Protokoll der Sitzung vom 12.11.2015

gerade dieser Herr Henkel will nun die syrischen Familien auseinanderreißen. Der eine Teil der Familie darf hier in Deutschland sein, der andere Teil muss entweder im Kriegsgebiet bleiben oder sich auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer begeben. Syrische Familien sollen also vom Schutz des Grundgesetzes ausgenommen werden. Das ist wirklich an Zynismus nicht zu überbieten.

Das wohl größte Problem, mit dem wir es derzeit in Berlin zu tun haben, ist: Es wird nicht wirklich Mut gemacht. Es wird den Leuten nicht die Angst genommen. Es werden Scheinlösungen präsentiert. Ja, Herr Müller, Sie haben es eben selbst erklärt, Geld für Länder und Kommunen wird mit einer schlimmen Verschärfung des Asylrechts verkauft. Es wird suggeriert, damit könne der Flüchtlingszuzug begrenzt werden. Die Ausweitung der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, die Abschreckungswirkung von Sachleistungen statt Bargeld, schnellere Abschiebungen, Verschärfung der Residenzpflicht – ja, glaubt denn hier wirklich irgendwer, das würde dazu führen, dass sich Flüchtlinge sagen, ach nein, dann doch lieber nicht flüchten? Sie wissen, dass das Unsinn ist.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Es gibt dadurch nicht weniger Flüchtlinge, sie werden nur noch mehr gequält – durch Schikanen, bürokratische Hürden, letztendlich längere Verfahren. Mit humanitärer Flüchtlingspolitik hat das nichts mehr zu tun. Warum nur, Herr Müller, haben Sie diesem schäbigen Deal im Bundesrat zugestimmt? Ich verstehe es nicht.

[Beifall bei der LINKEN]

Und schon wird an der nächsten Umdrehung gebastelt. Jetzt wird es mit Aufnahmezentren und einem eingeschränkten Familiennachzug versucht. Auch Asylbewerbern will man für Integrationskurse Geld abknöpfen. Es werden sogar Beschränkungen für Syrer und Afghanen gefordert, und damit wird bewusst in Kauf genommen, dass Menschen in Kriegsgebieten um ihr Leben fürchten müssen. Der Kollege Saleh hat darauf hingewiesen. Sie wissen, diese ganzen Grausamkeiten werden nichts helfen, sie führen nur zur Verlängerung der Asylverfahren. Sie führen dazu, dass die Menschen, die hier ankommen, immer schlechter behandelt werden. Dass ihnen die Ankunft und das Leben in Deutschland so schwer wie möglich gemacht werden, das ist in einem so reichen und großen Land wie Deutschland unwürdig, einem Land, das eine besondere historische Verantwortung bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen hat.

Auch die Forderung nach einer Begrenzung der Flüchtlingszahl auf bestimmte Kontingente ist einigermaßen abenteuerlich, auch wenn es als Einzelmeinung aus meiner eigenen Partei unterstützt wird. Erstens: Es ist verfassungswidrig. Unser Grundrecht auf Asyl kennt aus gutem Grund keine Obergrenze. Und zweitens: Wie soll das funktionieren? Was passiert mit den restlichen Flüchtlingen, wenn die Obergrenze erreicht ist? Denken Sie das mal zu Ende! Sollen die dann sterben?

Wir sagen es immer wieder: Wer Flucht vermeiden will, muss Fluchtursachen bekämpfen. Der Bundeswirtschaftsminister hat im laufenden Jahr mehr Rüstungsexporte genehmigt als in den Vorjahren. Das ist doch absurd. TTIP wird durchgepeitscht und voraussichtlich noch einige Armutsflüchtlinge mehr produzieren. Man muss sich nicht wundern, wenn man den Ländern an den EU-Außengrenzen durch die Troika brutale Austeritätsprogramme aufzwingt, dass die dann ein Interesse daran haben, dass die Flüchtlinge schnellstmöglich nach Deutschland durchgewinkt werden.

Herr Regierender Bürgermeister! Keiner hier im Saal leugnet, dass es sich um eine besondere Herausforderung handelt, aktuell die steigende Zahl von Flüchtlingen unterzubringen, insbesondere wenn man zwei Jahre verschlafen hat. Und Ihre Überraschung – ich habe es Ihnen in der Aktuellen Stunde nach der Sommerpause schon erklärt, ab 2012 haben wir die Debatte permanent gehabt, auf was man sich vorbereiten muss, und es ist nichts

passiert, das gehört mit zur Wahrheit dazu. Aber es ist ja auch jetzt keine unlösbare Aufgabe und kein Hexenwerk. Sie haben die Zahl selbst genannt: Es sind im laufenden Jahr ca. 56 000 Flüchtlinge nach Berlin gekommen. Das sind weniger Menschen als beim ausverkauften Heimspiel von Hertha. Vor Kurzem wollten Sie noch die Olympischen Spiele nach Berlin holen, mit zweistelligem Milliardenrisiko und einem vielfach größeren organisatorischen, logistischen Aufwand.

[Zuruf von Dr. Manuel Heide (CDU)]

Ich bitte Sie, es muss doch möglich sein, diese Flüchtlinge vernünftig aufzunehmen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Ja, Sie haben es angesprochen, es braucht dazu mehr Personal im LAGeSo, vereinfachte, entbürokratisierte Verfahren, Flächen, Gebäude und einen vernünftigen Plan. Aber ein gemeinsamer Plan war bisher nicht erkennbar. Ich hoffe, dass das, was Sie jetzt vorgetragen haben, in einen Plan mündet, den man hier endlich ernsthaft, seriös und transparent diskutieren kann. Aber es war ja bisher immer noch so, und es ist die letzten Tage auch so gewesen: Im Senat kocht jeder sein eigenes Süppchen. Der eine macht dies, der andere macht das, der eine fordert dies, der andere fordert das Gegenteil.

Ich nenne nur das Beispiel der Polizeikaserne oder doch lieber das Beispiel der ILA, das Sie selbst angesprochen haben. Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie die Fraktionsvorsitzenden zur Telefonkonferenz eingeladen und uns gesagt haben, dass Sie sich mit Woidke einig sind, dass das ILA-Thema jetzt kein Thema ist und nicht weiter als Flüchtlingsunterkunft verfolgt wird? Zeitgleich hat Ihr Sozialsenator Brandenburg noch mal ultimativ aufgefordert, endlich diese Hallen zur Verfügung zu stellen. Dieses Zickzack, dieses Desorganisierte, diese Verantwortungslosigkeit im Senat – das gehört zum wesentlichen Problem und zum Chaos, das Sie hier verursacht haben.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Jetzt kommen wir zur Differenz in der konkreten Umsetzung. Worüber wir offen reden können: Es gibt mehrere Hundert Objekte oder Flächen in Bundes- oder Landeseigentum, die für Flüchtlingsunterbringung infrage kommen könnten. Unsere Anfragen danach können wir schon fast singen. Aber immer wieder hören wir dazu von der Verwaltung, was alles nicht geht, oder ganz vage Aussagen, dass man noch nicht so weit ist und prüfen muss usw.

Herr Czaja hat 2014 gesagt, die Ertüchtigung landeseigener Immobilien könnte sechs bis neun Monate dauern, und das dauert ihm zu lange. Deshalb hat er sich für Container – deren Errichtung ein Jahr gedauert hat – und für Turnhallen und Traglufthallen entschieden. Jetzt, sagen Sie, macht sich der Senat doch zumindest näherungs

weise ernsthaft Gedanken über die Nutzung von leerstehenden Gebäuden und Grundstücken. Es wird sogar über die leer stehenden Appartements der berlinovo nachgedacht. Es wird über Durchgriffsrechte gegenüber unwilligen Bezirken nachgedacht – alles Dinge, lieber Herr Regierender Bürgermeister, die vor zwei Jahren oder vor Jahresfrist oder vor zwei Monaten durch die Opposition angeregt oder gefordert wurden und jeweils noch mit großer Geste abgelehnt wurden. Wenn Sie da jetzt etwas ändern: Unseren Segen haben Sie!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Aber von Transparenz bezüglich der für Unterkünfte geeigneten Gebäude und Flächen sind wir nach wie vor meilenweit entfernt. In Ihrer Vorlage für den Hauptausschuss wird erneut deutlich, dass Sie nicht wirklich umfassend geprüft haben. Wir wissen immer noch nicht, warum in der Notunterkunft in der Thielallee ein Großteil der anderen Gebäude – voll beheizt und geputzt – weiterhin leer steht. Wir wissen immer noch nicht, warum das ehemalige Gebäude des Bundesinnenministeriums in Moabit – 850 Räume mit Kantine – ebenfalls leer steht. Was ist mit dem Haus der Statistik? Im Juli dieses Jahres hat meine Kollegin Lompscher den Senat zum Leerstand von Büroflächen befragt. Die Antwort lautet zusammengefasst: Keine Ahnung, interessiert uns auch nicht!

Also, wir stellen fest: In der ganzen Stadt gibt es noch Bürogebäude, Grundstücke und Wohnungen, die nutzbar wären. Und anstatt sich zu trauen, dieses Potenzial wirklich zu nutzen, nimmt man die selbstverschuldete Krisensituation, um dann eine neue Debatte zum Tempelhofer Feld zu beginnen. – Ja, lieber Michael Müller, ich bitte Sie ernsthaft: Bevor Sie nicht den Nachweis erbracht haben, dass Sie alle Möglichkeiten, was Grundstücke, Gebäude und Büro- und Gewerbeflächen angeht, ausgeschöpft haben, ersparen Sie uns die Versuche, die Volksgesetzgebung mit Verweis auf die Flüchtlinge auszuhebeln! Das ist unnötig und kein guter Stil!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Es gibt Alternativen zu Zelten, Turnhallen oder Hangars, und wir sind uns doch hoffentlich einig, dass es kein befriedigender Zustand ist, dass Tausende Menschen in Hangars und Turnhallen hausen – ohne Privatsphäre, ohne Räume für medizinische Versorgung, ohne ausreichende sanitäre Einrichtungen, ohne Kinderbetreuung und Deutschkurse.

Und wir müssen rechtssichere Möglichkeiten schaffen, mit denen wir leerstehende Gebäude sicherstellen, und Sie haben auch noch mal darauf hingewiesen. Ich habe es so verstanden, liebe SPD-Kolleginnen und -Kollegen, dass der Regierende Bürgermeister Ihnen empfiehlt, dem gemeinsamen Oppositionsantrag, dem Hamburger Modell

zur Sicherstellung von Wohnimmobilien und Flächen, zuzustimmen. – Danke schön! Richtig! Gute Idee! Das sollten wir so machen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Es wird allenthalben so getan, als hätte sich die Lage am LAGeSo zum Besseren gewendet. Das ist nicht so. Es fehlt weiterhin Personal – Sie haben es selbst angesprochen. Wir haben jetzt zwar beheizte Zelte, aber noch lange keine sichere Terminvergabe. Und bei den Terminen, die vergeben werden, ist zum Teil jetzt schon mit der Terminvergabe absehbar, dass sie nicht zu halten sein werden. Bei dieser permanenten Überforderung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird jetzt eine Debatte angefangen, die Mitbestimmungsrechte der Personalräte einzuschränken. Ist das die Form von Mitarbeitermotivation, die Sie sich vorstellen? Wir wissen von den Personalräten und von Hauptpersonalrat, dass sie gerne helfen wollen, im Sinne einer humanitären Flüchtlingspolitik. Miteinander vernünftig reden, könnte helfen, nicht die Leute erst im Regen stehen lassen und dann auch noch schurigeln.

[Beifall bei der LINKEN]

Herr Regierender Bürgermeister! Es ist traurig, dass sich Berliner Senatoren, statt sich selbstkritisch zu befragen, was da alles schiefgelaufen ist, an dem Abschreckungs- und Abschottungswettbewerb auf der Bundesebene beteiligen. Es ist wichtig, dass wir jetzt in den öffentlichen Debatten nicht zulassen – und das haben Sie dankenswerterweise noch einmal betont –, dass diejenigen, die hier leben und wenig materiellen Wohlstand haben, gegen die ausgespielt werden, die kommen und gar nichts haben. Wir brauchen keinen Soli und keine Extrasteuer für Flüchtlinge. Wir brauchen insgesamt eine gerechtere Steuerpolitik.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Franziska Becker (SPD) und Frank Zimmermann (SPD)]

Kollege! Sie kommen jetzt bitte zum Ende!

Ich komme zum Schluss: Wir sind eines der reichsten Länder dieser Erde, und wir können und müssen uns leisten, den Reichtum gerechter zu verteilen. Deutschland hat dafür auch alle Voraussetzungen. Der Bund hat aktuell 21 Milliarden Euro Haushaltsüberschuss, und auch in Berlin geht wieder mehr. Es ist Geld da, um zu investieren. Das müssen wir tun, um die Flüchtlinge, die nach Berlin kommen, nicht nur aufzunehmen, sondern auch zu integrieren. – Ja, lieber Michael Müller, wir können das schaffen, aber wir müssen nur wollen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Kollege Graf das Wort. – Bitte schön!

[Zuruf von den GRÜNEN: Platz machen!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! – Herr Regierender Bürgermeister! Ich will Sie zu Beginn der Rede ansprechen. Sie haben in Ihrer Rede auch eigene Fehler eingeräumt. Das ist stark, weil Selbstkritik etwas ist, das, glaube ich, keinem leichtfällt. Dafür haben Sie auch meinen Respekt. Sie haben dann allerdings im weiteren Verlauf der Rede nicht der Versuchung widerstanden, Mängel oder kritikwürdige Punkte, die diskutiert werden, auf einzelne Kollegen oder Verwaltungsspitzen zu delegieren. Das war wiederum schwach, denn am Ende tragen der Senat und Sie als Regierender Bürgermeister die Gesamtverantwortung.

[Beifall bei der CDU – Zuruf von den PIRATEN]

Vielleicht haben Sie auch bei der Situation der selbstkritischen Findungsphase in Vorbereitung auf die Rede einmal darüber nachgedacht, ob Sie vielleicht nicht doch zu lange gewartet haben,

[Zuruf von der LINKEN: Womit denn?]

einen zentralen Koordinierungsstab einzurichten. Das ist erst im Sommer dieses Jahres passiert. Herr Czaja hat das im Sommer 2014 bereits gefordert. Es war richtig, dass es jetzt geschehen ist.

[Beifall bei der CDU – Ülker Radziwill (SPD): Das ist schwach, Herr Graf! Sehr schwach!]

Insofern: Selbstkritik bitte an jeder Stelle!

Herr Kollege Wolf! Sie haben darauf hingewiesen, was auf der bundespolitischen Ebene – die Bundesregierung, die Landesregierungen, der Bundesrat – an Diskussionen stattfindet. Da war es dann aber mit den Gemeinsamkeiten, die Sie mit der Koalition oder mit Teilen der Koalition gesehen haben, schon vorbei,

[Udo Wolf (LINKE): Da haben Sie mich falsch verstanden!]

denn Sie haben vergessen: All das, was dort beschlossen wurde, hat Berlin mitgetragen. Wir haben das gemeinsam beschlossen. Die Bundesregierung aus der großen Koalition und auch die große Koalition in Berlin haben dort zugestimmt.

Natürlich – die Zahlen sind genannt worden, und ich muss das nicht noch einmal wiederholen: Wir stehen vor einer Herausforderung, dass wir in Berlin täglich 700 bis 800 Flüchtlinge registrieren und bundesweit seit Anfang des Jahres 1 Million Flüchtlinge registriert wurden. Selbstverständlich stellt uns das vor enorme Herausforderungen in Bezug auf Registrierung, Unterbringung und Versorgung. Es stellt uns vor Herausforderungen in Bezug auf die Rückführung der abgelehnten Asylbewerber. Es stellt uns vor die Herausforderung der Integration der Schutzbedürftigen, der Finanzierung des Asylschutzes, aber auch vor die Herausforderung des Zusammenhalts unserer Stadt.

Wir als Koalition, CDU und SPD, wir stellen uns diesen Herausforderungen, denn die Bürgerinnen und Bürger in Berlin erwarten, dass wir eine nachhaltige Lösung für diese außergewöhnliche Situation finden. Mir ist genauso wichtig zu betonen – auch das hat der Regierende Bürgermeister getan –: Wir kümmern uns weiterhin um die vielen konkreten Probleme der Berlinerinnen und Berliner: die wachsende Stadt, Wirtschaft, Bildung und Sicherheit, denn auch das erwarten die Bürgerinnen und Bürger.

[Beifall bei der CDU]

Angesichts der weiter dramatisch steigenden Flüchtlingszahlen müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: den Schutz, die Versorgung und die Erstunterbringung der kommenden Flüchtlinge. Natürlich gelingt uns das zurzeit auch deshalb, weil sich ganz viele bewundernswert einbringen: Hilfsorganisationen, Feuerwehr, Bundeswehr, Polizei, aber auch die Verwaltungsmitarbeiter im LAGeSo und nicht zuletzt die vielen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Auch ich möchte an dieser Stelle diesen Menschen noch einmal meinen Dank aussprechen. Ich bin sehr froh über diese Hilfsbereitschaft, die wir in Berlin haben, und darüber, dass es gelingt, den Menschen aus den Krisenregionen hier zu helfen und sie willkommen zu heißen. Ich bin auch froh, dass das inzwischen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen wird.

[Beifall bei der CDU]