Protokoll der Sitzung vom 26.11.2015

5 000 Menschen im Gebäude des Flughafens Tempelhof unterzubringen, ist eine Größenordnung, die ich vor Monaten noch vollkommen ausgeschlossen hätte. Ich will hier auch deutlich sagen: Natürlich ist eine dezentrale Unterbringung von Menschen in kleineren Größenordnungen viel besser. Das ist vollkommen unbestritten. Nur, darüber sind wir hinweg.

[Canan Bayram (GRÜNE): Warum? – Zuruf von der LINKEN: Was?]

Die Größenordnungen der gegenwärtig in Berlin eintreffenden Flüchtlinge zwingen uns dazu, Obdachlosigkeit zu vermeiden, und die zur Verfügung stehenden Flächen reichen gegenwärtig dezentral nicht aus, um kleinere Gruppen von Menschen dezentral in der Stadt unterzubringen.

[Zuruf von Canan Bayram (GRÜNE) – Unruhe]

Es spricht übrigens auch gegen die Nutzung des Vorfeldes des Flughafens Tempelhof, dass zu große Zusammenballungen von Flüchtlingen an einer Stelle nicht sinnvoll sind. Die Ränder der Flughafenfläche Tempelhof sind etwa einen Kilometer von dem Gebäude entfernt.

Übrigens sind auch die Kritiker des Gesetzesvorschlags inzwischen über die Frage dezentraler Unterbringung in kleineren Größenordnungen hinweg. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Diskussion, die wir Anfang dieses Jahres hatten, ob Traglufthallen genutzt oder nicht genutzt werden müssen. Da waren Traglufthallen angeblich noch menschenunwürdig. Auch bei Ihnen findet ein Denkprozess statt.

[Zuruf von Elke Breitenbach (LINKE)]

Auch bei Ihnen findet eine Reaktion auf die Realität statt. Und die leerstehenden Fabrikgebäude, die vorgeschlagen werden, die Standorte für Traglufthallen in der Stadt, leerstehende Bürogebäude, die vorgeschlagen werden: All das werden wir sicherlich nutzen müssen. Wenn die Kosten-Nutzen-Analyse ergibt, dass es sinnvoll ist, diese Nutzung vorzunehmen, dann wird der Senat das auch entscheiden müssen.

[Udo Wolf (LINKE): Warum gibt es denn diese Analyse seit drei Monaten nicht?]

Wir haben vorhin in der Fragestunde auch darüber gesprochen, dass der Senat versucht, über serielle Bauweise, modulare Bauweise im nächsten Jahr Unterkünfte für etwa 25 000 Menschen zu schaffen, um die bisher belegten Sporthallen, die bisher belegten alten Fabrikgebäude leer ziehen zu können. Allerdings wird noch einige Zeit vergehen. Diese Gebäude sind erst Ende 2016 fertig. So schnell können wir gar nicht bauen. Jetzt geht es darum, diese Zeit zu überbrücken. Da muss man schlicht sagen: Eine Traglufthalle – wo auch immer in der Stadt aufgestellt – hat im Durchschnitt die Kapazität von drei Schulsporthallen. Deshalb müssen wir über alle alternativen

Möglichkeiten nachdenken, damit wir die Belegung von Schulsporthallen zumindest reduzieren können.

[Beifall von Daniel Buchholz (SPD)]

Sechstens und letztens, die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger: Der Gesetzentwurf enthält den Auftrag an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, weitere Gespräche zu führen. In der vergangenen Woche hat es einen Termin von Staatssekretär Gaebler in der alten Zollgarage mit einer Informations- und Diskussionsveranstaltung für Bürgerinnen und Bürger vor Ort gegeben.

[Zuruf von links: Die Informationen waren aber komplett falsch!]

Die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ hat bei dem Vorschlag, das Vorfeld des Flughafens Tempelhof zu nutzen, ebenfalls den Vorschlag unterbreitet, den Dialog zu führen. Natürlich wird der Senat dieses Dialogangebot aufgreifen. Selbstverständlich! Wir werben bei Bürgerinnen und Bürgern um Akzeptanz und um ein gemeinsames Engagement bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Da sich viele Aktivisten von „100 Prozent Tempelhofer Feld“ auch in der Flüchtlingshilfe engagieren, haben wir ein gemeinsames Ziel. Wir brauchen ein solidarisches und zügiges Handeln von Politik, Verwaltung und Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen unter Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern zügig sinnvolle und geeignete Konzepte für die temporäre und auch für die dauerhafte Unterbringung von Flüchtlingen entwickeln.

Wir diskutieren nicht die Abschaffung des TempelhofGesetzes. Wir diskutieren eine Ergänzung des Tempelhof-Gesetzes. Wir fügen einen Paragrafen ein, der klar regelt, was wie lange und an welchen Stellen möglich sein soll. Es geht um die Möglichkeit, befristet bis 2019 an einzelnen Rändern des Tempelhofer Feldes Tragluft- und andere Hallen aufstellen zu dürfen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Das Tempelhof-Gesetz verbietet das bislang. Damit wir das Tempelhof-Gesetz nur einmal anfassen müssen – ich habe eingangs meines Statements geäußert, es wäre misslich, sich 2016 von der Situation überraschen zu lassen und dann im Mai nächstens Jahres die Diskussion von Neuem zu beginnen –, haben wir uns dazu entschlossen, auch einzelne Flächen auf Neuköllner Seite in § 9 des Gesetzes aufzunehmen. Wir tun das ausschließlich, um Vorsorge zu treffen, falls sich die Flüchtlingssituation nicht entspannt.

Mir ist klar, dass es viel Misstrauen gibt. Das zeigt die Diskussion. Das zeigt auch die Diskussion der vergangenen anderthalb, zwei Jahre. Glauben Sie mir: Wenn wir es uns ersparen könnten, diese Diskussion zu führen, dann würden wir es uns sehr gerne ersparen, diese Diskussion zu führen. Aber zur Übernahme von Verantwortung gehört auch, als ersten Schritt klar zu sagen, was ist.

(Senator Andreas Geisel)

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall von Matthias Brauner (CDU)]

Wir wollen und wir müssen helfen, und wir müssen Obdachlosigkeit von Menschen vermeiden. Es geht nicht um Revanche für einen verlorenen Volksentscheid. Deshalb bitte etwas weniger Wut, dafür mehr Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und mehr Empathie für die Menschen, die unserer Hilfe bedürfen! – Ich danke Ihnen vielmals!

[Vereinzelter Beifall bei der SPD und der CDU – Udo Wolf (LINKE): Wo ist der Prüfbericht über die anderen Möglichkeiten?]

Vielen Dank, Herr Senator Geisel! – Es war die Priorität der Fraktion Die Linke, und deshalb hat jetzt auch der erste Redner von der Linksfraktion das Wort, und das ist der Kollege Dr. Lederer. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach drei Aktuellen Stunden und einer Regierungserklärung hätten wir erwartet, dass nun endlich etwas geschieht, um die Unterbringung von Geflüchteten transparent, klug und vor allem strategisch planvoll zu organisieren, dass begonnen wird, die Liste von Immobilien im Bundes- und Landesbesitz abzuarbeiten, Gebäude zu ertüchtigen, dass begonnen wird, die gravierenden Mängel in der Registrierung, Versorgung, medizinischen Behandlung, Betreuung und Unterstützung bei Integration und Partizipation zu beheben, dass das Haus der Statistik, das Amt für Risikobewertung, das Bundesinnenministerium und andere Gebäude jetzt endlich fit gemacht werden und die über 700 Hilfsangebote aus der Bevölkerung ernst genommen werden, auf die das LAGeSo derzeit überhaupt nicht reagiert, dass das Hamburger Modell endlich umgesetzt wird und dass den Ehrenamtlichen, die an der Grenze der Erschöpfung arbeiten, endlich wieder der Rücken gestärkt wird, satt dieses Engagement mit immer wieder neuen hektischen Zickzackentscheidungen zu erschweren.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Womit ich nicht gerechnet habe – und ich bin hier einiges gewöhnt –, ist, dass uns keine zwei Wochen nach einer ambitionierten Regierungserklärung nicht mehr vorgelegt wird als die Revision des von 700 000 Berlinerinnen und Berlinern beschlossenen Tempelhof-Gesetzes.

Ja, die Unterbringung von Geflüchteten ist eine riesige Herausforderung für die Stadt. – Herr Geisel! Das hat Ihnen im Übrigen die Opposition seit 2012, seit 2014 gesagt.

[Beifall bei der LINKEN]

Es wäre übrigens fair, wenn Sie zuhören, Herr Geisel. Sie haben hier eine halbe Stunde geredet. Ich kann fünf Minuten darauf reagieren. Es gebietet vielleicht die Höflichkeit, dass Sie mir an der Stelle einfach mal zuhören!

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Beifall von Alexander Spies (PIRATEN)]

Und wenn Michael Müller sagt, Denkverbote darf es nicht geben, dann sage ich: Denk- und vor allem Handlungsverbote scheinen im Senat von Berlin aber überall zu existieren, und zwar nicht nur bei der Frage, ob nach anderthalb Jahren ein erfolgreicher Volksentscheid im Schweinsgalopp und mit dringlicher Vorlage durch dieses Parlament ausgehebelt werden darf. Und wenn sich Herr Geisel jetzt herstellt und sagt, das ist ein Vorratsgesetz, das ist ein Vorsorgegesetz – warum muss das dann jetzt innerhalb von zwei Wochen verhandelt und hier durchgepeitscht werden? Das ist doch unbegreiflich.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Es reicht halt nicht, Beteiligung immer nur zu propagieren und zu behaupten, man wäre dazu bereit, man muss es ab irgendeinem bestimmten Punkt auch einfach mal machen, Herr Geisel! Und dazu hätte die Zeit gereicht, wenn Sie es nicht am 10. Dezember hier hätten verabschieden wollen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Ich sage Ihnen aber auch, dass der Plan des Senats, dort eine Massenunterkunft für 10 000 bis 12 000 Menschen zu erreichten, von all den Lösungen, die hier diskutiert werden, die denkbar schlechteste ist.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Schon jetzt ist die Situation dort dramatisch. 2 300 Menschen in drei Hangars! Brandschutzprobleme und katastrophale hygienische Bedingungen! Strom, Heizung und Wasserversorgung sind nicht vorhanden, und medizinische Versorgung ist kaum gegeben. Es gibt keine Möglichkeit für eine Intimsphäre und dafür, ein paar persönliche Dinge einfach mal wegzuschließen. Waschmaschinen und Trockner – Fehlanzeige! Die Anlage hat Lagercharakter mit Industriehallenatmosphäre, vollgestellt mit Doppelstockbetten. Mag ja sein, Herr Geisel, dass Sie gern so leben. Dann ziehen Sie doch da hin!

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Evrim Sommer (LINKE): Genau!]

Der Lärmpegel ist hoch. Pro Person gibt es 2 Quadratmeter Platz. Statt, wie behauptet, für maximal 14 Tage halten sich manche Menschen dort mittlerweile seit der Eröffnung der Hangars auf. Es handelt sich um die mit

(Senator Andreas Geisel)

Abstand schlechteste Notunterkunft, die Berlin betreibt. Herr Geisel! Traglufthallen – Sie sagen ja selbst, dass da drei Mal so viele hineinpassen wie in Schulturnhallen – machen es keinen Deut besser.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf von Senator Andreas Geisel]

Nein! Jetzt rede ich. Sie haben eine halbe Stunde geredet, und Sie haben mir noch nicht mal richtig zugehört. Jetzt rede ich, und Sie hören mal zu. –

[Beifall bei der LINKEN]

Nur, weil Sie es ein Jahr lang nicht hinbekommen, diese lausige Unterbringung zu verbessern, akzeptieren weder wir noch die Initiative diesen gegebenen Normalzustand. Denn wenn Sie sich hier vorn hinstellen und sagen, dass das jetzt alle akzeptieren, dann sage ich: Nein! Das ist Ausdruck des Versagens Ihres Senats. Aber wir akzeptieren das nicht. Wir akzeptieren diese Art der Unterbringung nicht. Auch wenn Sie das hundert Mal erzählen, werden wir das nicht tun.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Beifall von Thomas Birk (GRÜNE) und Katrin Schmidberger (GRÜNE)]

Dass diese Zustände jetzt auch noch potenziert werden, ist aus meiner Sicht der absolut falsche Weg, zumal Sie uns bis heute nicht sagen können, welchen Aufwand und welche Zeit die Planung, Realisierung und Erschließung mit Wasser, Abwasser, Strom und Straßenerschließung für Feuerwehr und Rettungsdienste erfordern werden – für das, was Sie da vorhaben.

Anstatt der hektischen, hilflosen Diskussion über die Massenunterbringung anhand von Einzelstandorten sollte der Senat genau das tun, was Sie eben erneut in Aussicht gestellt haben, Herr Geisel, nämlich endlich ein transparentes und geeignetes Konzept für die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in ganz Berlin zu entwickeln. Insofern hätten Sie mal mit der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ reden müssen. Dass sich Herr Gaebler da mal hinstellt und sagt: Wir machen das jetzt übrigens so und so! –, ist noch kein Gespräch mit einer Initiative und keine Beteiligung von Leuten.

Das gilt auch für uns. Wir wären durchaus bereit, als Ultima Ratio auch über die Möglichkeiten temporärer Unterbringung am Tempelhofer Feld zu reden, aber der Senat hat bisher überhaupt nicht überzeugend dargelegt, warum die Nutzung des Flughafenvorfelds schlechter wäre. Die Argumente, die Sie eben aufgemacht haben, setzen nur voraus, dass Sie jetzt erst mal für gegeben annehmen, dass diese Masse von Leuten dort untergebracht werden soll, und deswegen müssen Sie dann irgendwie Schulen, temporäre Kitas und so etwas auf den Vorplatz stellen. Das ist ja genau das, was wir von einem Konzept verlangen, dass solche Überlegungen breiter angestellt werden und dass man keine Kleinstadt an das

Tempelhofer Feld stellt. Das wollen weder wir noch die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“.

Insofern kann ich überhaupt nicht sehen, welche Sachlage jetzt eine Revision des Volksgesetzes innerhalb von nur zwei Wochen rechtfertigen würde, zumal der Gesetzentwurf auch noch widersprüchlich ist. Herr Geisel! Das macht einen sofort misstrauisch, wenn im Gesetzentwurf in der Begründung von Modulbauten gesprochen wird, aber im Gesetzestext selbst nicht. Na, was wollen Sie denn da nun? – Wäre ich von der Initiative, würden bei mir alle Alarmglocken läuten. Ich finde, das zeugt von wenig Respekt seitens dieser Koalition gegenüber direkter Demokratie. Nicht, dass das neu wäre. Den Volkswillen beiseite zu schieben, ist nicht unbedingt Respekt gegenüber dem Volkswillen, Herr Geisel. Aber Ihre Dialektik ist speziell.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]