Protokoll der Sitzung vom 01.11.2020

Genauso ist eine Kneipe, ist eine Bar nicht einfach nur ein Ort, wo Bier ausgeschenkt wird, sondern ein Ort, an dem sozialer Austausch stattfindet.

[Heiko Melzer (CDU): Spannende Denkweise!]

Es ist bezeichnend, dass die Rückkehr ins Homeoffice erst auf den letzten Drücker noch Eingang in das Beschlusspapier der MPK fand, und das nur als Appell.

Wir sehen, in der Krise treten nicht nur die sozialen Unterschiede zutage, wenn Millionen Menschen Zukunftsängste haben und um ihre Jobs bangen – wer hier eine Illustration braucht: Seit Beginn der Pandemie wuchs das Vermögen der Albrechts, Aldi, Schwarz, Lidl, Klattens, Quandts, BMW, Hopps und Plattners von SAP laut „Forbes“ um fast 30 Milliarden Euro –, diese sozialen Unterschiede treten verschärft zutage,

[Ronald Gläser (AfD): Jetzt kommt die Neidkampagne!]

sondern auch das, was in einer kapitalistischen Gesellschaft Priorität hat: Arbeiten und Konsumieren. Mit dieser Prioritätensetzung können und wollen wir uns als Linke nicht zufrieden geben.

[Georg Pazderski (AfD): Was ist denn mit den SED-Milliarden? – Katrin Seidel (LINKE): Oh Gott!]

Es kann und darf nicht unsere Perspektive sein, dass wir jetzt für vier Wochen in den Lockdown gehen, damit das Weihnachtsfest und -geschäft retten und wir womöglich im Januar wieder vor dem gleichen Dilemma stehen. Deshalb müssen wir, wie es auch die Virologen Streeck und Schmidt-Chanasit zusammen mit den Hausärzten einfordern, in den kommenden Wochen Mittel und Wege finden, die ein soziales und kulturelles Leben mit dem Virus ermöglichen.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Henner Schmidt (FDP)]

Dafür müssen wir gewährleisten, dass die Gesundheitsämter die Nachverfolgung schaffen können. Ja, dafür gilt es auch, Kontakte überschaubar zu halten, aber eben auch, die Gesundheitsämter personell zu stärken und digital auf den erforderlichen Standard zu bringen, Räumlichkeiten bereitzustellen, Mehrsprachigkeit zu gewährleisten. Hierzu haben wir Vorschläge gemacht. Wir müssen die besonders vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft besonders schützen, ohne sie zu isolieren. Was wir da im Frühjahr erlebt haben, darf sich nicht wiederholen, auch nicht in den nächsten vier Wochen.

Mit den Schnelltests verfügen wir heute über bessere Möglichkeiten. Ich erwarte daher von der Gesundheitssenatorin, dass sie umgehend einen Plan vorlegt, wie die Pflegeheime, die Seniorenresidenzen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und andere Gemeinschaftsunterkünfte schnell damit versorgt werden können. Das Gleiche gilt für die Bereitstellung von FFP2-Masken. Keine Isolation bedeutet übrigens nicht nur, Ausgang und Besuche zu ermöglichen, sondern bedeutet auch, dass wichtige Angebote von Fuß- bis zur Haarpflege möglich bleiben. Auch das mag banal klingen, aber es sind diese kleinen Dinge, die oftmals für die Menschen eine große Bedeutung haben.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Unsere Rede, nicht Ihre!]

Wir müssen Schutzräume für Obdachlose und Ausweichmöglichkeiten für Menschen in beengten Wohnver

hältnissen schaffen. Mit den 24/7-Unterkünften, in denen Obdachlose auch tagsüber unter geschützten Bedingungen bleiben können, hat unsere Sozialsenatorin Elke Breitenbach im Frühjahr Modellprojekte geschaffen, die wir nun ausweiten müssen. Es stehen genug Hotels und Pensionen in der Stadt leer, die wir dafür anmieten können.

Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, die Schulen, in denen Fenster nicht zu öffnen sind, mit mobilen Luftreinigungssystemen auszustatten, damit eine Lüftung gewährleistet ist.

[Paul Fresdorf (FDP): Dann hätten Sie auch unserem Antrag zustimmen können!]

Hier hilft die halbe Milliarde der Bundesregierung nicht. Hier müssen wir erneut in die Auseinandersetzung gehen.

[Beifall bei der LINKEN]

Vor allem aber müssen wir weiterhin dafür werben, dass wir Berlinerinnen und Berliner uns alle an die wichtigsten Regeln halten. Wir haben als Linke von Anfang an gesagt, dass es nur gelingen kann, wenn die Menschen selbst vom Sinn der ergriffenen Maßnahmen überzeugt sind und sich freiwillig an die Regeln halten und nicht, weil sie angeordnet wurden. Wir müssen konstatieren, dass wir hier zuletzt nicht mehr so durchgedrungen sind wie noch im Frühjahr. Wie von uns befürchtet, hat auch die Androhung immer höherer Bußgelder hier wenig bewirkt. Ich finde, es gibt Grund genug, eine Kommunikation zu hinterfragen, die nicht nur hier aus diesem Parlament geschah, die in jeder kleinen Party unter freiem Himmel ein Superspreading-Event sah. Das war letztendlich so wie in der Fabel vom Hirtenjungen, der immer wieder aufgeregt: „Ein Wolf! Ein Wolf!“ ruft. Wenn die Bauern zu Hilfe eilen, ist kein Wolf da.

Die ständige Erregung, die wir über den gesamten Sommer verfolgen konnten, und der ständig erhobene Zeigefinger haben letztlich nicht zu mehr Achtsamkeit geführt, sondern im Gegenteil dazu, dass die Warnungen bei immer mehr Menschen an Überzeugungskraft verloren haben. Die Menschen sind keine Mündel, die durch uns Politikerinnen und Politiker erzogen werden müssen.

[Beifall von Martin Trefzer (AfD)]

Da, wo die Regeln als sinnvoll erachtet werden, werden sie auch größtenteils eingehalten.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Unsere Regeln, nicht eure!]

Dafür ist permanente, sich wiederholende Aufklärung, und zwar möglichst auf Augenhöhe notwendig, aber, auch das sei hier nicht vergessen, dass wir auch die Einhaltung von Regeln kontrollieren, aber bitte mit Augenmaß und Priorität. Es ist schwer nachvollziehbar, wenn einerseits die Polizei bei Fahrradfahrenden Masken kontrolliert, andererseits aber 2 000 Aluhüte ohne Maske durch die Karl-Marx-Allee ziehen können,

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Henner Schmidt (FDP)]

oder wenn Gastronomen erleben, dass im Lokal nebenan ohne Abstand gefeiert wird, das Ordnungsamt aber lieber Mustafas Späti kontrolliert, wenn in Zügen, anders als im ÖPNV, die Masken schnell mal fallen, aber Horst Seehofer die Bundespolizei lieber in die Schleierfahndung schickt.

Um es hier einmal ganz deutlich zu sagen: Aufrufe zur Denunziation, weil man in der Wohnung der Nachbarn eine größere private Feier vermutet, sind nicht unser Weg.

[Beifall bei der LINKEN – Franz Kerker (AfD): Ist ja ganz was Neues!]

In einer solchen Gesellschaft wollen wir nicht leben.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Wir auch nicht!]

Der Lockdown ist für uns alle ein bitterer Rückschlag. Es ist für uns auch keine Lösung, irgendwie durchzuhalten, bis uns irgendwann ein Impfstoff erlöst. Wir müssen Vorkehrungen treffen, damit das soziale Leben unserer Stadt auch im Winter nicht stirbt. Diese Aufgabe können und wollen wir nicht mehr allein den Ministerpräsidenten und Ministerpräsidenten dieses Landes und auch nicht dem Senat überlassen. Der müssen wir uns gemeinsam stellen, auch hier im Berliner Parlament. Die „heute- Show“ textete am Freitagabend über den deutschen Bundestag „arbeitslos und Spaß dabei“. Die Kritik trifft sicher nicht nur den Bundestag, sondern auch uns. Wir müssen selbstkritisch feststellen: Auch wir haben zu lange der Idee angehangen, die Lage sei im Griff, weitere Debatten und parlamentarische Beteiligungen seien unnötig. Doch ganz im Gegenteil. Deshalb werden wir schnell miteinander reden müssen, wie wir parlamentarische Beteiligung ausgestalten, im Bund und auch hier in Berlin.

[Torsten Schneider (SPD): Jetzt wird es interessant!]

Sie kann nicht darin bestehen, Entscheidungen der Regierung im Nachhinein abzunicken; sie muss darin bestehen, einen Rahmen auf Landesebene in einem Gesetz festzuhalten, in dem der Senat tätig werden kann und wo das Abgeordnetenhaus sich eigene Befugnisse vorbehält.

[Beifall bei der LINKEN]

Den FDP-Vorschlag begrüßen wir an der Stelle, und ich finde, darüber muss debattiert werden. Wir werden hier aber auch darüber zu reden haben, welche Hilfen weiterhin und verstärkt notwendig sind. Gut, dass die Bundesregierung dem Vorschlag Helge Schneiders gefolgt ist und nun einen Monatsdurchschnitt für die 75 Prozent des Vorjahresumsatzes zugrunde legen will. Helge Schneider hat nämlich im letzten November nichts verdient, und 75 Prozent von nichts ist nichts – bei laufenden Kosten.

Neben weiteren Hilfen halten wir einen Beitrag der Immobilienwirtschaft gerade bei den Gewerbemieten für dringend erforderlich, wie auch einen Zuschlag von

150 Euro bei den Harz-IV-Empfangenden und natürlich die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes.

[Beifall bei der LINKEN]

Dafür braucht es Geld, und neben einer Erhöhung der Neuverschuldung habe ich vorhin schon gesagt, bei welchen Krisengewinnlerinnen dieses Geld über eine Vermögensabgabe wieder eingesammelt werden könnte.

Meine Damen und Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Nein, wir haben nicht alles richtig gemacht in den letzten Wochen und Monaten. Ja, die Herausforderungen sind groß. Den Zielen, eine Überforderung unseres Gesundheitssystems zu verhindern, also Ärztinnen darüber entscheiden zu lassen, wer behandelt wird und wer nicht, zum einen und zum anderen, so viele Menschen wie möglich ohne dauerhafte Schäden in die Zeit nach der Pandemie mitzunehmen, fühlen wir uns zutiefst verpflichtet. Wir werden als Linksfraktion alles unterstützen, was diesen Zielen dient und den Charakter unserer Stadt als Hort der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Solidarität sichert.

Dazu haben wir in den kommenden vier Wochen Arbeit vor uns. Der Weg dahin kann nur ein solidarischer sein. Deshalb mein Appell: Halten wir Abstand zueinander! Tragen wir Alltagsmasken! Halten wir uns an Hygieneregeln! Nutzen wir die Corona-Warn-App! Lüften wir regelmäßig, wenn wir uns drinnen aufhalten! Und vor allem: Halten wir die Zahl unserer physischen Kontakte zu anderen Menschen klein und überschaubar! Bei Letzterem kann auch ein kleines Notizbuch helfen. Unbestritten stehen wir vor enormen Herausforderungen, aber ich bin sicher: Wenn wir solidarisch sind und die Lasten der Krise und ihrer Überwindung gerecht verteilen, werden wir auch diese Krise meistern. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Kurt Wansner (CDU): Zur Bundeswehr hat er nichts gesagt!]

Es folgt für die FDP-Fraktion Herr Abgeordneter Czaja. – Bitte schön, Herr Kollege!

[Zuruf von Sebastian Czaja (FDP)]

Haben das alle gehört? Keine Zwischenfragen!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Schatz! Wenn noch ein Beweis gefehlt dafür gefehlt hat, wie wichtig es ist, dass nicht die Regierung ausschließlich darüber entscheidet, sondern Parlamentarier darüber diskutieren und das auch mal von einer Regierungskoalition zu hören, dann ist er heute mit Ihrer Rede angetreten worden. Ich danke Ihnen dafür in

(Carsten Schatz)

aller Deutlichkeit, dass diese Debatte hier ins Parlament gehört. Wir kämpfen seit Wochen darum, und ich freue mich, dass wir nunmehr an dem Punkt sind, dass wir möglicherweise einen Konsens in diesem Haus verabredet bekommen, über den besten Weg zu ringen und zu streiten, denn das ist die Herausforderung, die vor uns steht.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der LINKEN]

Wir befinden uns inmitten einer Jahrhundertpandemie. Die Situation ist ernst, und niemand von uns hat eine solche Situation schon einmal erlebt. Niemand von uns hat Erfahrung im Umgang mit einer Pandemie solchen Ausmaßes. Wir alle standen zu Beginn des Jahres vor einer vollkommen neuen und schwer erfassbaren Aufgabe, die jeden von uns einzeln herausforderte, aber auch vor allem uns als Gemeinschaft enorm unter Spannung gesetzt hat.

Damals wie heute ist klar, dass es kategorische Regeln gibt, an die wir uns alle richtigerweise zu halten haben: Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmasken aufsetzen und in geschlossenen Räumen regelmäßig lüften. Vergangenen Februar haben wir das ganze Land heruntergefahren und seine Menschen reflexartig in systemrelevant und nicht systemrelevant eingeteilt. Es wurden demokratische Grundsätze verschoben in dem Glauben der kurzfristigen Notwendigkeit. Millionen Menschen wurden in die Isolation geschickt, weil wir uns so vor allen Dingen für unser Gesundheitssystem eine kurze Atempause verschaffen konnten. Ja, all das haben wir als Freie Demokraten mitgetragen, weil es der konkreten Situation angemessen und unserem Verständnis nach zeitlich begrenzt notwendig war.