Protokoll der Sitzung vom 06.07.2017

In diesem Fall steht allerdings – das schreiben auch die Zeitungen – zunächst Aussage gegen Aussage.

[Zuruf von Gunnar Lindemann (AfD)]

Bis zum Abschluss der Ermittlungen bleibt es auch bei dieser Einschätzung. Und damit kommen wir zum sprin

genden Punkt. Was Sie fordern, ist ein Instrument, um politische Gegnerinnen und Gegner anschwärzen zu können, denn es würden Vorfälle registriert, die gemeldet werden, die strafrechtliche Relevanz allerdings könnte die Erfassungsstelle nicht einschätzen, denn das tun die Strafverfolgungsbehörden, die, wie wir gelernt haben, ja sowieso eigene Statistiken führen. Die völlige Redundanz Ihres Antrags zeigt sich hier noch einmal sehr deutlich.

[Beifall von Silke Gebel (GRÜNE)]

Lassen Sie mich zusammenfassen: Sie beschweren sich über ein Klima, für das Sie selbst mit verantwortlich sind.

[Stimmt doch gar nicht! von der AfD]

Sie wissen scheinbar weder nicht, was die Landeswahlleiterin für ein Geschlecht besitzt, noch was sie beruflich macht.

[Beifall und Heiterkeit bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Georg Pazderski (AfD): Sie haben offensichtlich im Deutschunterricht nicht aufgepasst!]

Sie wissen scheinbar nicht, was der polizeiliche Staatsschutz ist. Und Sie wissen scheinbar ebenfalls nicht, was eine polizeiliche Kriminalstatistik ist und wie Sie als Abgeordnete dieser habhaft werden können. Insofern könnte man fast biblisch schließen: Herr, vergib ihnen, sie wissen tatsächlich einfach nicht, was sie tun. – Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Für den Senat hat jetzt der Senator Geisel das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Im September 1949 trat in Bonn der Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die erste Sitzung wurde vom ältesten Abgeordneten eröffnet, dem 74-jährigen Berliner Paul Löbe. Er begann seine Rede mit den Worten:

Indem wir die Wiedergewinnung der deutschen Einheit als erste unserer Aufgaben vor uns sehen, versichern wir gleichzeitig, dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europa sein will.

Paul Löbe sagte das vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Er war bis 1933 Abgeordneter im Reichstag der Weimarer Republik und fast zwölf Jahre dessen Präsident. Danach wurde er von den Nationalsozialisten drangsaliert und inhaftiert. Und dann, 1948/49, war er Mitglied im Parlamentarischen Rat und damit einer der Väter des Grundgesetzes.

(June Tomiak)

In dieses Grundgesetz hat der Parlamentarische Rat die beiden Begriffe geschrieben, über die wir heute hier debattieren: Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Wir nehmen es heute als selbstverständlich hin, was für die Mütter und Väter des Grundgesetzes etwas ganz Besonderes war: die Wiederherstellung des Fundaments für unseren freiheitlichen Staat, jenes Fundament, das von den Nationalsozialisten mit Füßen getreten, mit Ausgrenzung und Hass und schließlich Völkermord zerstört wurde. Nicht nur die Idee eines geeinten Europas war von politischer Klugheit und souveräner Weltsicht geprägt, auch die Fähigkeit, einen Satz zu schreiben wie:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.

„Jeder hat das Recht“ steht dort, nicht „Nur einige wenige haben das Recht“ oder gar die, die glauben zu wissen, wo die Wahrheit steht, oder diejenigen, die meiner Meinung sind. Artikel 5 wurde geschrieben, als es in Deutschland noch zahlreiche Nationalsozialisten im Geiste gab. Letztlich galt Artikel 5 auch für sie. Das wussten die Gründungsmütter und Gründungsväter natürlich. Umso stärker wiegt die Entscheidung zu schreiben: „Jeder hat das Recht“.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern“ bedeutet eben auch, dass man diese Meinung dann auch aushalten muss, auch wenn sie einem nicht gefällt oder nicht ins eigene Weltbild passt. Diese Entscheidung fußte damals auf einem Urvertrauen in die Kraft der Demokratie, eine Demokratie, für die wir aufrichtig und mit gutem Willen eintreten, um es mit den Worten von Paul Löbe zu sagen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Wir dürfen nicht zulassen oder gar selbst dazu beitragen, dass unsere Demokratie unter dem Deckmantel der politischen Meinungsfreiheit angegriffen, mürbe polemisiert oder letztlich infrage gestellt wird. Gerade diese Frage steht hier vor uns in Berlin, in einer Stadt, in der Menschen aus über 140 Ländern dieser Welt leben, in einer bunten, weltoffenen und toleranten Stadt.

Berlin ist mit im Schnitt 5 000 Demonstrationen im Jahr die Hauptstadt der Versammlungen. Vor diesem Hintergrund wird der Berliner Senat dem Abgeordnetenhaus in dieser Legislatur ein Landesversammlungsrecht vorschlagen, das eine ungestörte und grundrechtskonforme Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit ermöglicht. Ich nenne es deshalb Versammlungsfreiheitsgesetz.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Dieses Gesetz soll als deutschlandweites Vorbild für ein demokratieförderndes und grundrechtbezogenes Versammlungsrecht dienen. Es wird vom Grundsatz getragen sein: im Zweifel für die Versammlungsfreiheit. Ein sol

ches Gesetz definiert den neutralen Staat und soll alle bisherigen einfachgesetzlichen versammlungsrechtlichen Regelungen in einem einzelnen Gesetz bündeln, wichtige Begriffe des Versammlungsrechts definieren und die staatliche Schutzaufgabe formulieren. Die Kooperation zwischen Versammlungsbehörde und Veranstalter muss genauso geregelt werden wie das Zusammenspiel von Versammlungsrecht und Polizeirecht. Es müssen Regelungen für Eil- und Spontanversammlungen getroffen werden. Zeit und Ort von Demonstrationen sollen veröffentlicht werden. Zudem sollen Gegenproteste in Hör- und Sichtweite ermöglicht werden. Einzelne versammlungsrechtliche Straftatbestände können als Ordnungswidrigkeiten eingeordnet werden, um ggf. unangemessene Kriminalisierung von Versammlungsteilnehmenden zu vermeiden. Und wir müssen Regelungen finden, um der Polizei eine flexible Vorgehensweise zu ermöglichen.

Um diese Ansprüche erfüllen zu können, ist es erforderlich, einen umfassenden Diskussionsprozess zu beginnen und zu organisieren, der die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für unsere Demokratie widerspiegelt. Inhaltliche Schnellschüsse sind dabei nicht hilfreich. Vielmehr ist ein sorgfältiges und gewissenhaftes Vorgehen angezeigt, um das vorgegebene Ziel auch tatsächlich erreichen zu können. Ich halte eine Zeitschiene von etwa zwei Jahren bis zur Vorlage dieses Gesetzentwurfs für realistisch.

Zum Abschluss möchte ich noch eine weitere Mutter des Grundgesetzes erwähnen: Louise Schroeder. Louise Schroeder war Demokratin durch und durch. Sie stand auch in Zeiten von Terror und Einschüchterung zu ihren Überzeugungen.

[Beifall von Dr. Ina Maria Czyborra (SPD)]

Warum sage ich Ihnen das? – Wir haben in den letzten Jahren gesellschaftliche Veränderungen erfahren, die das Vertrauen vieler Menschen in die Politik, in Politiker, ja in unsere Demokratie insgesamt auf die Probe stellen. Eine besondere Herausforderung ging und geht mit dem Zuzug geflüchteter Menschen einher, ihrer Aufnahme und – wenn sie länger hier bleiben – ihrer Integration. Die Entscheidung, diesen Menschen in unserem Land Schutz zu bieten, war im Grundsatz richtig. Sie basierte nicht auf einer Ad-hoc-Eingebung oder einem unüberlegten Gefühl. Diese Entscheidung orientiert sich an unserem Wertekanon, dessen Grundlage die unveräußerlichen Menschenrechte sind.

Das bedeutet nicht, dass wir über die mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbundenen Problemstellungen nicht diskutieren dürfen. Im Gegenteil, auch der Meinungsstreit ist ein wesentliches Element unserer demokratischen Idee. Die Welt ist komplizierter geworden. Das darf aber nicht heißen, dass die Antworten auf die Fragen unserer Zeit immer einfacher werden – bis hin zum Populismus. Fremdenfeindliche Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffe gegen Andersdenkende,

(Senator Andreas Geisel)

Andersglaubende oder Andersaussehende gehören ebenfalls zum Repertoire von Menschen, die für unsere Werte offenbar nichts übrig haben. Hier werden ganz klar Grenzen überschritten, was wir als demokratische Gesellschaft nicht hinnehmen können.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Frank-Christian Hansel (AfD) und Sibylle Meister (FDP)]

Unsere freie Gesellschaft kann einiges aushalten, aber sie darf nicht alles hinnehmen. Regeln des Zusammenlebens durchzusetzen, ist Aufgabe einer handlungsfähigen Polizei. Aber die Gesellschaft zu gestalten, Herr Dregger, ist keine Polizeiaufgabe. Das ist unsere Aufgabe.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Weltoffenheit, Toleranz und Gleichwertigkeit sind Merkmale unserer offenen Gesellschaft, die wir nicht aufgeben werden.

[Ülker Radziwill (SPD): Sehr richtig!]

Der Ruf nach Repression ist leicht, und er kommt gerne früh, ohne dass dafür die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Und er kommt gerne von denen, die zuvor die politische Auseinandersetzung selber aufgeheizt und Grenzen des politischen Anstands überschritten haben.

[Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Dem stehen wir mit der selbstbewussten Gelassenheit der Demokraten gegenüber. Für uns gilt: Egal, wer hier lebt und egal, wer zu uns kommt, die gemeinsame Grundlage unseres Zusammenlebens sind das Grundgesetz und die Achtung der Menschenrechte.

Herr Senator! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Buchholz von der AfD?

Nein! Ich möchte gerne beenden. – Wer sich zu ihnen bekennt, ist Teil dieser Gesellschaft. Das kann man durchaus im besten Sinne als identitätsstiftend – gerade in Berlin – betrachten. Wir müssen klarmachen, dass unter dieser Leitlinie die Freiheitsrechte eines jeden einzelnen Menschen versammelt sind, dass dies die unabdingbare und nicht verhandelbare Grundlage unseres Zusammenlebens ist.

In der aufgeheizten Debatte ist der Schritt zur Gewalt manchmal nicht mehr groß. Immer häufiger kommt es zu Übergriffen und Bedrohungen gegen Medienvertreter, gegen Politikerinnen und Politiker und gegen Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren. Ich will es ganz klar sagen: Gewalt und Angst sind ein schleichendes Gift für

unsere Demokratie. Im Geiste Louise Schroeders werden wir Durchhaltevermögen beweisen und das für uns selbstverständlich Gewordene nicht als selbstverständlich betrachten: unsere wehrhafte Demokratie und unsere beispielgebende Vielfalt in einer freien Stadt, in einem freien und einigen Europa. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Bevor wir zur Abstimmung kommen, hat der Kollege Mohr von der AfD nach § 65 der Geschäftsordnung angemeldet, eine persönliche Bemerkung abgeben zu wollen. Ich mache noch einmal darauf aufmerksam: Persönliche Bemerkungen sind erst am Schluss der Aussprache, jedoch vor der Abstimmung oder nach Annahme eines Vertagungsantrags gestattet. Sie dürfen nur persönliche Angriffe zurückweisen oder eigene Ausführungen berichtigen. Eine Redezeit von bis zu drei Minuten darf nicht überschritten werden. – Herr Kollege Mohr! Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Kollegen Abgeordnete! Verehrte Gäste! Bezugnehmend auf das, was die Kollegen Helm und Tomiak gerade versucht haben zu insinuieren: Zur Presseberichterstattung im Zusammenhang mit dem Angriff auf einen Flyerverteiler der AfD in Lichtenberg vergangenen Sonnabend stelle ich fest, dass hier offensichtlich bewusst verkürzend und dadurch sinnentstellend berichtet worden ist, wieder einmal. Es ist ein ehrenamtliches Mitglied der AfD beim Verteilen von Blumen und Flyern – ich wiederhole: Verteilen von Blumen und Flyern! – zunächst von einem mutmaßlichen Linksextremisten bepöbelt und im Verlauf tätlich angegriffen worden.

[Zurufe von der LINKEN]

Die Abgeordneten Christan Buchholz und ich befanden sich zu diesem Zeitpunkt in ca. 100 Meter Entfernung