Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 10. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und unsere Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Aus aktuellem Anlass möchte ich einige Sätze sagen. Seit geraumer Zeit stellen wir fest, dass verbale Gewalt und körperliche Übergriffe in unserer Gesellschaft auf beängstigende Weise zunehmen. Wir alle sind davon betroffen: ob als Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr, ob als gesellschaftlich engagierte Bürgerinnen und Bürger, ob als Volksvertreterinnen und Volksvertreter. – Ich verurteile den jüngsten Übergriff auf den Kollegen Tom Schreiber und möchte deshalb hier klar zum Ausdruck bringen: Ich verurteile jegliche Form von Gewalt. Gewalt ist kein Mittel der Auseinandersetzung, auch nicht der politischen Auseinandersetzung, egal ob sie von Links oder von Rechts kommt. Mit dieser Grundhaltung sind wir in unserer Demokratie bisher sehr gut gefahren. Das sollte so bleiben.
Wie wir seit einigen Tagen wissen, sind bei einem terrorverdächtigen Soldaten Listen und Aufzeichnungen gefunden worden, die einen rechtsextremistischen Hintergrund nahelegen. Auch Menschen, die in Berlin zu Hause sind, sich hier engagieren oder politische Ämter bekleiden, stehen auf dieser Liste, so etwa der ehemalige Bundespräsident und Berliner Ehrenbürger Joachim Gauck, der Bundesjustizminister Heiko Maas, die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth und unsere Kollegin Anne Helm.
Liebe Frau Helm! Sie können sicher sein, dass wir solidarisch an Ihrer Seite stehen und die Gewaltandrohung gegen Ihre Person auf das Schärfste verurteilen. Natürlich wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht, welche Qualität diese Liste hat und welches Bedrohungspotenzial in ihr steckt. Wir wissen aber, dass seit Bekanntwerden dieser Liste die Hassmails und Drohungen gegen Sie persönlich zunehmen. Das ist nicht zu akzeptieren. Wir alle müssen uns deshalb die Frage stellen, welchen Beitrag wir leisten können und welche Verantwortung wir alle tragen, um diese Missstände zu beseitigen. Klar ist auf jeden Fall: Wir fordern eine lückenlose Aufklärung dieser Vorgänge.
Die Demokratie hat Feinde. Sie kommen nicht nur von außen. Sie sind auch mitten in unserer Gesellschaft. Auch die jüngsten Ereignisse zeigen offensichtlich in diese Richtung. Wir Demokraten müssen daher wachsam sein, und wir müssen wehrhaft bleiben. Das lehrt uns unsere eigene Geschichte. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Bevor ich zum weiteren Verfahrensablauf komme, möchte ich dem Kollegen Dr. Turgut Altug von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum heutigen Geburtstag gratulieren. – Herzlichen Glückwunsch!
Im Namen des Hauses beglückwünsche ich den Kollegen Florian Graf von der Fraktion der CDU zur Geburt seines Sohnes Nils. – Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für die ganze Familie!
Ich habe dann noch Geschäftliches mitzuteilen: Am Montag sind folgende sechs Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:
− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein“
− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Rot-RotGrün versagt bei der Entwicklung des öffentlichen Dienstes“
− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein“
− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein.“
− Antrag der AfD-Fraktion zum Thema: „Müller, bleib bei deinen Leisten: City-Toiletten in privater Hand lassen!“
− Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Entfremdung durch Zweckentfremdung – der Zustand des Berliner Senats am Beispiel der Reise des Staatssekretärs Böhning“
Die Fraktionen haben sich auf die Behandlung des Antrags der Fraktion Die Linke „60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein“ verständigt, sodass ich dieses Thema gleich für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1, und zwar in Verbindung mit dem Tagesordnungspunkt 34, aufrufe. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.
Ich möchte Sie auf die Ihnen vorliegende Dringlichkeitsliste mit dem Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die dort verzeichneten und nach dem Redaktionsschluss eingegangenen Vorgänge unter den Tagessordnungspunkten 36 A und 36 B in der heutigen Sitzung zu behandeln. Ich gehe davon aus, dass diesen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist dies so beschlossen.
Auf die Ihnen vorliegende Konsensliste darf ich ebenfalls hinweisen und stelle fest, dass dazu kein Widerspruch erfolgt. Die Konsensliste ist damit so angenommen.
Entschuldigung eines Senatsmitglieds für die heutige Sitzung: Frau Senatorin Günther ist ganztägig abwesend. Grund ist die Teilnahme an der Umweltministerkonferenz in Bad Saarow vom 4. bis 5. Mai.
„60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein“
Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Annahme einer Entschließung Drucksache 18/0304
Für die Besprechung der Aktuellen Stunde und für die Beratung des Tagesordnungspunktes 34 steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion Die Linke. – Herr Kollege Schatz, bitte schön! Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Morgen, am 5. Mai, begehen wir den Europatag, der an die Gründung des Europarates 1949 erinnert, in fünf Tagen, am 9. Mai, den Europatag der Europäischen Union, der an die Rede Robert Schumans 1950 erinnert, in der er die Initiative von Jean Monnet aufgriff, eine europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion, zu gründen.
Die Fraktionen der SPD, der Grünen und die Linksfraktion haben aus diesem Anlass für die heutige Sitzung des
Berliner Parlaments beantragt, eine Aktuelle Stunde zur Lage in der Europäischen Union und zur Berliner Politik in Europa durchzuführen, übrigens so, wie wir es in unserem Koalitionsvertrag angekündigt haben. Ich finde, daraus sollten wir eine Tradition machen, im nächsten Jahr vielleicht mit einer gemeinsamen Anmeldung aller demokratischen Fraktionen.
Denn es gibt viel zu besprechen – nicht nur Gutes, sondern vor allem vieles, das Menschen in der EU von der EU entfremdet, und darüber will ich sprechen. Ich will aber vorwegschicken: Ich mache das, weil wir uns der Tiefe der Krise bewusst sein müssen, um eingreifen zu können, um die europäische Idee und das europäische Projekt zu retten; denn es bleibt ein Projekt des Friedens auf einem Kontinent, der zwei Mal Ausgangspunkt weltweiter Katastrophen war. Dass wir darüber in Berlin reden, in unserer Stadt, in der diese beiden Weltkriege geplant und gestartet wurden, beschreibt die Verantwortung für uns – Verantwortung, nicht zuzuschauen, wenn dieses Projekt bedroht ist.
Bedroht ist es aus meiner Sicht aber nicht nur von Rechtspopulisten, die zurück zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts wollen, sondern auch von Neoliberalen, die „Wettbewerb“ rufen und Sekt öffnen, wenn Dividenden steigen, weil Löhne durch Unternehmensverlagerungen gedrückt werden konnten und Unternehmenssteuern durch ruinösen Wettbewerb in legale EU-Steueroasen vermieden werden konnten.
Für mich ist eines der Probleme nach wie vor die Ignoranz gegenüber der noch immer steigenden Anzahl von Toten im Mittelmeer. Seit Januar 2014, also allein in den letzten drei Jahren, sind ca. 20 000 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute, die von Nordafrika nach Italien führt, ertrunken. Was ist die Reaktion der EU? – Nein, nicht etwa eine Initiative für einen gerechten Welthandel, die die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten verbessert. Nein, nicht etwa ein Verbot von Rüstungsexporten, besonders in Kriegsgebiete, um bewaffnete Konflikte, die Tot, Leid und Flucht verursachen, trockenzulegen. Nein, nicht etwa engagierte politische Initiativen gegen Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des Nahen Ostens. Nein – ich könnte das jetzt fortsetzen –, das ist es alles nicht. Es ist der Ausbau der Grenzschutzagentur, die Errichtung von Zäunen mit Stacheldraht, der Kampf gegen Schlepper, als ob sie das Problem wären.
Es sind Diskussionen von Pull-Faktoren, also Klartext: Seenotrettung heißt Fluchthilfe, wie es Rechtspopulisten und Nazis in allen europäischen Ländern mittlerweile formulieren.
Gerade wir in Berlin wissen, Mauern und Stacheldraht – übrigens auch ein Schießbefehl – können Menschen, die ihre Lage verbessern wollen, die in Frieden und Freiheit leben wollen, nicht aufhalten. Deshalb dürfen wir nicht zum Sterben im Mittelmeer schweigen. Wir müssen darüber reden und Veränderungen einfordern.