile müssen wir erleben, dass Flüchtlingshelfer angegriffen werden, dass – wie in dieser Woche – auf ein Flüchtlingsheim geschossen wird. Journalisten werden von Rechtsextremen angegriffen, hier bei uns in unserer Hauptstadt. Vor den Wahlkreisbüros unserer Abgeordneten randalieren Nazis und bedrohen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. All das sind Angriffe auf unsere Werte, all das sind Angriffe auf unsere Kultur. Und all das sind Angriffe auf unsere Demokratie und damit auf uns alle!

[Allgemeiner Beifall]

Diesem neuen rechten Terror, dem Terror der Worte und dem Terror der Gewalt, müssen wir uns gemeinsam mit der Zivilgesellschaft entgegenstellen. Wir stehen zusammen für Freiheit, gesellschaftlichen Frieden, Vielfalt und Demokratie. Wir als Politikerinnen und Politiker tragen Verantwortung dafür, dass sich unsere Gesellschaft nicht spalten lässt, dass wir wirklich unsere deutsche Einheit, die Einheit von Ost und West, von Arm und Reich, von Migranten und Nichtmigranten, dass wir diese Einheit gemeinsam schaffen – mit Sachlichkeit, mit Augenmaß und mit entschlossenem Handeln. Mit einer Gemeinsamkeit über Parteigrenzen hinweg werden wir die Integration in eine starke deutsche Gesellschaft meistern. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der LINKEN]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Herr Udo Wolf das Wort. – Bitte schön, Herr Wolf!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister! Das war eine sehr bemerkenswerte Regierungserklärung. Und ich möchte Ihnen ganz herzlich dafür danken.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Wir hatten, um ehrlich zu sein, eine solche Regierungserklärung schon zum Flüchtlingsgipfel erwartet und auch gefordert – jetzt also heute. Ich frage Sie: Warum eigentlich so spät? Wieso nicht nach der Sommerpause, als die Kanzlerin gesagt hat „Wir schaffen das!“ und die Vertreter Ihrer Koalition artig und überschwänglich und völlig zu Recht das große Engagement der vielen Ehrenamtlichen in Berlin gelobt haben, wohl wissend, dass ohne dieses ehrenamtliche Engagement das Versagen des Senats bei der Erstversorgung und Unterbringung der Flüchtlinge nur noch dramatischer gewesen wäre?

(Raed Saleh)

Und vor einem Monat, Herr Müller, haben Sie dann den Innensenator reden lassen. Der hat bei allen politischen Fragen zur Flüchtlingspolitik exakt das Gegenteil von dem erzählt, was Sie heute hier gesagt haben.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Da konnte eben jeder feststellen, der zugehört hat, die Berliner CDU ist eben weder guten Willens, noch will sie es schaffen. Sie setzt voll und ganz auf die Seehofer-deMaizière-Linie, und das heißt abschrecken, abschotten, abschieben. Das, lieber Herr Müller, haben Sie heute auch noch mal sehr deutlich gemacht, dass Sie inhaltlich die Koalition mit der Berliner CDU gekündigt haben.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Sie haben außerdem dem für Flüchtlingspolitik, die Unterbringung und medizinische Versorgung zuständigen Senator eine Rücktrittsaufforderung erster Klasse unterbreitet. Das konnte hier heute jeder hören. Manches wird aus den CDU-Bänken auch schon getwittert. Das ist wirklich sehr bemerkenswert.

Bei allen Differenzen, die wir im Einzelnen, was Maßnahmen in Berlin angeht, bei der Unterbringung und was die Beurteilung der Probleme, wie sie entstanden sind und mit welchem Plan sie gelöst werden können, haben, können Sie sicher sein, wenn Sie bei der Linie bleiben, die Sie im ersten Teil Ihrer Rede zu wissen gegeben haben, dass Sie uns auf Ihrer Seite haben, weil wir gemeinsam gegen Rassismus und Ausgrenzung und für eine vernünftige Integration von Flüchtlingen streiten müssen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Ich glaube, dass Sie heute so offene Worte gefunden haben, weil Sie auch selbst festgestellt haben, dass die Situation der Geflüchteten in Berlin trotz mancher Ankündigung nicht wirklich besser geworden ist. Ausflüchte der Verantwortlichen gab und gibt es viele. Dieser Senat hat mehrfach dokumentiert, dass er sich nicht einig ist. Er blockiert sich selbst mit Unwillen, Unfähigkeit, Neid und Missgunst zwischen den Ressorts. Eine gemeinsame Strategie, die das „Wir schaffen das“ und „Wir haben dafür einen Plan“ Wirklichkeit werden lässt, war bisher nicht erkennbar.

Dann ist es auch kein Wunder, wenn die positive Stimmung in der Stadt bröckelt. Die Forsa-Umfrage von vor zehn Tagen war sehr erhellend. Die Berlinerinnen und Berliner haben in ihren Bezirken zu über 90 Prozent kein Problem mit Flüchtlingen, ein wunderbarer Befund. 47 Prozent haben sie in ihrem Lebensumfeld noch gar nicht bemerkt. 45 Prozent haben sie bemerkt, aber kein Problem mit ihnen. Nur ganze 7 Prozent haben sie bemerkt und ein Problem mit ihnen. Gleichzeitig haben wir erstmals eine knappe Mehrheit, die glaubt, dass Deutschland mit den zu erwartenden Flüchtlingen überfordert ist. Bei allen selbstkritischen Worten, die Sie gefunden ha

ben, muss man feststellen: Das ist nicht die Schuld der Flüchtlinge, wenn die Stimmung kippt. Das ist die Schuld der Bundesregierung und auch das Versagen dieses Senats.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Es sind das organisatorische Chaos, die bewusst und unbewusst produzierten Bilder des Ansturms, die Dokumentation der staatlichen Überforderung, die Bilder von Massenunterkünften mit miserablen Standards – und wir müssen weiter über Standards reden –,

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Martin Delius (PIRATEN)]

die Krisen-und-Überforderungsrhetorik aus CSU, CDU und SPD, die den Leuten, die in ihrem Alltag praktisch kein Problem mit der Aufnahme von Flüchtlingen haben, Angst einreden. Und es sind die Diskussionen über Sicherheitsprobleme, Krankheiten und mögliche zusätzliche Steuern, die den Leuten Sorgen bereiten und den PEGIDA-Mob befeuern.

Sie haben es selbst angedeutet und teilweise ganz offen ausgesprochen: Der Berliner CDU-Senatoren mischen da fleißig mit. Kaum ist Herrn Heilmanns Tirade auf die angeblich betrügerischen Ärzte und Therapeuten, die Abschiebungen verhindern, verklungen, macht Henkel beim Angriff auf die Familienzusammenführung mit. Ausgerechnet Herr Henkel, der als Konservativer nicht müde wird, den besonderen Schutz von Ehe und Familie im Grundgesetz zu betonen,

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

gerade dieser Herr Henkel will nun die syrischen Familien auseinanderreißen. Der eine Teil der Familie darf hier in Deutschland sein, der andere Teil muss entweder im Kriegsgebiet bleiben oder sich auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer begeben. Syrische Familien sollen also vom Schutz des Grundgesetzes ausgenommen werden. Das ist wirklich an Zynismus nicht zu überbieten.