Protokoll der Sitzung vom 10.12.2020

[Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP – Georg Pazderski (AfD): Reden Sie keinen Unsinn! Was Sie machen, ist gefährlich und verantwortungslos!]

Nein, was Sie machen, ist gefährlich und verantwortungslos, weil Sie ganz bewusst immer wieder mit dieser Rhetorik des eigentlich Bedachten und Seriösen Dinge zwischen Bundes- und Landesebene miteinander vermengen, dass Sie ganz bewusst Zuständigkeiten nicht auseinanderhalten,

[Marc Vallendar (AfD): Sie haben sämtliche Grundrechte ausgesetzt! Hören Sie damit auf!]

dass Sie ganz bewusst in Abrede stellen, wo es Erfolge gegeben hat,

[Georg Pazderski (AfD): Hören Sie sich eigentlich zu?]

dass Sie ganz bewusst widersprechen, dass bestimmte Dinge hier umgesetzt wurden. Das machen Sie ganz bewusst, um Menschen zu verunsichern,

[Marc Vallendar (AfD): Sie haben sich selbst ermächtigt als Regierung! Das ist schändlich!]

weil Sie wissen, dass Sie davon politisch profitieren, und das ist schändlich, wenn es um die Gesundheit von Menschen geht.

[Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP]

So schlicht und ergreifend ist es.

[Georg Pazderski (AfD): Wer Grundrechte außer Kraft setzt, ist schändlich!]

Herr Regierender Bürgermeister! Ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage – –

Nein! – Und ja, wir haben viel entschieden, und wir haben auch viel erreicht. Ich werde auch gleich sagen, wa

rum wir bei manchem noch nicht hinreichend gut waren oder genug erreicht haben. Aber wir haben viel erreicht und viel entschieden, von Anfang an. Es ist hier sogar von der Opposition thematisiert worden, dass seit März schon entschieden wurde, Dinge abgesagt wurden, im Wirtschaftsleben viel heruntergefahren wurde. Sie können uns allen hier glauben, das ist niemandem leichtgefallen. Ich habe es das letzte Mal in der Regierungserklärung schon gesagt, wir haben Jahrzehnte, kann man beinahe sagen, parteiübergreifend dafür gearbeitet, dass wir uns nach diesen schwierigen Wendejahren wirtschaftlich erholen. Die Arbeitslosigkeit ist runtergegangen.

[Georg Pazderski (AfD): Sie sind ein miserabler Krisenmanager!]

Wir sind eine internationale Metropole mit Tourismus, Messen, Kongressen und allem drum und dran.

[Zuruf von Marc Vallendar (AfD)]

Wir haben Hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen, und innerhalb von Wochen waren die weg wegen des Lockdowns.

[Georg Pazderski (AfD): Schauen Sie sich die Zahlen an!]

Wir haben entschieden, weil wir Menschen schützen wollten. Darum geht es. Das reden Sie alles klein und runter. Nein, wir haben es entschieden. Wir haben das Gesundheitssystem gestärkt,

[Zuruf von Marc Vallendar (AfD)]

nicht nur durch das Notfallkrankenhaus. Wir haben es gestärkt durch gezielte Investitionen und finanzielle Unterstützung. Man muss sich einmal ernsthaft mit Vivantes und Charité auseinandersetzen, denn dann weiß man, was da alles passiert ist.

[Georg Pazderski (AfD): Sie haben die Hilfen noch gar nicht ausgezahlt. Erzählen Sie doch nichts! – Katina Schubert (LINKE): Sie haben doch keine Ahnung!]

Wir haben zusätzlich eingestellt. Wir fahren die Ausbildungskapazitäten hoch. Alles das ist passiert.

In den letzten Monaten ist immer wieder auch nachjustiert und nachgeschärft worden. Ich weiß auch, weil ich mich auch mit vielen unterhalte und weil ich die Rückmeldung bekomme, dass natürlich viele auch fragen: Mensch, aber wenn ihr im März schon so weit ward, warum dann im Sommer auf einmal Lockerungen? Warum jetzt im November wieder Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz? Warum müssen die jetzt im Dezember vielleicht nachgeschärft werden? – Ich will es Ihnen erklären. Es gibt mehrere Gründe, warum das so ist, warum wir auch immer wieder nachjustieren müssen.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Wie beim Klima!]

Das eine ist tatsächlich auch, dass die Beratung der Wissenschaft für uns in der Politik von entscheidender

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

Bedeutung ist und dass die Beratung der Wissenschaft eben nicht nur eine Meinung wiedergibt von einem Virologen oder Epidemiologen, sondern dass es viele Institute gibt, die auch unterschiedliche Erkenntnisse haben, dass sich Erkenntnisse der Wissenschaft auch weiterentwickeln.

[Zurufe von der AfD]

Das sage ich ohne Vorwurf, es ist gut, dass sich die Wissenschaft immer wieder selbst prüft und neue Erkenntnisse einfließen lässt. Es gibt immer noch viele Dinge, die wir bis heute nicht wissen. Warum ist es so, dass wir uns vielleicht hier heute in dieser Sitzung anstecken, und der eine erkrankt schwer und landet auf der Intensivstation, und der andere hat nicht einmal leichte Symptome? – Wir wissen es heute noch nicht trotz der Arbeit der Wissenschaft. Warum ist die Situation bei den Kindern so, dass sie sich zwar auch infizieren oder Infektionen weitergeben, aber zum Glück nicht schwer erkranken? – Wir wissen es noch nicht. Es gibt immer noch viele Fragen. Mit den nächsten Erkenntnissen der Wissenschaft werden wir vielleicht wieder andere Entscheidung auch treffen und nachjustieren müssen. Das ist ein Grund, warum man immer wieder auch zu neuen Beschlussfassungen kommt.

Ein Grund ist natürlich, dass wir nicht ewig, wie es im Frühjahr der Fall war, auch aus der Dramatik heraus, aus der Situation, die zu bewältigen war, doch nicht ewig Grundrechte einschränken können.

[Marc Vallendar (AfD): Tun Sie aber!]

Sie haben es hier im Parlament, Regierung wie Opposition, zu Recht thematisiert und haben gesagt, Demonstrationsrecht, Religionsfreiheit sind Grundrechte, da darf man vielleicht in wirklichen Krisen und Ausnahmesituation für einen begrenzten Zeitraum herangehen, aber doch nicht für einen langfristigen Zeitraum.

[Sebastian Czaja (FDP): Sehr richtig!]

Sie haben recht. Also muss die Politik doch dann auch wieder anders entscheiden, muss Dinge zulassen, Gottesdienste zulassen, mit Regeln, mit Auflagen, Demonstrationen zulassen, mit Regeln und Auflagen. Also kommt eine neue Beschlussfassung der Politik.

Der nächste Punkt, der zu berücksichtigen ist, ist doch, dass wir die Situation in der Schule ganz besonders zu betrachten haben. Ich bleibe dabei – ich sage gleich noch im Verlauf der Rede etwas dazu, wie wir damit umgehen wollen –, dass es mir wichtig ist, so weit wie möglich im Präsenzunterricht zu unterrichten.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Natürlich! Warum wieder? Wir haben die Schulen doch schon einmal zugemacht, und wir haben gelernt. Wir wissen jetzt von der Wissenschaft einiges mehr, immer noch nicht alles. Wir haben Erfahrung gesammelt. Wir haben Rückmeldungen der Eltern und der Lehrerinnen

und Lehrer. Also muss sich Politik prüfen und auch wieder anders entscheiden.

Der nächste Grund, warum es so ist, dass Entscheidungen auch verändert werden, ist, dass wir schlichtweg Kompromisse finden müssen, auch zwischen 16 Bundesländern. Ich glaube, dass es ein wichtiges und hohes Gut ist, möglichst lange zusammenzubleiben zwischen den Bundesländern, schon weil wir eben auch im wahrsten Sinne des Wortes fließende Übergänge haben bei den Maßnahmen, die zu treffen sind, mit ihren Auswirkungen beim jeweiligen Nachbarbundesland, zwischen Berlin und Brandenburg allein. Wenn wir die Geschäfte schließen oder die Brandenburger, hat es Auswirkungen. Das muss man miteinander abstimmen. Wir müssen einen Kompromiss finden zwischen den Ländern, die sehr niedrige Inzidenzen haben und denen, die sehr hohe Inzidenzen haben. Das heißt, man muss sich aufeinander zubewegen und kann nicht einfach sagen: In Berlin ist die Situation so oder so, und dann handele ich, es ist mir doch egal, was die anderen sagen. Nein, alles das führt dazu, dass wir tatsächlich die Öffentlichkeit, die Berlinerinnen und Berliner, wahrscheinlich auch in Zukunft immer wieder damit konfrontieren müssen, dass Dinge anders oder neu entschieden werden, auf Grundlage der Umstände, die ich Ihnen hier gerade beschrieben habe. Ich weiß, es ist keine einfache Situation.

Tatsächlich sind wir, glaube ich, jetzt wieder in so einer Phase. Die Novemberbeschlüsse haben etwas gebracht. Wir konnten die Infektionsdynamik bremsen. Wir konnten sie sogar leicht wieder abflachen, diese Infektionskurve, aber eben nicht genug. Im Gegenteil, wir sehen sogar in den letzten Tagen geht es sogar ein Stück wieder hoch. Wir waren schon einmal bei einer Inzidenz von 170 und sind jetzt ungefähr bei 190.

[Marc Vallendar (AfD): Das ist normal!]

Das heißt, wir haben etwas erreicht, aber nicht das, was nötig ist für einen umfangreichen Gesundheitsschutz, für einen besseren Gesundheitsschutz für die Berlinerinnen und Berliner. Wir haben, ich glaube, Herr Saleh hat auch das angesprochen, bundesweit Tage mit über 500 Toten. Wir haben in Berlin inzwischen seit vielen Tagen zweistellige Todeszahlen: pro Tag 15, 30, 33. Das ist alles nichts, womit man sich abfinden kann. Ich sage es auch einmal wieder ganz persönlich, weil ich auch persönlich angesprochen wurde, ob mir denn bestimmte Dinge egal sind. In der letzten Woche gab es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis vier Fälle: Ein älteres Ehepaar kam gemeinsam auf die Intensivstation, zwei andere sind verstorben, letzte Woche. Ich glaube, es geht hier inzwischen vielen so auch im Parlament, die merken, dass die Einschläge näherkommen. Es hat sich etwas verändert. Es ist alles nicht mehr weit weg und anonym, sondern ist auf einmal sehr nahe, was es heißt, wenn jemand an Corona erkrankt, was es heißt, wenn jemand auf die Intensivstation kommt.

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

Im Gegensatz zu anderen, die nur darüber reden, rede ich beinahe jeden Tag mit der Charité, mit Prof. Kroemer, Prof. Frey, mit anderen, Frau Dr. Kirchberger und lasse mich beraten. Mir wird erzählt, dass ein 30-jähriger Türke, ein Kerl wie ein Baum, ohne Vorerkrankung auf die Intensivstation kommt, und sie bekommen ihn nicht mehr herunter. Er verstirbt innerhalb weniger Tage. Mich berührt das.

Mir macht es deutlich, dass wir etwas zu tun haben. Wir haben auch deshalb etwas zu tun, nicht, weil uns heute und morgen Betten fehlen, nicht, weil wir das Notfallkrankenhaus haben – das ist noch obendrauf –, sondern auch, weil Vivantes und Charité und auch Private, die uns unterstützen, immer wieder so umorganisieren werden können in den nächsten Wochen, dass sie uns mit Bettenkapazitäten weiterhelfen können. Das eigentliche Problem sind die Fachleute und das Personal.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Ich sage Problem deswegen, weil ich sehe, was wir denjenigen zumuten auf den Intensivstationen. Die arbeiten seit Monaten 24/7. Die können nicht mehr. Was heißt das eigentlich für uns? Was heißt es eigentlich für uns, wenn wir sehen, wie die Situationen in unserer Stadt ist, wenn wir sehen, dass immer mehr Menschen auf die Intensivstation kommen, dass jüngere auf die Intensivstation kommen ohne Vorerkrankungen, Menschen dort sterben und wir erleben, dass das Personal nicht mehr kann. Es liegt nicht daran, dass wir nicht vorausschauend, Herr Luthe, in den letzten Jahren irgendetwas geplant haben. Niemand konnte sich auf eine weltweite Pandemie einstellen. Wir haben Kapazitäten erhöht und, und, und.

[Zuruf von Marcel Luthe (fraktionslos)]

Aber ich kann mir nicht von heute auf morgen dieses wichtige Fachpersonal, diese engagierten und gut ausgebildeten Leute herbeibeschließen, sondern ich muss jetzt sehen, wie ich damit umgehe und den Berlinerinnen Berlinern jeden Tag so gut wie möglich helfen kann. Deswegen muss ich alles tun, um zu verhindern, dass Leute auf der Intensivstation landen. Darum geht es jetzt.