Protokoll der Sitzung vom 30.11.2017

Über was reden wir denn hier? – Berlin ist Hauptstadt der Prekarität, leider immer noch. Über 80 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor. Gerade da haben wir einen hohen Anteil an prekären Beschäftigungen, an sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnissen, an Leiharbeit etc. Es ist unser erklärtes Ziel als Koalition, diese Prekarität zurückzudrängen und gute Arbeit in Berlin zu schaffen. Einen wichtigen Beitrag kann der öffentliche Dienst leisten, wenn im öffentlichen Dienst und in den landeseigenen Unternehmen sachgrundlose Befristungen abgeschafft werden.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Bettina König hat es gesagt: Die Folge sachgrundloser Befristungen sind – a – Kettenbeschäftigungsverhältnisse, wenn die Leute Glück haben, und – b – ein ständiger Zustand der Unsicherheit. Wer in einem ständigen Zustand der Unsicherheit lebt, kann sein oder ihr Leben nicht planen. Im Übrigen sind diese sachgrundlos befristeten Beschäftigungsverhältnisse überwiegend nicht gut

(Jürn Jakob Schultze-Berndt)

bezahlt. Es sind vor allem sehr junge Menschen, die in diesen sachgrundlosen Befristungsverhältnissen sind, und es sind vor allem Frauen, die in diesen sachgrundlosen Befristungsverhältnissen sind. Das heißt, wir haben es hier auch noch mit dem Tatbestand struktureller Diskriminierung zu tun.

[Lachen von Andreas Wild (fraktionslos)]

Und wer heute den Pressespiegel aufmerksam durchgelesen hat, der wird auch noch festgestellt haben: Diese ständige Unsicherheit, dieses ständige Befinden in prekären Arbeitsverhältnissen macht krank, und der Krankenstand bei Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist deutlich höher. Deswegen ist es ein wichtiger Beitrag, diese sachgrundlosen Befristungen wenigstens im Bereich des öffentlichen Dienstes und der landeseigenen Unternehmen für Berlin abzuschaffen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Die ganzen Argumente, dass die Unternehmen die sachgrundlosen Befristungen brauchen, um zu gucken, ob Beschäftigte und Unternehmen zusammenpassen, damit man miteinander klarkommt, das ist alles dummes Zeug, denn dazu gibt es eine Probezeit. Die ist allerdings dann auch befristet, und danach muss man sich als Unternehmen entscheiden.

[Beifall bei der LINKEN und der SPD – Beifall von Sabine Bangert (GRÜNE)]

Das Instrument der sachgrundlosen Befristung ist doch ein prozyklisches. Wenn die Aufträge hoch sind, dann wird ordentlich befristet eingestellt, und wenn es schwieriger wird, dann werden die Aufgaben wieder dem Staat überlassen. Dann heißt es: Geh mal zum Arbeitsamt! – Das ist keine sinnvolle Politik. Das hat auch mit sozial in der Marktwirtschaft nicht besonders viel zu tun.

[Beifall bei der LINKEN]

Was Sie da tun – da nehme ich mal Ihren Begriff der Klientelpolitik –, das ist reine Klientelpolitik, und zwar zulasten der Beschäftigten, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das nun wiederum ist unser Wählerauftrag der rot-rot-grünen Koalition, auch meiner Partei, für gute Arbeit, für Sicherheit in den Beschäftigungsverhältnissen zu sorgen, und das tun wir hier.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des fraktionslosen Abgeordneten Wild?

Nein, besser nicht! Ich gestatte viele Zwischenfragen, aber bestimmt nicht die von dem.

[Beifall bei der LINKEN]

Was ist deswegen für uns wichtig? – Wir brauchen die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung im öffentlichen Dienst im Land Berlin und in den landeseigenen Unternehmen. Wir brauchen eine Bundesregierung, die den Mut hat, den Fehler der Helmut-Kohl-Regierung Anfang der Achtzigerjahre zurückzunehmen

[Oliver Friederici (CDU): Jetzt kommen die alten Kamellen!]

und die sachgrundlose Befristung auch auf Ebene der Bundesregierung zurückzunehmen und dort endlich Sicherheit und gute Arbeit zu schaffen. Wir haben in Berlin sehr viel damit zu tun, um jeden industriellen Arbeitsplatz zu kämpfen. Industrie ist ein Rückgrat auch des Dienstleistungsbereichs.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Wir haben doch gar keine mehr!]

Um mal den ehemaligen Wirtschaftssenator zu zitieren: Wir können uns nicht alle gegenseitig die Haare schneiden. – Deswegen brauchen wir dieses Rückgrat.

[Beifall von Christian Gräff (CDU)]

Und deswegen ist es sehr unverantwortlich, was sich im Moment vonseiten großer Unternehmen wie Siemens, Ledvance, Knorr Bremse und anderer tut. Es ist unsere Aufgabe und Verpflichtung, dafür zu kämpfen, dass wir dieses Rückgrat in Berlin erhalten.

[Beifall bei der LINKEN und der SPD – Beifall von Sabine Bangert (GRÜNE)]

Letzte Anmerkung: Das findet leider in Ihren Reden alles nicht statt. Die Arbeitswelt steht vor riesigen Herausforderungen. Es wird sich sehr vieles verändern, durch die Digitalisierung, durch die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitsverhältnissen, auch durch die Nicht-mehr-Trennung von Arbeitsplatz und zu Hause. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir Arbeitsregulierungsformen schaffen, die überhaupt dieser Herausforderung entgegenkommen, diese Herausforderung meistern können. Sachgrundlose Befristungen sind nun gerade ein Instrument der Deregulierung und zur Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. Genau den umgekehrten Weg müssen wir gehen, um dieser Herausforderung der Digitalisierung und neuer Arbeit gerecht zu werden. Diese Koalition ist in dieser Frage auf einem guten Weg. Ich werbe sehr um Zustimmung zu diesem Antrag.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Für die AfD-Fraktion hat jetzt der Abgeordnete Christian Buchholz das Wort. – Bitte schön!

(Katina Schubert)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Etwas Erstaunliches ist passiert: Ich halte zum ersten Mal einen Antrag von Rot-Rot-Grün in der Hand, in dem ein vernünftiger Satz steht.

[Heiterkeit bei von Andreas Wild (fraktionslos)]

Es ist die Drucksache 18/0429: Das Land Berlin als Vorreiter gegen sachgrundlose Befristungen. – Worum geht es in diesem Antrag?

[Zuruf von der SPD: Wissen wir!]

Etwas verkürzt gesagt geht es um Folgendes: Der Senat wird aufgefordert durchzusetzen, dass in landeseigenen Unternehmen sowie im öffentlichen Dienst keine weiteren befristeten Arbeitsverträge ohne sachlichen Grund abgeschlossen werden. Liegt kein sachlicher Grund vor, so soll kein befristetes, sondern ein unbefristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen werden.

[Zurufe von der LINKEN und den GRÜNEN]

Das klingt logisch, ist es auch. Es klingt arbeitnehmerfreundlich, ist es auch. Weiter heißt es:

Befristete Arbeitsverträge führen immer zu einer enormen psychischen Belastung bei den betroffenen Arbeitnehmern. Sie stehen unter besonderem Druck und können nicht sicher sein, ob ihr Familieneinkommen über die Befristung hinaus gesichert ist.

Und jetzt kommt der erstaunliche Satz:

Das führt zu großer Unsicherheit bei den Betroffenen und erschwert deren Lebens- und Familienplanung.

Das ist seit 1985, seit dem Offensichtlichwerden des Geburtenrückgangs in Deutschland das erste Mal, dass Rot-Grün sich über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Gedanken macht.

[Beifall bei der AfD]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Bangert?

Nein, noch nicht! Es ist das erste Mal, dass Rot-Rot-Grün ernsthaft überlegt, dass befristete Arbeitsverhältnisse eine negative Auswirkung auf die Familienplanung haben. Man will erstmalig etwas für junge Familien und die Familienplanung tun, und zwar so, dass nicht den Familienplanenden – und hier passt die Formulierung ausnahmsweise richtig gut – durch eine Aneinanderreihung von befristeten Arbeitsverhältnissen zusätzliche Steine in den Weg gelegt werden. Dieser Gedankengang ist so gut

und berechtigt, dass wir dem ganzen Antrag zustimmen werden.

[Zuruf von links: Das ist ja nicht zu fassen!]

Der Satz und die dahinter stehende Überlegung könnten glatt von der AfD sein!

[Beifall bei der AfD – Lautes Lachen von Torsten Schneider (SPD)]

Das ist so! Ich hoffe, die Unterschreibenden haben für diese AfD-nahe Überlegung nicht die üblichen Konsequenzen erleiden müssen. Ich hoffe, bei Frau König wurden keine Farbbeutel gegen das Haus geworfen. Ich hoffe, bei Frau Schubert wurden nicht die Scheiben des Autos eingeschlagen und die Reifen zerstochen, wie es Herrn Pazderski passiert ist.

[Holger Krestel (FDP): Hat doch gar kein Auto!]

Ich hoffe, für Frau Kapek wurden keine Steckbriefe aufgehängt – sie ist gerade draußen, vielleicht ist sie gerade dabei, diese abzureißen –, wie das bei meinen Kollegen Mohr und Gläser passiert ist.

Mir ist nicht bekannt, dass sich Rot-Rot-Grün jemals zuvor zugunsten einer Familienplanung von arbeitenden und arbeits- und leistungswilligen Menschen eingesetzt hat.