Inklusives Wahlrecht in Berlin: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beenden (Elftes Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes)
Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 18/1515
Ich eröffne die erste Lesung. In der Beratung beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Frau Topaç, Sie haben das Wort!
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist bis heute die Leitschnur für die gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung aller Menschen. Für eine Demokratie, deren Regierung und deren Volksvertreter und Volksvertreterinnen durch das Volk gewählt werden, bedeutet dieses auch, dass alle Bürgerinnen und Bürger eines Staates – oder wie hier in Berlin eines Bundeslandes – ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen können. In Bezug auf das Wahlrecht wird die allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Artikel 21 noch konkreter:
Jeder Mensch hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.
Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.
Im Berliner Landeswahlgesetz werden diese menschenrechtlichen Grundsätze nicht angewendet. Der pauschale Wahlrechtsausschluss für Menschen mit Behinderungen stellt daher nichts anderes dar, als sie ihrer vollen Rechte als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu berauben. Genauso wie alle Menschen frei und gleich geboren und mit Vernunft begabt sind, genauso genießen alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das Wahlrecht. Diese Koalition ist angetreten, um allen Menschen mit Behinderungen endlich das Wahlrecht zu ermöglichen. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen muss konsequent in allen Lebensbereichen abgebaut werden. Insbesondere an der Wahlurne dürfen diese nicht von der Möglichkeit ausgenommen werden, ihren politischen Willen kundzutun. Denn Artikel 29 der UNBehindertenrechtskonvention sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte und hier insbesondere das Wahlrecht gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Landeswahlgesetz sind allerdings all jene Menschen pauschal vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für
die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer oder eine Betreuerin bestellt ist. Ebenfalls ausgeschlossen sind Menschen, die eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben und aufgrund dessen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Hierdurch wurden nach Auskunft des Senats bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 ca. 670 Berlinerinnen und Berliner vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Dem derzeitigen Wahlrechtsausschluss liegt die pauschale Vermutung zugrunde, dass diese Personen nicht in der Lage sind, eine relevante Wahlentscheidung zu treffen, während diese Fähigkeit bei allen anderen Menschen, insbesondere auch bei Menschen mit psychiatrischen Diagnosen oder Menschen mit Behinderungen, die nicht unter dauerhafter Vollbetreuung stehen, schlicht vorausgesetzt wird. Ich finde, das ist ein Skandal. Wir als Parlament müssen diesen dringend notwendigen Schritt nun endlich gehen und die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen im Landeswahlgesetz beenden. Denn nur wer wählen kann und seine politischen Rechte in Anspruch nehmen kann, kann an dieser Gesellschaft vollumfänglich teilhaben. Diese Koalition möchte die Teilhabe aller Berlinerinnen und Berliner ermöglichen, und das inklusive Wahlrecht ist ein zentraler Baustein auf dieser Wegstrecke.
Auch auf der Bundesebene kommt ja nun endlich Bewegung in die Debatte. Die große Koalition hat das ja als Ziel für sich definiert, das freut uns insbesondere. Denn schließlich haben wir Grünen bereits zum zweiten Mal einen Antrag hierzu eingebracht, zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention im Wahlrecht. Der aktuelle Vorgang ist noch in der Beratung. Wir hoffen, dass es im nächsten Jahr dazu Bewegung geben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Diejenigen von Ihnen, die dieses Thema schon länger verfolgen, sei es aus persönlicher Betroffenheit oder aus menschenrechtlicher Perspektive, ich denke, Sie werden den Tag heute feiern. Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Das ist Ihr Erfolg, insbesondere der Erfolg derer, die sich hierfür seit Jahren eingesetzt haben. Danke!
Das führt mich zu der abschließenden Frage, warum es überhaupt so lange gedauert hat, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen an der Wahlurne zu beenden. Dies parteipolitisch zu betrachten, ist allerdings zu kurz gedacht, wie ich meine. Schauen Sie sich alleine hier in unseren Rängen um: Die Mehrzahl der gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen, und zwar fraktionsübergreifend, hat augenscheinlich keine Behinderung. Ich finde aber, Volksvertreterinnen und -vertreter müssen das ganze Volk vertreten und nicht das halbe Volk und deshalb nicht auf dem halben, sondern aus dem ganzen Volk bestehen.
Um wirklich zu einer inklusiven Gesellschaft zu kommen, ist das inklusive Wahlrecht auch nur ein erster
Schritt. Wir müssen uns wirklich ernsthaft bemühen, Menschen mit Behinderung selbstverständlich in alle politischen und gesellschaftlichen Prozesse einzubeziehen und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch auf dieser Ebene zu ermöglichen. Diese Wahlrechtsänderung ist daher auch eine Aufforderung, dass mehr Menschen mit Behinderung als Volksvertreterinnen und -vertreter gewählt werden können. Denn wer persönlich von Diskriminierung betroffen ist, hat zweifellos ein anderes Empfinden für die alltäglichen Benachteiligungen und Diskriminierungen im Leben als Menschen, die als Stellvertreter und Stellvertreterinnen fungieren. Das gilt allerdings für alle Bereiche des Lebens.
Dieses Parlament ist das Haus aller Berlinerinnen und Berliner. Lassen Sie uns den Weg einer inklusiven Gesellschaft tatsächlich gemeinsam gehen! Das heute hier aufgerufene inklusive Wahlrecht ist dazu ein erster Schritt. Bringen Sie sich deshalb ein! – Vielen Dank!
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor dem Hintergrund des Antrags der Regierungsfraktionen mit der Überschrift „Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beenden!“ gestatten Sie mir eine persönliche Vorbemerkung: Ich hätte mir diese Sensibilität bei diesem Thema auch im Umgang mit dem krebskranken Staatssekretär Jens-Holger Kirchner gewünscht.
Ich bin – lassen Sie mich dies hier in aller Offenheit sagen – menschlich zutiefst enttäuscht und kann, auch das offen gesagt, meine Wut ungeachtet jeder Parteipräferenz kaum in Worte fassen, dass ein Staatssekretär, der erkrankt ist und sich im Genesungsprozess befindet, vom Senat auf Antrag von Frau Senatorin Günther entlassen wurde.
Frau Senatorin ist jetzt leider nicht im Raum, aber vielleicht kann man es ihr ausrichten oder sie hört von irgendwoher zu: Als Volksvertreter, als langjähriger pflegender Angehöriger, als ehemaliger Beamter des Landes Berlin und als sozialpolitischer Sprecher meiner Fraktion sage ich Ihnen das offen: Sie scheinen für dieses Amt fachlich, persönlich und charakterlich schlicht ungeeignet.
Herr Kollege! Jetzt bitte ich Sie, doch zur Sache zu reden, weil ich es auch gegenüber dem Staatssekretär ein bisschen problematisch finde, dass Sie sich im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung dazu äußern. Da bitte ich auch um die entsprechende Sensibilität.
Herr Präsident! Wir sind beim Abbau von Diskriminierungen, und das gehört zweifelsohne dazu. – Kommen wir zum Hauptthema! Laut einer Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen gibt es derzeit in Berlin 689 Berlinerinnen und Berliner, die vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen sind. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, jedwede Diskriminierung abzubauen. Insoweit ist die Befassung mit dem Wahlrecht für diesen Personenkreis hier und heute gut und sinnvoll.
Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist der CDU-Fraktion in allen gesellschaftlichen Bereichen ein besonders wichtiges Anliegen. Ein selbstbestimmtes Leben muss neben praktischen Aspekten wie Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und Zugang zu Informationen auch legislativ ermöglicht werden. Dazu gehört ganz wesentlich auch das inklusive Wahlrecht, wobei man sich die Ausgestaltung sehr genau ansehen muss. Auf Bundesebene setzt sich die Union ausdrücklich für dieses inklusive Wahlrecht ein. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD heißt es – ich zitiere:
Unser Ziel ist ein inklusives Wahlrecht für alle. Wir werden den Wahlrechtsausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, beenden. Wir empfehlen dem Deutschen Bundestag in seinen aktuellen Beratungen zur Änderung am Wahlrecht, dieses Thema entsprechend umzusetzen.
Nein! Ich möchte gern im Zusammenhang fortfahren. – Der tagesaktuelle Sachstand ist, dass sich CDU, CSU und SPD auf Eckpunkte verständigt haben. Aktuell findet eine Feinabstimmung statt, und im Frühjahr wird es eine entsprechende Gesetzesinitiative im Deutschen Bundestag geben.
Ja, es gibt unterschiedliche Auffassungen und Bewertungen von Sozialpolitikern und Innenpolitikern: Während
Sozialpolitiker ein Wahlrecht für alle befürworten, sind Innenpolitiker eher skeptisch. Menschen mit Behinderungen dürfen einerseits Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens nicht selbst tätigen. Anderseits soll ausgerechnet beim Wahlakt über den Umstand der Vollbetreuung hinweggesehen werden.
Ich persönlich tue mich im Grundsatz schwer damit, Menschen für nicht wahlfähig zu erklären. Wie ist es aber mit dementen Menschen – ab welchem Stadium der Demenz beispielsweise? – Im Gegensatz zu Menschen mit geistigen Behinderungen sind diese nicht von der Wahl ausgeschlossen. Viele richtige und wichtige Punkte sind in der Antragsbegründung enthalten, beispielsweise mit Blick auf die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention oder eine Einigkeit bezüglich der Unzulässigkeit einer Ungleichbehandlung derer, die gleichzubehandeln sind.
Für das Bundesverfassungsgericht sind Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts in nur sehr engen Grenzen zulässig. Daher ist genau zu prüfen, wo solche Einschränkungen ausnahmsweise nicht nur möglich, sondern auch zum Schutz vor Missbrauch erforderlich sind. Natürlich kann die bloße Gefahr des Missbrauchs kein Grund dafür sein, jemandem ein Recht zu entziehen. Parlamentarische Aufgabe ist es, vor einer Gesetzesänderung über solche Missbrauchsmöglichkeiten zu debattieren und sie bestmöglich auszuschließen und damit das Landeswahlgesetz so zu reformieren, dass diejenigen Menschen, die die Befähigung zur politischen Willensbildung haben, diese auch tatsächlich ausüben können.
Das Anliegen ist auch aufgrund der bundesweit geführten Debatte nicht grundsätzlich abzulehnen – im Gegenteil –, aber mit Augenmaß zu betrachten. Darüber sollten wir in den zwei zuständigen Ausschüssen, dem Innenausschuss und dem Sozialausschuss, sprechen. Das werden wir auch tun, und ich freue mich in diesem Zusammenhang auf die konstruktive Beratung in diesen Ausschüssen. – Vielen Dank!
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Änderung des Landeswahlgesetzes ist eigentlich längst überfällig. Die UNBehindertenrechtskonvention ist seit 2009 in Deutschland geltendes Recht, also seit beinahe zehn Jahren. Dort ist im Artikel 29 festgeschrieben, dass Menschen mit einer Behinderung die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben garantiert wird, und zwar gleichberechtigt mit allen anderen. – Ich kann da nichts von einer Aus