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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ausgangspunkt für die heutige Aktuelle Stunde ist ja das ganze Thema: Impfen und wie gehen wir damit um? Worauf können wir uns vorbereiten? – Ich will gleich zu Beginn ausdrücklich betonen: Ich bedanke mich bei Frau Senatorin Kalayci und Ihrem ganzen Team genauso wie – Herr Saleh hat es schon zu Recht angesprochen – bei Herrn Broemme und seinem ganzen Team, weil es tatsächlich wieder mal gelungen ist, nach der Situation rund um das Notfallkrankenhaus, sehr schnell eine entsprechende Infrastruktur aufzubauen, die wir dringend brauchen, wenn wir jetzt im Dezember höchstwahrscheinlich, hoffentlich, schon mit dem Impfen anfangen können, spätestens aber im Januar.
Ja, tatsächlich, es ist auch nötig, dafür die entsprechende räumliche Situation zu schaffen, die technische Ausstattung bereitzustellen, das Personal entsprechend anzusprechen und vorzuhalten. All das ist wichtig, wenn wir jetzt demnächst mit einem Impfstoff rechnen können, der zu einer echten Entlastung in unserem Gesundheitssystem führt. Für diese Vorbereitung, die sich nicht von alleine macht, die neben dem täglichen Geschäft im Rahmen der Bekämpfung der Pandemie zu leisten ist, für diese Arbeit, liebe Senatorin Kalayci, ein großes Dankeschön an Sie und Ihr Team!
Es ist eben angesprochen worden, und ich will das tatsächlich auch von meiner Seite noch mal unterstreichen: Es ist fantastisch, was die Wissenschaft in diesem Jahr geleistet hat. Ich habe heute wieder in einer Zeitung gelesen – mit einem großen Fragezeichen: Warum geht es jetzt erst los? Warum können wir erst Ende Dezember mit dem Impfen anfangen oder vielleicht sogar erst im Januar? – Man muss sich das wirklich mal vor Augen halten, wir haben so eine Situation noch nie gehabt, weltweit hatten wir sie noch nie, dass die Wissenschaft, die Forschung international vernetzt so gut zusammenarbeitet, dass wir nach rund einem Dreivierteljahr Forschungsarbeit in mehreren Ländern aus mehreren Forschungsinstituten mehrere Impfstoffe zur Verfügung haben, die nun zugelassen und produziert werden können. Das ist eine
spektakuläre, eine aufsehenerregende Leistung der Wissenschaft, die uns hilft, diese weltweite Krise zu bewältigen. Da gibt es nichts rumzumäkeln, sondern da gilt es, mal danke an die Wissenschaft zu sagen, dass so etwas möglich ist.
Auch bei uns bedeutet das, dass wir höchstwahrscheinlich, wie gesagt, es gibt auch noch ein paar Wenns, wenn es gelingt, dass jetzt die Impfstoffe entsprechend zugelassen werden, wenn die Produktion entsprechend anlaufen kann, dass wir damit rechnen können, dass wir im ersten Quartal rund 350 000 Berlinerinnen und Berliner impfen können, dass wir ihnen Sicherheit geben können, eine Perspektive, ein Stück Normalität auch wieder ermöglichen können, mit diesem Impfstoff und mit dieser Infrastruktur, die aufgebaut wurde.
Darüber hinaus passiert viel anderes, Begleitendes, das Sie hier in der Aussprache eben auch schon thematisiert haben – dass wir natürlich ganz konkret auch Schwerpunkte im Bereich der Pflege setzen müssen, um die Menschen da besser zu schützen. Aber auch an dieser Stelle darf man bereits Organisiertes nicht kleinreden. Wir haben knapp 2 Millionen Testkapazitäten jetzt für diese Wochen für die Berliner Pflegeinstitutionen, für die Berliner Pflegeeinrichtungen zur Verfügung gestellt. Wir orientieren uns an Vorgaben, die bundesweit verabredet sind, dass mindestens einmal pro Woche getestet wird. Wir wollen Initiativen ergreifen und umsetzen, dass wir alle zwei Tage zu einer Testung kommen. Wir haben für die Berliner Pflegeeinrichtungen rund 500 000 FFP2Masken zur Verfügung gestellt, um noch mal einen zusätzlichen Schutz zu organisieren. Wir wissen, dass jetzt über das Bundesgesundheitsministerium, über Herrn Spahn, bundesweit auch noch mal für Ältere FFP2Masken angeboten werden, die gegen eine Schutzgebühr abgegeben werden und auch eine zusätzliche Sicherheit darstellen. Ja, es sind Baustein für Baustein weitere Maßnahmen, um über das Thema Impfen und Schwerpunktsetzung insbesondere in der Pflege sowohl bei den zu Pflegenden als auch bei den Beschäftigten mehr Sicherheit zu ermöglichen.
Aber es ist richtig: Wir haben uns darüber hinaus, jenseits des Themas Impfen, mit der Gesamtsituation in Berlin auseinanderzusetzen und wo wir nun insgesamt in der Pandemiebekämpfung stehen. Ich will auch da klar sagen: Bisher ist mir in dem gesamten Zusammenhang in den letzten Monaten Zwerg Allwissend nicht begegnet. Weder in der Politik noch in der Wissenschaft noch in den Redaktionen habe ich bisher einen Menschen getroffen, der von Anfang an wusste, wie es laufen sollte, und auf alles eine Antwort geben konnte und kann. Bis heute! Jetzt weiß ich, Zwerg Allwissend sitzt in der AfDFraktion. Jetzt weiß ich es.
(Marcel Luthe)
Ja, wenn es Polemik wäre! Es ist ja leider ernst. – Ich will an der Stelle auch noch mal sagen: Was Herr Wild hier gesagt hat, ist so dümmlich, dass es sich selbst entlarvt.
Was Sie machen, Herr Pazderski, ist gefährlich und verantwortungslos.
[Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP – Georg Pazderski (AfD): Reden Sie keinen Unsinn! Was Sie machen, ist gefährlich und verantwortungslos!]
Nein, was Sie machen, ist gefährlich und verantwortungslos, weil Sie ganz bewusst immer wieder mit dieser Rhetorik des eigentlich Bedachten und Seriösen Dinge zwischen Bundes- und Landesebene miteinander vermengen, dass Sie ganz bewusst Zuständigkeiten nicht auseinanderhalten,
dass Sie ganz bewusst in Abrede stellen, wo es Erfolge gegeben hat,
dass Sie ganz bewusst widersprechen, dass bestimmte Dinge hier umgesetzt wurden. Das machen Sie ganz bewusst, um Menschen zu verunsichern,
weil Sie wissen, dass Sie davon politisch profitieren, und das ist schändlich, wenn es um die Gesundheit von Menschen geht.
So schlicht und ergreifend ist es.
Nein! – Und ja, wir haben viel entschieden, und wir haben auch viel erreicht. Ich werde auch gleich sagen, wa
rum wir bei manchem noch nicht hinreichend gut waren oder genug erreicht haben. Aber wir haben viel erreicht und viel entschieden, von Anfang an. Es ist hier sogar von der Opposition thematisiert worden, dass seit März schon entschieden wurde, Dinge abgesagt wurden, im Wirtschaftsleben viel heruntergefahren wurde. Sie können uns allen hier glauben, das ist niemandem leichtgefallen. Ich habe es das letzte Mal in der Regierungserklärung schon gesagt, wir haben Jahrzehnte, kann man beinahe sagen, parteiübergreifend dafür gearbeitet, dass wir uns nach diesen schwierigen Wendejahren wirtschaftlich erholen. Die Arbeitslosigkeit ist runtergegangen.
Wir sind eine internationale Metropole mit Tourismus, Messen, Kongressen und allem drum und dran.
Wir haben Hunderttausende neue Arbeitsplätze geschaffen, und innerhalb von Wochen waren die weg wegen des Lockdowns.
Wir haben entschieden, weil wir Menschen schützen wollten. Darum geht es. Das reden Sie alles klein und runter. Nein, wir haben es entschieden. Wir haben das Gesundheitssystem gestärkt,
nicht nur durch das Notfallkrankenhaus. Wir haben es gestärkt durch gezielte Investitionen und finanzielle Unterstützung. Man muss sich einmal ernsthaft mit Vivantes und Charité auseinandersetzen, denn dann weiß man, was da alles passiert ist.
Wir haben zusätzlich eingestellt. Wir fahren die Ausbildungskapazitäten hoch. Alles das ist passiert.
In den letzten Monaten ist immer wieder auch nachjustiert und nachgeschärft worden. Ich weiß auch, weil ich mich auch mit vielen unterhalte und weil ich die Rückmeldung bekomme, dass natürlich viele auch fragen: Mensch, aber wenn ihr im März schon so weit ward, warum dann im Sommer auf einmal Lockerungen? Warum jetzt im November wieder Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz? Warum müssen die jetzt im Dezember vielleicht nachgeschärft werden? – Ich will es Ihnen erklären. Es gibt mehrere Gründe, warum das so ist, warum wir auch immer wieder nachjustieren müssen.
Das eine ist tatsächlich auch, dass die Beratung der Wissenschaft für uns in der Politik von entscheidender
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Bedeutung ist und dass die Beratung der Wissenschaft eben nicht nur eine Meinung wiedergibt von einem Virologen oder Epidemiologen, sondern dass es viele Institute gibt, die auch unterschiedliche Erkenntnisse haben, dass sich Erkenntnisse der Wissenschaft auch weiterentwickeln.
Das sage ich ohne Vorwurf, es ist gut, dass sich die Wissenschaft immer wieder selbst prüft und neue Erkenntnisse einfließen lässt. Es gibt immer noch viele Dinge, die wir bis heute nicht wissen. Warum ist es so, dass wir uns vielleicht hier heute in dieser Sitzung anstecken, und der eine erkrankt schwer und landet auf der Intensivstation, und der andere hat nicht einmal leichte Symptome? – Wir wissen es heute noch nicht trotz der Arbeit der Wissenschaft. Warum ist die Situation bei den Kindern so, dass sie sich zwar auch infizieren oder Infektionen weitergeben, aber zum Glück nicht schwer erkranken? – Wir wissen es noch nicht. Es gibt immer noch viele Fragen. Mit den nächsten Erkenntnissen der Wissenschaft werden wir vielleicht wieder andere Entscheidung auch treffen und nachjustieren müssen. Das ist ein Grund, warum man immer wieder auch zu neuen Beschlussfassungen kommt.
Ein Grund ist natürlich, dass wir nicht ewig, wie es im Frühjahr der Fall war, auch aus der Dramatik heraus, aus der Situation, die zu bewältigen war, doch nicht ewig Grundrechte einschränken können.
Sie haben es hier im Parlament, Regierung wie Opposition, zu Recht thematisiert und haben gesagt, Demonstrationsrecht, Religionsfreiheit sind Grundrechte, da darf man vielleicht in wirklichen Krisen und Ausnahmesituation für einen begrenzten Zeitraum herangehen, aber doch nicht für einen langfristigen Zeitraum.
Sie haben recht. Also muss die Politik doch dann auch wieder anders entscheiden, muss Dinge zulassen, Gottesdienste zulassen, mit Regeln, mit Auflagen, Demonstrationen zulassen, mit Regeln und Auflagen. Also kommt eine neue Beschlussfassung der Politik.
Der nächste Punkt, der zu berücksichtigen ist, ist doch, dass wir die Situation in der Schule ganz besonders zu betrachten haben. Ich bleibe dabei – ich sage gleich noch im Verlauf der Rede etwas dazu, wie wir damit umgehen wollen –, dass es mir wichtig ist, so weit wie möglich im Präsenzunterricht zu unterrichten.
Natürlich! Warum wieder? Wir haben die Schulen doch schon einmal zugemacht, und wir haben gelernt. Wir wissen jetzt von der Wissenschaft einiges mehr, immer noch nicht alles. Wir haben Erfahrung gesammelt. Wir haben Rückmeldungen der Eltern und der Lehrerinnen
und Lehrer. Also muss sich Politik prüfen und auch wieder anders entscheiden.
Der nächste Grund, warum es so ist, dass Entscheidungen auch verändert werden, ist, dass wir schlichtweg Kompromisse finden müssen, auch zwischen 16 Bundesländern. Ich glaube, dass es ein wichtiges und hohes Gut ist, möglichst lange zusammenzubleiben zwischen den Bundesländern, schon weil wir eben auch im wahrsten Sinne des Wortes fließende Übergänge haben bei den Maßnahmen, die zu treffen sind, mit ihren Auswirkungen beim jeweiligen Nachbarbundesland, zwischen Berlin und Brandenburg allein. Wenn wir die Geschäfte schließen oder die Brandenburger, hat es Auswirkungen. Das muss man miteinander abstimmen. Wir müssen einen Kompromiss finden zwischen den Ländern, die sehr niedrige Inzidenzen haben und denen, die sehr hohe Inzidenzen haben. Das heißt, man muss sich aufeinander zubewegen und kann nicht einfach sagen: In Berlin ist die Situation so oder so, und dann handele ich, es ist mir doch egal, was die anderen sagen. Nein, alles das führt dazu, dass wir tatsächlich die Öffentlichkeit, die Berlinerinnen und Berliner, wahrscheinlich auch in Zukunft immer wieder damit konfrontieren müssen, dass Dinge anders oder neu entschieden werden, auf Grundlage der Umstände, die ich Ihnen hier gerade beschrieben habe. Ich weiß, es ist keine einfache Situation.
Tatsächlich sind wir, glaube ich, jetzt wieder in so einer Phase. Die Novemberbeschlüsse haben etwas gebracht. Wir konnten die Infektionsdynamik bremsen. Wir konnten sie sogar leicht wieder abflachen, diese Infektionskurve, aber eben nicht genug. Im Gegenteil, wir sehen sogar in den letzten Tagen geht es sogar ein Stück wieder hoch. Wir waren schon einmal bei einer Inzidenz von 170 und sind jetzt ungefähr bei 190.
Das heißt, wir haben etwas erreicht, aber nicht das, was nötig ist für einen umfangreichen Gesundheitsschutz, für einen besseren Gesundheitsschutz für die Berlinerinnen und Berliner. Wir haben, ich glaube, Herr Saleh hat auch das angesprochen, bundesweit Tage mit über 500 Toten. Wir haben in Berlin inzwischen seit vielen Tagen zweistellige Todeszahlen: pro Tag 15, 30, 33. Das ist alles nichts, womit man sich abfinden kann. Ich sage es auch einmal wieder ganz persönlich, weil ich auch persönlich angesprochen wurde, ob mir denn bestimmte Dinge egal sind. In der letzten Woche gab es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis vier Fälle: Ein älteres Ehepaar kam gemeinsam auf die Intensivstation, zwei andere sind verstorben, letzte Woche. Ich glaube, es geht hier inzwischen vielen so auch im Parlament, die merken, dass die Einschläge näherkommen. Es hat sich etwas verändert. Es ist alles nicht mehr weit weg und anonym, sondern ist auf einmal sehr nahe, was es heißt, wenn jemand an Corona erkrankt, was es heißt, wenn jemand auf die Intensivstation kommt.
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Im Gegensatz zu anderen, die nur darüber reden, rede ich beinahe jeden Tag mit der Charité, mit Prof. Kroemer, Prof. Frey, mit anderen, Frau Dr. Kirchberger und lasse mich beraten. Mir wird erzählt, dass ein 30-jähriger Türke, ein Kerl wie ein Baum, ohne Vorerkrankung auf die Intensivstation kommt, und sie bekommen ihn nicht mehr herunter. Er verstirbt innerhalb weniger Tage. Mich berührt das.
Mir macht es deutlich, dass wir etwas zu tun haben. Wir haben auch deshalb etwas zu tun, nicht, weil uns heute und morgen Betten fehlen, nicht, weil wir das Notfallkrankenhaus haben – das ist noch obendrauf –, sondern auch, weil Vivantes und Charité und auch Private, die uns unterstützen, immer wieder so umorganisieren werden können in den nächsten Wochen, dass sie uns mit Bettenkapazitäten weiterhelfen können. Das eigentliche Problem sind die Fachleute und das Personal.
Ich sage Problem deswegen, weil ich sehe, was wir denjenigen zumuten auf den Intensivstationen. Die arbeiten seit Monaten 24/7. Die können nicht mehr. Was heißt das eigentlich für uns? Was heißt es eigentlich für uns, wenn wir sehen, wie die Situationen in unserer Stadt ist, wenn wir sehen, dass immer mehr Menschen auf die Intensivstation kommen, dass jüngere auf die Intensivstation kommen ohne Vorerkrankungen, Menschen dort sterben und wir erleben, dass das Personal nicht mehr kann. Es liegt nicht daran, dass wir nicht vorausschauend, Herr Luthe, in den letzten Jahren irgendetwas geplant haben. Niemand konnte sich auf eine weltweite Pandemie einstellen. Wir haben Kapazitäten erhöht und, und, und.
Aber ich kann mir nicht von heute auf morgen dieses wichtige Fachpersonal, diese engagierten und gut ausgebildeten Leute herbeibeschließen, sondern ich muss jetzt sehen, wie ich damit umgehe und den Berlinerinnen Berlinern jeden Tag so gut wie möglich helfen kann. Deswegen muss ich alles tun, um zu verhindern, dass Leute auf der Intensivstation landen. Darum geht es jetzt.
Nein!
Es gibt Einschränkungen, und es wird weiter Einschränkungen geben. Auch da möchte ich noch mal auch aus eigener Betroffenheit sagen. Mir muss keiner erzählen, wie es kleinen Selbstständigen und Handwerkern geht. Auch im Gegensatz zu vielen anderen, die darüber reden, habe ich es selbst erlebt.
Ich komme aus einer Familie von Einzelhändlern und Handwerkern. Ich weiß, was es heißt, wenn kein Kunde kommt oder wenn die Gewerbemiete nicht zu bezahlen ist, weil man nicht genug Umsatz hat. Das weiß ich alles. Aber was heißt denn das jetzt für die Pandemiebekämpfung? Wir lassen einfach alles weiter auf? Wie wollen wir das denn gegenrechnen? Wie viele Tote ist uns denn jetzt ganz konkret ein Shoppingerlebnis wert? Wie viele Tote wollen wir denn in Kauf nehmen für einen schönen Restaurantbesuch, für ein Candle-Light-Dinner, wie viele Tote für einen Kinobesuch?
Ich will es einmal konkret hören von denen, die da ständig kritisieren. Ich weiß, dass das Belastungen und Einschränkungen sind, aber wir sind in einer weltweiten Krise, die nicht wegzudiskutieren ist. Es gibt einen Abwägungsprozess, und es stimmt, in einem Abwägungsprozess kommen vielleicht einige hier im Parlament zu einem anderen Ergebnis. Ich komme immer wieder, jeden Tag, in diesem Abwägungsprozess zu dem Ergebnis: Die Gesundheit der Berlinerinnen und Berliner ist mir wichtiger als ein Shopping-Erlebnis. Ich kann es nicht wegdiskutieren. Es ist so.
Und weil es uns nicht schnuppe ist, was auf der anderen Seite passiert, gibt es die Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen. Und ich sage gerne, da bricht mir kein Zacken aus der Krone: Das könnte vielleicht besser organisiert sein. Haben Sie recht! Mich ärgert es auch, dass die Novemberhilfen noch nicht ausgezahlt sind. Mich ärgert es auch, dass da Erbsenzählerei gemacht wird, anstatt, so wie wir es in Berlin bei den Soloselbstständigen gemacht haben, schneller auch mal überwiesen und im Nachhinein überprüft wird.
Ja, richtig, aber es ändert nichts an dem grundsätzlichen Weg und dem Abwägungsprozess. Wir sind jetzt wieder in einer solchen Situation. Wir werden am Dienstag im Senat alle Varianten noch mal hoch- und runterdiskutieren. Ich bin in der Koordination dieses bundesweiten Vorgehens, und es zeichnen sich Dinge ab, die sehr breit getragen werden von A- wie B-Ländern, natürlich inklusive Thüringen, auch in Baden-Württemberg, wo alle Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sagen:
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Da gibt es Handlungsfelder, da können wir nicht mehr drumherum reden. Es geht eben darum, bundesweit weiterhin oder noch stärker als bisher Kontakte zu vermeiden. Ich will wieder das Beispiel Schule nennen. Ich bleibe dabei, wie wichtig mir der Präsenzunterricht ist. Wir haben tatsächlich – Frau Scheeres hat es mir eben noch mal bestätigt – bei unseren Untersuchungen nach wie vor das Ergebnis, dass es sehr wenig Infektionsauffälligkeiten an der Schule bei den Schülerinnen und Schülern gibt.
Trotzdem komme ich zu dem Ergebnis, wir müssen da etwas machen, Herr Czaja, weil ich nicht wegdiskutieren kann, dass es auch an der Schule Infektionen gibt. Die werden reingetragen in die Schule und rausgetragen, keine besonderen Auffälligkeiten, aber natürlich auch Infektionen. Ich kann nicht wegdiskutieren, dass es im Umfeld der Schule viele Kontakte gibt durch die Eltern, die ihre Kinder hinbringen oder abholen, durch die Lehrerinnen und Lehrer, durch bestimmte Projekttage, durch schulexterne Personen, die sich dann in der Schule aufhalten und, und, und. Es gibt wahnsinnig viel Kontakte durch Schulgeschehen, durch den Unterricht. Wir müssen Kontakte vermeiden. Wir müssen sie in der Kultur, im Wirtschaftsleben, in der Schule, bei allen möglichen Varianten, die uns zur Verfügung stehen, vermeiden.
Aus diesem Grund komme ich auch zu dem Ergebnis – und will das am Dienstag dem Senat vorschlagen, und, wie gesagt, wir werden das miteinander beraten, ich denke, das ist ein gangbarer und nötiger Weg für Berlin –, dass wir natürlich auch unsere Schulferien bis zum 10. Januar 2021 verlängern müssen bzw. es auch eine Variante ist, die Ferien am 4. Januar 2021 enden zu lassen, aber die Schülerinnen und Schüler dann in einer digitalen Form oder auf andere Weise zu unterrichten.
Es ist möglich, jenseits des Präsenzbetriebes in der Schule, jenseits des Unterrichtsangebots in der Schule Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Auf jeden Fall müssen für alle Jahrgänge bis zum 10. Januar 2021 die Schulen geschlossen sein.
Ich glaube aber – und es fällt mir schwer, es zu sagen –, dass es in dem Abwägungsprozess nicht möglich ist, dass wir am nächsten Adventssonntag keinen shoppingfreien Sonntag haben,
dass es nicht möglich ist, dass an diesem Adventssonntag die Geschäfte offen sind. Ich glaube, das ist nicht möglich. Das können wir nicht zulassen.
Ich will Ihnen sagen warum: Ich habe es mir selbst angeguckt am letzten Wochenende.
Wir wissen, wir wollen und müssen alle auch mal Weihnachtsgeschenke einkaufen gehen, ganz normal. Aber ich habe mir am Wochenende angeguckt, was los ist auf dem Tauentzien. Es geht so nicht.
Doch, es ist viel los. Es ist ein dichtes Gedränge auf den Straßen, und wenn ich mir überlege, dass an diesem Adventssonntag noch die Brandenburgerinnen und Brandenburger dazukommen und bei uns einkaufen und dass es dann das typische Weihnachtsfieber gibt und alle wieder sagen: Jetzt muss aber schnell noch irgendetwas her, dann entstehen Situationen im Einzelhandel und auf den Geschäftsstraßen, die wir nicht akzeptieren können.
Es geht nicht, meine Damen und Herren! Es geht nicht in einer weltweiten Krise, in der Menschen sterben, dass wir sagen, uns ist dieser Adventssonntag wichtiger.
Deswegen komme ich zu dieser Abwägung.
Wir werden darüber hinaus – ich kann Ihnen noch nicht konkret den Tag sagen, ob es der 23. oder 20. ist, weil wir das auch mit Brandenburg abstimmen müssen und abstimmen wollen – den Einzelhandel herunterfahren müssen. Jenseits vom Lebensmitteleinzelhandel müssen andere Shopping-Angebote geschlossen werden,
und zwar auch bis zum 10. Januar 2021. Es geht nicht anders.
Wir werden daran festhalten, dass wir bei der strengeren Berliner Regelung bleiben mit den fünf Kontakten über die Weihnachtsfeiertage und die Zeit zwischen den Feiertagen. Es ist einfach nötig.
Nein, es ist nicht Nötigung der Bürger, nein! Und es ist auch gut, dass im Gegensatz zu Ihnen eine übergroße Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger versteht, dass in einer Krise nicht alles möglich ist. Das ist auch das Gute.
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Ich finde, die Kanzlerin hat es gestern richtig auf den Punkt gebracht. Es muss sich jeder selbst prüfen. Wir wissen alle, die Politik kann und wird nicht hinter jede Wohnungstür gucken.
Wir können nicht alles überprüfen und überwachen, und das ist auch gut so, dass wir das nicht können.
Umso wichtiger ist die Eigenverantwortung, und die Bürgerinnen und Bürger sind zum überwiegenden Teil eigenverantwortlich und wissen, dass vieles nicht geht. Ich sage es hier noch mal: Jeder muss sich das selbst fragen: Ist wirklich innerhalb Deutschlands eine Reise zu den Verwandten im Rahmen der Weihnachtsfeiertage nötig,
oder kann man nicht auch darauf verzichten? Ist es nötig, Heiligabend zusammenzukommen mit acht oder zehn Menschen, oder kann man nicht auch darauf verzichten?
Ist es nötig, tatsächlich Silvester im großen Freundeskreis zu feiern, oder geht es nicht in diesem Jahr auch mal anders? Ich glaube, alles das geht, und alles das ist auch machbar und umsetzbar.
Zum dritten Mal: Es ist eine weltweite Krise, die nicht wegzudiskutieren ist, und in einer Krise muss man anders handeln als in normalen Zeiten. Ich glaube, mit den Maßnahmen bis zum 10. Januar 2021 den Einzelhandel runterzufahren, den Schulbetrieb im Präsenzunterricht einzustellen, die Kontakte zu reduzieren, insgesamt keine Reisetätigkeit zu haben, viele werden nicht arbeiten gehen in dieser Zeit,
ich glaube, diese zweieinhalb, drei Wochen ermöglichen uns ganz viel an Gesundheits- und Infektionsschutz. Es gibt dann in diesen Phasen deutlich weniger Kontakte, dass es uns wieder gelingen kann, die Inzidenzen deutlich herunterzufahren, die Kontaktverfolgung wieder deutlich besser zu organisieren, Menschen besser zu schützen und unsere Intensivstationen zu entlasten. Wenn Sie den Satz hören wollen sage ich ihn gerne: Ich kann es nicht garantieren.
Kein Ministerpräsident, keine Ministerpräsidentin, keine Kanzlerin kann es garantieren, kein Wissenschaftler. Aber wir haben damit alle Chancen, die wir uns eröffnen,
um auch die entlastende Zeit zu erreichen, bis wir deutlich mehr Impfstoffe zur Verfügung haben, Menschen impfen und sie auch auf diesem Wege schützen können.
Ja, das ist kein normales Jahr, und es sind auch keine normalen Feiertage, die vor uns liegen.
Es sind Feiertage, die wir im kleinsten, im engsten Familienkreis sehr wohl miteinander begehen können. Es sind Feiertage, in denen wir uns vielleicht noch einmal bewusst machen können, was wir gemeinsam schon erreicht haben, um Menschen zu schützen, und was wir gemeinsam noch tun müssen, um weiter Menschen zu schützen, gerade Menschen, die uns nahestehen in unserem Freundes- und Familienkreis. In diesem Sinne bitte ich Sie weiterhin um die Unterstützung und Solidarität für unseren politischen Weg. – Vielen Dank!
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Weder das eine noch das andere trifft zu, sondern ich habe das wiedergegeben, was mir direkt von den Verantwortlichen in der Charité berichtet wurde. Möglicherweise ist das an dem Tag davor passiert, möglicherweise ist derjenige nicht 30, sondern 31 Jahre alt. Es ging darum, deutlich zu machen, um welche Patientengruppe es sich handelt und wie schnell es dann leider solch einen dramatischen Verlauf nehmen kann, dass auch Menschen ohne Vorerkrankung daran versterben können – und dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich habe ja gerade gesagt: Meinen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. – Ich bin mir sehr sicher, dass ich mich auf die Angaben der Charité verlassen kann, aber man kann gern noch einmal fragen, wann was in welchen Statistiken gemeldet wird und auftaucht.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter Otto! Man denkt immer, es ist nicht zu toppen. Die AfD macht uns vor, es geht immer noch schlimmer.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Grasse! Erst einmal haben Sie recht: Wir haben Spitzenforschung in Berlin, und ich glaube, das ist eine hervorragende Entwicklung, für die wir alle gemeinsam in den letzten Jahren viel getan haben, und das sollten wir auch weiterhin unterstützen.
Zweitens: Es ist richtig, dass wir sehr sensibel mit dem ganzen Bereich der Tierversuche umgehen und genau hinsehen, wie das umgesetzt wird. Ich habe – nicht jetzt durch die aktuelle Situation, sondern schon in den letzten zwei, drei Jahren – mir immer wieder auch vor Ort ein Bild gemacht durch direkte Besuche beim MDC in Buch, dem Campus Charité Mitte und dem Einstein-Zentrum für alternative Methoden in der biomedizinischen Forschung.
In den letzten Jahren habe ich mir vor Ort angeschaut, wie sich auch in diesem Bereich der Forschung etwas verändert und wie sich neue Möglichkeiten erschließen, Versuchsreihen zu gestalten. Es gibt wirklich hervorragende Ansätze für Alternativen zu Tierversuchen, die umgesetzt werden: Bei den Tieren, die eingesetzt werden, versucht man, die Belastung zu vermeiden – mit hervor
ragenden Ergebnissen –, und es werden auch deutlich weniger Tiere eingesetzt, als das in früheren Jahren nötig war.
Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Ich freue mich sehr darüber, dass wir tatsächlich auch eine Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben, die damit ganz anders umgeht als in früheren Jahrzehnten und sich sehr bewusst ist, dass das hier auch in der öffentlichen Diskussion ein sehr sensibler Bereich ist, in dem man anders handeln muss als in früheren Jahren. Das finde ich gut und unterstütze das auch.
Aber – jetzt kommt das Aber – es gehört zur Wahrheit dazu: So gut diese Ansätze sind, wir können noch nicht in allen Bereichen komplett auf Tierversuche verzichten.
Das ist leider so. Es ist bedauerlich, aber es ist leider noch so, auch Stand der Wissenschaft und Forschung. Insofern sind wir jetzt genau an diesem Punkt, wo wir die Kommissionen, die den Einsatz von Tierversuchen bewerten, gut organisieren müssen, damit wir einerseits dem Tierwohl gerecht werden und andererseits aber auch weiter Spitzenforschung ermöglichen. In dieser Phase sind wir jetzt gerade. Die beteiligten Verwaltungen sind dazu in enger Abstimmung. Ich kann Ihnen sagen, wir werden da auch sehr schnell ein vernünftiges Ergebnis haben. Unter zwei Gesichtspunkten ist das allen Mitgliedern des Senats auch wichtig, dass wir da vorankommen.
Erstens: Wir wollen, noch einmal, Spitzenforschung weiter ermöglichen und unterstützen. Zweitens: Das ist vielleicht nicht das wichtigste Argument, aber für mich ist es ein wichtiges Argument, dass mit diesem Bereich von Wissenschaft und Forschung Arbeitsplätze und Investitionen verbunden sind. Dort, wo wir in den letzten Jahren am meisten an Investitionstätigkeit verbunden mit konkretem Arbeitsplatzaufbau erreichen konnten, hat es immer eine Schnittstelle zu Wissenschaft und Forschung gegeben, ausnahmslos, ob Bayer, Siemens oder andere, die zu uns gekommen sind. Sie suchen die Schnittstelle zu Wissenschaft und Forschung. Wir dürfen nicht riskieren, dass es dort zu einem Abbruch kommt. Im Gegenteil, es muss stetig nach oben gehen.
Zweitens ist mir besonders wichtig, dass wir gerade in dieser Phase dieses Gesundheitsrisikos und der Pandemiebekämpfung doch auch wissenschaftliche Erkenntnisse weiter brauchen. Es ist doch aufsehenerregend, dass wir es wahrscheinlich schaffen, innerhalb von 15, 16 Monaten gemeinsamer internationaler wissenschaftlicher
(Senatorin Dilek Kalayci)
Arbeit zu einem Impfstoff zu kommen. Daran müssen wir doch weiter ein Interesse haben. Es ist eben, noch einmal, leider im Moment nur durch den Einsatz von Tierversuchen möglich, die in diesem Bereich noch unabdingbar sind. Insofern haben wir alle ein Interesse daran, dass es in diesem Bereich weiter vorangeht, aber mit dem nötigen Augenmaß und der Sensibilität. Das werden wir auch gemeinsam so formulieren, dass es einerseits dem Tierwohl gerecht und der Tierschutz berücksichtigt wird und andererseits Wissenschaft und Forschung weiter gut arbeiten können in unser aller Interesse.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Grasse! Sie tragen einen Zwischenstand in dieser Diskussion vor, einen Vorschlag auch der Justizverwaltung, die nun einmal die Aufgabe hat, sich genau mit diesen Tierschutzfragen auseinanderzusetzen. Ich sage es noch einmal: Es gibt in der Wissenschaftsverwaltung auch eine andere Position. Wir müssen und werden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Buchholz! Ich habe doch eben ein gemeinsames Interesse betont. Ich habe dazu noch keine andere Position im Senat gehört. Es gibt viele Gründe, dass wir hier zu einem guten abgestimmten Ergebnis kommen, dass alle Interessen berücksichtigt. Das ist nicht einfach. Es ist jetzt auch eine neue Verabredung, die hier für die nächsten Jahre zu treffen ist, wie die Kommission zusammengesetzt ist und wie sie arbeitet. Ich möchte daran erinnern, auch dieses Parlament hat sich damit schon auseinandergesetzt im Zusammenhang mit dem Tierschutzverbandsklagerecht – ich hoffe, ich habe es richtig zitiert. Auch das macht deutlich, dass Parlament und Senat das Anliegen und Handlungsbedarf sehen. Ich betone noch einmal, es ist ein Abwägungsprozess auch zu den Interessen der Wirtschaft und der Wissenschaft, die eben auch für die Grundlagen, die gerade in der Pandemiebekämpfung für uns so wichtig sind, unverzichtbare Partner sind. Wir werden auf dieser Grundlage zu einem guten Ergebnis kommen.
Das sind die schönsten Situationen für einen Bürgermeister. – Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Wir müssen das offensichtlich nachrecherchieren. Im Moment haben die beteiligten Verwaltungen keine direkten Kenntnisse über den Sachstand. Wir müssen das nachrecherchieren und Ihnen dann nachliefern.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Wie Sie sehen, ist offensichtlich tiefere und umfangreichere Recherchearbeit nötig. Die wird nachgeholt. Sie haben alle Chancen, nicht nur im Ausschuss, auch über Schriftliche Anfragen den Sachstand zu eruieren. Aber ich sage es Ihnen zu: Wir werden es ermitteln, und Sie bekommen eine Antwort.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Ich glaube, wir haben dazu mehrfach, ich auch, hier im Plenum Stellung genommen. Es ist keine einfache Vertragskonstruktion, die mit einem Privaten verhandelt und aufgelöst werden muss, aber es sind jetzt die Rahmenbedingungen dafür verhandelt. Insofern werden wir das jetzt schnellstmöglich, wie angekündigt, auch in den nächsten Monaten umsetzen, sodass wir eigenverantwortlich mit diesem Auftritt umgehen können. Das war, glaube ich, ein gemeinsames Anliegen von Senat und Parlament, und da sind wir in den letzten Wochen in den Umsetzungen und Verhandlungen gut vorangekommen.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter! Es tut mir leid. Zu den Finanzen habe ich es nicht präsent, wie dann die Rahmenbedingungen sein werden. Wir werden jetzt, wie gesagt, sehr zügig mit dem ganzen Verfahren vorankommen und wollen es zu Beginn des nächsten Jahres entsprechend umsetzen. Ich denke, dass ich Ihnen dazu in der nächsten Sitzung oder im Rahmen einer Ausschussberatung eine Antwort geben kann. Ich habe es aber im Moment nicht präsent.
Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter Buchholz! Nun müssen sich ja Werbeeinnahmen und Qualität nicht zwingend ausschließen,
sondern man kann sehen, wie man einen guten werblichen Auftritt im Sinne der Stadt und des Stadtmarketings mit Partnern, mit privaten Partnern und einem entsprechenden Werbeauftritt und Einnahmen organisiert und wie man gleichzeitig qualitative Ansprüche erfüllt.
Was uns in der zurückliegenden Zeit bewegt hat, war weniger die Frage der direkten Kosten – Einnahmen wie Ausgaben der Kostensituation –, sondern es war der Punkt: Wie können wir auf Inhalte Einfluss nehmen? Wir hatten öfter die ungute Situation – Sie haben das fraktionsübergreifend auch zu Recht kritisiert –, dass der Eindruck erweckt wurde, dass sich die Stadt zu bestimmten Themen äußert, obwohl es auf den ausschließlich privat verantworteten Seiten passiert ist. Das ist der entscheidende Punkt, dass ganz klar ist: Hier gibt es einen Stadtauftritt aus einem Guss. Das muss dann die Stadt auch verantworten, aber es ist klar, auch das, was an politischen Aktivitäten, was an Meinungsäußerungen stattfindet zu diversen gesellschaftspolitischen Debatten, ist dann auch in einer städtischen Verantwortung und nicht von Privaten, die den Eindruck erwecken, dass sich hier die Stadt äußern würde. Das ist der entscheidende Punkt. Den werden wir auflösen. Und, wie gesagt, die Finanzfragen und der ganze werbliche Bereich spielen in diesem Zusammenhang auch eine Rolle. Das ist aber nicht der zentrale Punkt in der Debatte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich während meiner Amtszeit innerhalb eines Jahres zwei Mal vor Sie treten muss,
um mit Ihnen gemeinsam über so einschneidende Maßnahmen zu diskutieren, wie wir es heute tun.
Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es nötig ist, mehrfach so einschneidende Maßnahmen zu beschließen, die Spuren hinterlassen in unserer Stadt, die wirtschaftliche Folgen haben, über die manche im Sport, in der Gastronomie, in der Kultur verzweifelt sind.
Wie im März ist allerdings bei mir diesen Maßnahmen ein sehr ernster, ein sehr schwerer, aber auch ein sehr eindeutiger Abwägungsprozess vorausgegangen.
Abgeordnetenhaus von Berlin 18. Wahlperiode
1. November 2020
Kann man sagen, in dieser Situation, in der wir uns befinden, muss jedes Lokal, jedes Geschäft offen bleiben?
Kann man in dieser Situation sagen, jede Feier muss genau jetzt gefeiert werden?
Kann man berechnen, wie hoch der Schaden ist, wenn all das jetzt nicht stattfindet? – Es gibt etwas, wozu man aus meiner Sicht keine Rechnung aufmachen kann: wenn es darum geht, Gesundheit zu schützen und Leben zu retten.
Ich bin in die Politik gegangen – wie Sie, wie die meisten von Ihnen –, um Dinge zu ermöglichen, um Arbeit sicherzustellen, um Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen, um sozialen Ausgleich zu organisieren, um ein gutes Leben in unserer Stadt voranzubringen. Und jede Maßnahme, jeder Beschluss, den wir auf diesem Weg treffen, kann korrigiert werden. Wir können uns irren. Wir können umsteuern. Wir können Dinge neu verabreden. Wir können Wirtschaftshilfen miteinander verabreden und auszahlen. Hilfsprogramme können formuliert werden. Nur eines ist nicht zu korrigieren: wenn man nicht alles getan hat, um Leben zu schützen. Und genau darum geht es jetzt. Das ist der Punkt, der mich bewegt und weshalb ich diese einschneidenden Maßnahmen, über die wir heute diskutieren, weshalb ich diese Maßnahmen und diesen Beschluss von Bund und Ländern aus voller Überzeugung mittragen und heute hier vertreten kann.
Ich bitte die Berlinerinnen und Berliner und Sie im Parlament erneut um Unterstützung. Ich will mich als Allererstes bei Ihnen bedanken, dass Sie bereit waren, auch an
einem Sonntag zu dieser Sondersitzung zusammenzukommen, damit wir darüber diskutieren können, wie wir uns gegenseitig helfen und unterstützen können. Ich will an dieser Stelle ganz eindeutig sagen: Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, dass das Parlament stärker in diese Beschlussfassung und diese Diskussion einbezogen sein muss.
Wir hatten miteinander Kontakt, ob über den Ältestenrat, die Runde der Fraktionsvorsitzenden, die Koalitionsfraktionen. Die Fraktionsvorsitzenden nehmen an den Senatssitzungen teil. Wir hatten Ausschuss- und Parlamentsberatungen, aber das gleicht nicht eine parlamentarische Debatte und eine Beschlussfassung hier im Parlament aus.
Deswegen ist es richtig, dass wir gemeinsam sehen, dass wir zu einem anderen Rechtsrahmen kommen. Wir haben gelernt, dass wir uns nicht nur kurzfristig mit Corona, mit dieser Pandemie auseinandersetzen müssen, sondern dass sie uns langfristig beschäftigen wird. Wir haben gelernt, dass möglicherweise sogar Eingriffe in unsere Grundrechte nötig waren, hoffentlich nicht wieder nötig sein werden, aber dass das einer parlamentarischen Auseinandersetzung bedarf. Wir wissen, es geht nicht darum, dass über die Parlamente jedes Detail des Regierungshandelns und jede Verordnung gesteuert werden muss. Wir müssen weiterhin schnell agieren, aber in unserer lebendigen, funktionierenden Demokratie ist eine Auseinandersetzung im Parlament unabdingbar, und wir werden uns selbstverständlich auch als Berliner Senat dieser Auseinandersetzung stellen.
Ich bitte Sie auch deshalb wieder um Unterstützung und Hilfe, weil wir doch schon einmal gezeigt haben, dass wir gemeinsam viel erreichen können. Als im Frühjahr die Infektionszahlen nach oben gingen, als wir sehr unsicher waren, womit wir uns in den nächsten Monaten auseinandersetzen müssen, ist es uns doch gelungen, die Infektionsketten zu durchbrechen. Unser Gesundheitssystem blieb leistungsfähig und war nicht überlastet. Wir hatten im Sommer wenig Schwersterkrankte und Todesfälle zu beklagen. Wir haben damals gemeinsam und mit Augenmaß entschieden. Wir haben beraten und abgewogen. Wir haben Experten angehört im Senat wie hier im Parlament. Wir haben viele Dinge, die bundesweit eine Rolle gespielt haben, natürlich auch bei uns übernommen und trotzdem auch immer für Berlin angepasst das eine oder andere miteinander verabredet. Wenn ich noch daran denke, was es für Aufregung gab, weil wir in Berlin die Spielplätze nicht vonseiten des Senats geschlossen haben oder einige Geschäfte wie Buchhandlungen offengeblieben sind. Ich glaube, solche kleinen Signale waren
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Abgeordnetenhaus von Berlin 18. Wahlperiode
1. November 2020
wichtig, waren nicht nur angemessen, sondern wurden dankbar von den Berlinerinnen und Berlinern aufgenommen.
Ja, es war ein eindeutiger, ein entschlossener Weg, der von uns allen getragen wurde und mit dem wir auch Freiheiten zurückgewinnen konnten.
Veranstaltungen, Theater, Sport waren im Sommer in begrenztem Umfang wieder möglich. Ich glaube, es war für viele, trotz der Belastungen und der Gesundheitsrisiken, ein schöner Sommer.
Ich möchte allen danken, die diesen Weg mitgetragen haben, natürlich im Gesundheitswesen, aber auch in den Schulen, in den Kitas, den Lehrerinnen und Lehrern, den Erzieherinnen und Erziehern, den Verwaltungen. Ich möchte aber darüber hinaus auch den Familien, den Geschäftsleuten danken, allen, die Konzepte erarbeitet haben und die uns deshalb auch mit ihren Ideen, mit ihrer Kreativität so viel ermöglicht haben. Ein großes Dankeschön von uns. Sie haben es mitgetragen.
Sie haben mit dazu beigetragen, dass nicht nur vielen Menschen gut geholfen werden konnte, dass nicht nur viele Menschen gerettet werden konnten, sondern sie haben dazu beigetragen, dass Berlin im Sommer trotz der Belastung eine lebens- und liebenswerte Stadt war.
Umso schwerer, ja bitter, ist es jetzt, erneut um Hilfe und Solidarität zu bitten, aber es muss sein. Die Entwicklung um uns herum ist eindeutig. Überall um uns herum, in ganz Europa, ist der Lockdown schon beschlossen oder kündigt sich an. Sperrstunden sind beschlossen, Ausgangssperren.
Wir haben einen dramatischen Anstieg von Infektionen in fast allen Ländern und leider auch wieder deutlich mehr Todesopfer. In Brüssel, unserer Partnerstadt, direkt vor unserer Haustür, mehren sich die schlimmsten Meldungen. Bald sollen dort alle Intensivbetten belegt sein. Es sind kaum Beatmungsgeräte vorhanden. Lebenswichtige Behandlungen für Erkrankte jenseits von Covid werden verschoben. Ich will kein Brüssel in Berlin. Ich will kein Bergamo. Ich möchte keine Bilder von Kühllastern mit Verstorbenen, die durch New York fahren, wie wir sie im Frühjahr gesehen haben. Ich möchte so etwas nicht für Berlin.
Genau darum geht es, jetzt zu handeln, nicht irgendwann, wenn es zu spät ist. Es ist wichtig, dass wir in der vergangenen Woche eine Verabredung treffen konnten, die bundesweit getragen wird, von allen Bundesländern. Ob Thüringen, ob Bayern, ob Mecklenburg-Vorpommern oder NRW oder Baden-Württemberg, alle Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten wussten, es ist wichtig, jetzt gemeinsam zu handeln.
Alle Bundesländer haben die gleichen Probleme, erst recht alle Großstädte. Wir sehen es aber auch in Berlin. Da gibt es nichts wegzudiskutieren, über nichts hinwegzusehen. Auch bei uns gehen die Zahlen rasant nach oben. Auch bei uns werden die Intensivbetten immer stärker genutzt. Auch bei uns gehen leider die Todeszahlen nach oben. Ja, meine Damen und Herren, deswegen jetzt handeln. Aber wenn man im Detail nachfragt und mit vielen Betroffenen spricht – ich vermute, Ihnen geht es auch so –, bekommt man oft die Antwort: Aber wir sind doch nicht das Problem. Wir haben doch alles gemacht. Wir haben doch jedes Konzept umgesetzt. Sport war kein Problem, weil alle Regeln beachtet werden. In der Kultur – wunderbar – Belüftungssysteme und Zugangsregeln und Onlinetickets. Die verhindern doch, dass es zu Infektionen kommt. Und erst recht im privaten Bereich hält sich jeder an die Regeln, die wir gemeinsam miteinander formuliert haben. – Wie kommt es denn dann zu den Zahlen?
Sie sind eindeutig. Sie gehen eindeutig nach oben.
Ja, es kommt weiterhin von Kontakten. Es ist so. Auch dort, wo Regeln in den Veranstaltungen selbst gut beachtet und umgesetzt werden, gibt es auf dem Weg dorthin und danach, am Rande der Veranstaltung Begegnungen und Kontakte. Wir wissen, das ist das Problem. Es geht tatsächlich wieder darum. Dazu gibt es nicht zwei Meinungen, nicht nur in der Politik nicht, sondern auch in der Wissenschaft nicht. Es geht darum, Kontakte zu vermeiden. Das Perfide an dieser Krise ist: Jetzt, wo wir einander so dringend brauchen, noch mehr brauchen, müssen wir auf Distanz gehen. Gemeinsam allein sein, so sind wir nicht gewohnt zu leben. Keine digitale Verbindung kann das ausgleichen. Aber was einfach klingt, will man kaum wahrhaben und ist auch schwer umzusetzen. Es geht darum, zu Hause zu bleiben. Kontakte müssen vermieden werden. Kontakte meiden heißt, Infektionen verhindern. Deswegen haben wir viele Maßnahmen auf der Bundesebene beschlossen, die wir auch im Senat übernommen haben. Kultur- und Freizeiteinrichtungen sind zum größten Teil ab morgen wieder geschlossen. Viele Dienstleistungen, die nicht zwingend erbracht werden müssen, nicht zwingend gebraucht werden, werden eingeschränkt,
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
erst recht die Gastronomie und damit einhergehend, wir wissen es alle, auch die Hotellerie und der Tourismusbereich.
Ich fordere die Unternehmerinnen und Unternehmer auf, zu prüfen, ob es nicht wieder möglich ist, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstärkt im Homeoffice arbeiten. Es geht darum, tatsächlich auch in den Haushalten wieder zu Einschränkungen zu kommen, und das ist besonders bitter. Ja, nur noch zwei Haushalte oder ein Haushalt plus zwei weitere Personen sollen sich im privaten Rahmen treffen. Das dient dem Ziel, eben Kontakte zu vermeiden. Der wichtigste Satz in den Beschlüssen von Bund und Ländern ist: Jede Person ist angehalten, die Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts auf das absolute Minimum zu reduzieren.
Ich appelliere an alle Berlinerinnen und Berliner an dieser Stelle: Nehmen Sie diese Regeln ernst, tragen Sie den Mund-Nasen-Schutz in den Bürohäusern, in den Verkehrsmitteln, in den Geschäften!
Warten Sie nicht, bis irgendwelche Straßen auf irgendwelchen Listen als mögliche Infektionsherde genannt werden! Es ist eigentlich ganz einfach: Überall dort, wo es eng wird und wo man keinen Abstand halten kann, im privaten wie im öffentlichen Rahmen, überall dort muss es sein, überall dort muss man die Maske tragen.
Ich weiß, dass jeder auch mal einen Fehler macht. Jeder ist auch mal nachlässig und kommt einem anderen mal zu nahe, man setzt die Maske mal ein paar Sekunden zu spät auf. Das ist menschlich. Das ist so, aber es bleibt wichtig, dass alle sich bewusst machen, wie wichtig die Regeln unseres Zusammenlebens jetzt sind, und überall dort, wo wir es in der Hand haben und wo wir selbst entscheiden können, kommt es darauf an, auch wirklich zu sagen: Besuche finden jetzt nicht statt, ich bleibe zu Hause.
[Gunnar Lindemann (AfD): Dann bleiben Sie
doch zu Hause! –
Zuruf von der LINKEN: Das ist unerträglich! –
Weitere Zurufe von der SPD, der LINKEN
und den GRÜNEN –
Die sozialen Folgen unseres Handelns zu bedenken, ist wichtig. Wir müssen sie im Blick haben, und genauso wichtig ist es, über die Folgen für unsere Wirtschaft zu sprechen. Unternehmen zu helfen, heißt im Übrigen auch, Arbeitsplätze zu retten und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu helfen. Immer wieder bekomme ich Zuschriften mit Fragen, warum es denn nötig ist, Millionen bis zu Milliarden an Unternehmen auszugeben. Ja, es geht genau darum. Es geht darum, unsere Wirtschaft zu stabilisieren und natürlich auch jenseits der großen Unternehmen vor allen Dingen etwas für die kleinen und Kleinstselbstständigen, für die Soloselbstständigen, viele gerade auch aus dem Kulturbereich, zu tun.
Wir konnten in dieser Woche zwischen Bund und Ländern verabreden, dass noch mal 7 bis 10 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, für schnelle und unbüro
kratische Hilfe, indem die bestehenden Auszahlungssysteme genutzt werden und darüber von Unternehmen neue Anträge gestellt werden. Betriebe mit bis zu 50 Mitarbeitern erhalten 75 Prozent des Umsatzes des Vergleichsmonats des Vorjahres. Also wer aus dem November 2019 seine Umsätze nachweisen kann, bekommt sie zu 75 Prozent ersetzt. Und wir werden selbstverständlich darüber hinaus sehen, was Berlin noch tun muss, wo wir nachsteuern müssen – bei den Vereinen, im Kulturbereich – und wo durch das Agieren des Bundes noch Lücken sind. Wir werden das im Senat miteinander beraten.
Darüber hinaus, lassen Sie mich auch das sagen, ist die Kurzarbeit das wichtigste Instrument, um Arbeitslosigkeit zu verhindern und Arbeitsplätze zu retten.
Ich habe an dieser Stelle noch einmal eine Bitte an den Bund. Angesichts der großen Hilfen für die Unternehmen, Hunderte Milliarden – das finde ich gut und richtig, keine Kritik an der Stelle –, bitte ich aber, auch noch mal auf der Bundesebene zu prüfen, ob das Kurzarbeitergeld nicht wenigstens temporär ab dem ersten Monat auf 70 Prozent aufgestockt werden kann. Gerade dort, wo niedrige Löhne gezahlt werden, ist es für ein gutes Leben und Überleben so wichtig, vom ersten Tag an Hilfe und Unterstützung zu bekommen.
Ja, die Pandemie wird uns noch weiter beschäftigen. Ein weiterer wichtiger Punkt auch für die nächsten Monate wird es sein, wie unsere Maßnahmen kontrolliert werden und wie Tests eingesetzt werden. Bis Medikamente und Impfungen zur Verfügung stehen, werden wir sicherlich viele weitere neue Schritte gehen müssen und Erfahrungen sammeln auch in Bezug auf die Schnelltests, die uns jetzt erst oder jetzt schon – je nachdem, wie man es sieht – zur Verfügung stehen. Ich will aber an dieser Stelle warnen: Die Schnelltests kein Allheilmittel, sie sind ein Baustein. Sie sind ein Baustein, um wieder ein Stück Freiheit zurückzugewinnen. Es ist aber eine schwierige Handhabung. Das, was der Name suggeriert, „Schnelltest“, jeder kann mal zwischen Tür und Angel schnell einen Test machen und dann sehen, ob er in ein Konzert oder zu einem Fußballspiel gehen kann, das ist ein großer Trugschluss.
Fachpersonal wird auch mit Schnelltests umzugehen haben. Wir wissen noch nicht, wie viele Kapazitäten uns in den nächsten Monaten zur Verfügung stehen. Wir werden uns zu Beginn dieser Testverfahren auf diejenigen konzentrieren, die wir ganz besonders im Blick haben müssen, auf Ältere, auf Menschen in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern, auf Menschen mit Vorerkrankungen, auf Menschen, die wir dringend zur Aufrechterhaltung unseres öffentlichen Lebens und der Sicherheit brauchen wie Polizei und Feuerwehr. Darauf werden wir uns beschränken.
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Natürlich bleibt auch die Kontaktnachverfolgung wichtig. Bundesweit ist es schwer. Wir hatten eine Videokonferenz der Bürgermeister der zehn größten Städte. Es gibt keine Unterschiede. Alle haben die gleichen Probleme. Das Problem ist nicht, dass wir nicht einstellen wollen. Das Problem ist nicht, dass wir kein Geld dafür zur Verfügung stellen wollen. Das Problem ist, dass wir nicht in dem Maß, wie wir Unterstützung und Fachpersonal brauchen, es uns einfach herbeibeschließen können. Die Menschen sind nicht da. Insofern müssen wir flexibel handeln, müssen wir unsere Gesundheitsämter mit den unterschiedlichsten Maßnahmen unterstützen. Ja, wir stellen weiter ein. Wir verteilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus anderen Verwaltungen in die Gesundheitsämter. Die Bundesbehörden helfen uns mit Mitarbeitern. Referendare werden mit eingesetzt. Ja, ich kann es mir an dieser Stelle nicht verkneifen: Ich glaube, ist eine gute, eine großartige Hilfe des Bundes, dass er bundesweit, aber eben auch in Berlin die Bundeswehr mit einsetzt und uns unterstützt.
Das sind gute und qualifizierte Leute, die uns schon so oft geholfen haben. Schon in der Flüchtlingskrise haben sie uns geholfen und haben die Infrastruktur mit aufgebaut. Es sind Leute, die in Berlin leben und arbeiten und hier ihre Familien haben, Menschen, die helfen wollen. Ich kann nicht verstehen, wie man aus ideologischen Gründen in einer Krise, einer Gesundheitskrise, diese Hilfe nicht annimmt. Das muss aufhören.
Aber auch hier ist Eigenverantwortung gefragt und Unterstützung, damit es eine Entlastung in diesen sehr angespannten Bereichen gibt. Es muss doch selbstverständlich sein, nach den Monaten der Diskussion und Aufklärung, dass die Menschen im Falle eines positiven Tests zu Hause bleiben und von allein mögliche Kontaktpersonen über dieses Testergebnis informieren. Braucht man dafür wirklich die Aufforderung des Amtsarztes?
Die Ämter werden weiter die Kontaktketten nachverfolgen. Sie werden weiter informieren, aber es geht darum, dass wir jetzt alle mithelfen, dass wir alle Eigenverantwortung zeigen, dass wir auch unkonventionelle Wege gehen. Ich will jetzt ein kleines Beispiel nennen, wieder nur einen Baustein, der aber helfen kann. Das Bezirksamt Mitte hat für Tests einen Anhänger angeschafft. Praktisch ist es mit diesem Anhänger möglich, eine mobile Teststation im Bezirk zu organisieren. Man kann diesen später als mobile Impfstation nutzen. Es ist ein kleiner Baustein, der helfen kann. Warum orientieren sich nicht alle an solchen Maßnahmen? Es kann doch nicht im Ernst am Geld oder am Personal liegen, so etwas einzurichten. Wenn es am Geld und am Personal liegt, dann werden wir vonseiten des Landes helfen. Wir brauchen solche Unterstützung. Ich glaube, es ist wichtig und richtig.
Ich will an dieser Stelle noch etwas ansprechen, von dem ich hoffe, dass Sie vielleicht auch über Ihre politische Arbeit, über andere Gremien oder über Kontakte zur Bundesebene mithelfen können: Ich glaube, dass wir eine Chance, die wir im Zusammenhang mit der Corona-App haben, nicht vertrödeln und nicht vertändeln sollten. Wir haben die technischen Möglichkeiten. Wir haben 20 Millionen Menschen, die sich diese App heruntergeladen haben. Es geht darum, unsere Gesundheitsämter zu entlasten.
Es geht darum, schnell zu reagieren. Wir haben in manchen Bereichen in die Grundrechte eingegriffen. Hier an der Stelle, wo wir die Möglichkeit haben, schnell zu helfen, nutzen wir sie nicht aus Sorge davor, dass es mit dem Datenschutz Probleme geben könnte. – Ich nehme den Datenschutz ernst. Ich bin mir aber sicher, wenn ich allein die Resonanz unserer Start-ups in Berlin sehe, was es alles für technische Möglichkeiten gibt, kann man dem Datenschutz nachkommen, aber man kann mit der App deutlich mehr machen und deutlich schneller helfen, als wir es jetzt tun. Wir dürfen in einer Krise, wo es um Leben und Tod geht, solche Chancen nicht vertun. Wir müssen sie nutzen. Jeder muss sie nutzen. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen.
Wenn die Regeln, die wir jetzt miteinander beschlossen haben, morgen in Kraft treten, werden viele auch erwarten, dass wir sie weiter stark kontrollieren. Unsere Berliner Polizei wird gemeinsam mit der Bundespolizei und den Ordnungsämtern dafür sorgen, dass diese Regeln umgesetzt werden. Wir werden in den Gaststätten, in den öffentlichen Einrichtungen, in den Straßen kontrollieren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ordnungsämter sind entsprechend geschult. Ich sage hier auch ganz klar, es gibt zurzeit Wichtigeres als die Kontrolle der Parkraumbewirtschaftung.
Aber auch an dieser Stelle sage ich wieder ganz eindeutig: Politik kann und muss einen Rahmen setzen. Dafür sind wir gewählt. Dafür sind wir da. Wir können Institutionen ausstatten. Wir können Regeln aufstellen. Jeder Einzelne ist gefordert, sie mitzutragen. Es ist eindeutig: Dieser Monat November ist der Monat der Eigenverantwortung. Wir können und wollen eine Stadt mit fast 4 Millionen Einwohnern nicht lückenlos überwachen. Wir können nicht und wir wollen nicht vor jedes Wohnzimmer einen Polizisten stellen.
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
Kein Ministerpräsident, niemand in der Politik kann das, selbst wenn er noch so kraftvoll und bestimmt in den letzten Wochen aufgetreten ist.
Wir alle sind darauf angewiesen, dass wir von den Bürgerinnen und Bürgern unterstützt werden, dass wir gemeinsam diese Situation ernst nehmen. Wer diese weltweite Krise mit über einer Million Toten nicht ernst nimmt, der hat auch in den letzten Wochen nichts verstanden. Wer jetzt noch behauptet, demokratisch gewählte Parlamente, hier in unserem Land, hier in unserer Demokratie, würden diese Coronakrise für eine „Coronadiktatur“ nutzen – mein Gott, was sind das für dumme Reden.
Genauso dümmlich sind ständige Vergleiche mit der Grippe und den Grippetoten. Ja, das stimmt, an einer Grippe kann man sterben.
Was macht das besser? Was macht das besser, wenn wir die Situation im Zusammenhang mit der Coronapandemie betrachten? Ist es wirklich immer noch ein gutes Argument zu sagen, ja, man kann auch an einer Grippe sterben, wenn die eigene Familie und die eigenen Freunde betroffen sind? Wollen wir nicht, dass wir allen, auch wenn man an anderen Krankheiten sterben kann, helfen, so gut es geht, durch diese Coronazeit zu kommen? Wollen wir nicht alle Leben retten?
Es geht nicht darum, ernsten und seriösen Debatten auszuweichen. Nein, denen muss sich die Politik stellen. Das tun wir auch. Wir müssen darüber diskutieren, wie die Aufgabe von Gerichten, von Parlamenten und Regierungen sind. Wir müssen über den sensiblen Umgang und den Schutz unserer Grundrechte reden. Für diese Auseinandersetzung, für diese ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Krise, ist es nicht nötig, Veganköchen oder Reichsflaggenträgern hinterherzulaufen.
Jeder muss wissen, was er tut.
Ich weiß, ich mute, wir muten wieder vielen Menschen viel zu. Allen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, der Kanzlerin, uns allen im Senat ist es schwergefallen, das zu beschließen, was jetzt auf dem Tisch liegt. Aber unsere Überzeugung ist: Es geht nicht anders.
Unsere Maßnahmen sind auf den November beschränkt. Ich habe es in den letzten Tagen schon einmal gesagt und wiederhole es hier: Ich kann nichts versprechen, aber ich
bin sicher, wir haben die Chance auf eine gemeinsame schöne Adventszeit mit unseren Freunden und der Familie. Jetzt gemeinsam solidarisch und entschlossen die Maßnahmen tragen und umsetzen – darum geht es, und wir haben es in der Hand. Wir alle sehnen uns nach Normalität und nach Sicherheit, und Sicherheit wird es nicht durch kurzfristige Klageerfolge geben, mit denen die einen versuchen, aus unserem Konzept, aus dem Maßnahmenmix, den wir miteinander verabredet haben, Bausteine herauszubrechen, um zu sehen, ob man nicht sich selbst doch noch ein Stück Freiheit erstreiten kann.
Viele haben die Möglichkeiten, auf Veranstaltungen zu gehen, in Gaststätten oder in Hotels zu gehen, in den letzten Wochen gar nicht genutzt, obwohl sie es hätten tun können. Sie haben diese Möglichkeiten gar nicht genutzt, weil sie nicht sicher waren, wie die Situation ist, wie gefährlich Corona ist, weil sie nichts riskieren wollten.
Es ist jetzt unsere gemeinsame Aufgabe, durch unser besonnenes Handeln die Infektionsgefahr zu minimieren und den Berlinerinnen und Berlinern Sicherheit zu geben; Sicherheit zu geben für ein wieder unbeschwertes Zusammenleben, für Kinobesuche und Theaterbesuche, für den Besuch bei Freunden, in der Kneipe oder beim Sport. Es geht darum, Sicherheit zu geben für die ganze Vielfalt unserer fantastischen Stadt, die wir alle wieder erleben wollen. Ich gebe es zu: Ich kann es kaum erwarten.
Ich weiß: Gemeinsam werden wir durch diese Krise kommen, denn wir haben schon einmal gezeigt, dass wir es können. Wir haben es schon einmal geschafft im Frühjahr und haben mit unseren Maßnahmen und unserer Verantwortung, die jeder für sich angenommen hat, so viel erreicht, und wir können wieder viel erreichen. Wir tun das für die Gesundheit unserer Familien, für die Gesundheit unserer Arbeitskollegen und Freunde, wir tun das für die Berlinerinnen und Berliner, wir tun das für unsere Heimatstadt Berlin. – Vielen Dank!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr über diese Aktuelle Stunde im Vorfeld des Tages, der uns allen so viel bedeutet. Herr Dregger! Sie sind zu Beginn Ihrer Rede auf unser gemeinsames Geburtsdatum eingegangen und haben mich persönlich angesprochen. Ich möchte gerne auch kurz persönlich antworten. – Sie haben recht. Ich bin 1964 in Tempelhof geboren, also Westberliner und kein Wessi. Zwei Drittel unserer Familien haben allerdings in Ostberlin oder in Thüringen gewohnt. Ich muss zugeben, ich habe als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener die Situation in Berlin für mich nicht als bedrückend empfunden. Ich hatte auch ein gutes, freies Leben im Westteil der Stadt. Aber mit dem Fall der Mauer 1989 habe ich auch gewusst, was gefehlt hat, nämlich ein gemeinsames Leben in Frieden und Freiheit, nicht nur ausgewählte Besuche manchmal einige Tage in Thüringen, um die Familie zu sehen, sondern als Familie einen gemeinsamen Weg gehen zu können. Ich glaube, es geht vielen so wie mir und meiner Familie. Viele empfinden es bis heute als großes Glück, und wir sind sehr dankbar dafür, dass wir das erleben dürfen.
Gerade an diesem Ort sollten wir kurz innehalten und uns darüber klarwerden, dass wir ohne Mauerfall und deutsche Einheit hier nicht zusammenkommen könnten, denn dieses Gebäude, nur einen Steinwurf von der Mauer entfernt, war Teil des Hauses der Ministerien der DDR. So wie viele Orte in unserer Stadt atmet auch das uns so selbstverständlich gewordene Berliner Abgeordnetenhaus die Geschichte unserer Stadt und unseres Landes. An Tagen wie heute, unmittelbar vor dem 30. Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober wird uns deutlich: Wir sollten uns vielleicht öfter an unsere wechselvolle Geschichte erinnern und dadurch noch stärker dieses Glück empfinden, das wir seit nunmehr 30 Jahren in der ungeteilten Stadt der Freiheit leben.
Das ist mir sehr wichtig.
Es ist uns noch nicht alles gelungen, aber sehr vieles. Ja, es liegt noch einiges vor uns, aber eines kann uns niemand nehmen: Genau dieses Geschenk, die Teilung unserer Heimatstadt überwunden zu haben und friedlich gemeinsam heute in einer der spannendsten Metropolen der Welt zu leben und sogar noch in dieser Stadt Vorsitzender der Ostministerpräsidentenkonferenz werden zu können. Ich finde, das ist ein gutes Gefühl.
Eine ganze Generation liegt es inzwischen zurück, dass hier in Berlin mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages Geschichte geschrieben wurde. Wir alle erinnern uns an die Feierlichkeiten, die bereits einen Tag zuvor in unserer Stadt begonnen hatten. Es waren besondere Momente, die sich in der Geschichte unserer Stadt fest verankert haben, Momente, die wir denen verdanken, die mehr als ein Jahr zuvor, im Spätsommer 1989, friedlich auf die Straße gegangen sind und demonstriert haben, den mutigen Frauen und Männern in Ostdeutschland, die mit ihren Rufen nach Freiheit, nach einem selbstbestimmten Leben an immer mehr Orten und Plätzen in der DDR zu hören waren, die sich unter dem schützenden Dach der Kirchen organisierten und trotz großer persönlicher Risiken nicht aufgaben, sondern weitermachten und damit letztlich die Mauer zum Einsturz brachten.
Da, Herr Pazderski, kann ich es an der Stelle nicht umgehen, Sie persönlich anzusprechen. Als Sie das erste Mal heute hier gesprochen haben und sich und Ihre Laienspieltruppe zu Erben der Freiheitskämpfer gemacht haben, dachte ich, das wäre nur peinlich.
Als Sie das zweite Mal aufgestanden sind und tatsächlich davon gesprochen haben, dass Ihr ganz persönliches Engagement auch dazu geführt hat, dass die sowjetischen
Truppen abgezogen sind und dass deswegen die deutsche Einheit gekommen ist,
ist es an diesem Tag, kurz vor diesem 3. Oktober und in Anbetracht der vielen Opfer, die es gegeben hat, tatsächlich eine unerträgliche Schande, was Sie gesagt haben.
[Beifall bei der SPD, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU – Georg Pazderski (AfD): Sie sind ein derartiger Heuchler! Ein Heuchler sind Sie!]
Ihnen ist gar nichts zu verdanken, sondern den mutigen Frauen und Männern, die 1989 auf die Straße gingen, haben wir diesen großen Moment unserer Geschichte zu verdanken.
Auch den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, die oft über Jahre in Gefängnissen saßen, weil sie gegen die SED-Diktatur aufbegehrten oder auch jenen, denen das ganze Leben verbaut wurde, weil sie den Maximen der SED nicht folgten. All denen, die bis zum Ende der DDR nicht aufgaben und widerständig blieben, genau denen verdanken wir diesen Tag, den wir am 3. Oktober feiern.
Zwischen dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung lagen nur 328 Tage.
Walter Momper hat später einmal davon gesprochen, dass es ein Meisterstück gewesen sei, in dieser kurzen Zeit, 328 Tage seit dem Mauerfall, den Einigungsvertrag auf den Weg gebracht zu haben. Das ist richtig, und wir können uns dabei mit Dankbarkeit in Erinnerung rufen, dass das ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und unserer Nachbarn im Osten und auch der Sowjetunion nicht zustande gekommen wäre. Wir können uns glücklich schätzen, dass es damals den politischen Akteuren gelungen ist, die Vorbehalte gegenüber einem vereinten Deutschland zu überwinden, Vorbehalte, die aus der deutschen Geschichte resultierten, aus der Erfahrung mit einem Deutschland, das als Aggressor viel Leid über Europa gebracht hatte. Einen wichtige Grundstein für die Wiedervereinigung legte dabei auch die Erklärung der Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestages zur endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze Deutschlands vom Juni 1990, eine Erklärung, die durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie den späteren
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
deutsch-polnischen Grenzvertrag besiegelt wurde. Nicht nur deswegen spricht der Historiker Heinrich August Winkler von einer tiefen historischen Zäsur, die mit der Wiedervereinigung verbunden war, sondern auch, weil mit der Erlangung der deutschen Einheit auch die deutsche Frage eine Antwort gefunden hatte.
Das Bewusstsein um diesen historischen Moment geriet im Angesicht der Herausforderung, vor der die Menschen in Ostdeutschland standen, erst einmal ins Hintertreffen, denn von einem Tag auf den anderen änderte sich für sie einfach alles: ein neues Gesellschaftssystem mit neuen Freiheiten, einer neuen Währung und ungewohnten Regeln. Der gesamte Lebenskompass mit seinen alten Gewissheiten hatte sich plötzlich verändert. Als jemand, der, wie gesagt, im Westteil unserer Stadt aufgewachsen ist, wie auch für viele andere mit einer Westbiografie, ist es kaum vorstellbar, was das damals bedeutete. Gerade für die, die nach 1990 geboren sind, ist diese Vorstellung nicht einfach. Aber wir tun gut daran, uns diesen kolossalen Bruch im Leben der Menschen immer wieder vor Augen zu führen.
Für die Menschen in Ostdeutschland war die Transformation ihres gesamten Landes mit drastischen Umbrüchen verbunden, in ihren Berufen wie auch in anderen Bereichen ihres Lebens. Allein in Berlin gingen durch die Deindustrialisierung rund 200 000 Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitslosenzahlen stiegen und damit auch vorher nicht bekannte Existenzängste. Viele Folgen zeigen sich noch heute und auch das Gefühl der Unterlegenheit wirkt in vielen Erinnerungen weiter. Dennoch dürfen wir nicht vergessen: Mit der Wiedervereinigung erlangten die Menschen endlich Freiheit. Für die jungen Generationen bedeutete das den Zugang zu einem selbstbestimmten Leben, einem Leben mit neuen Chancen, frei von staatlicher Bevormundung und den Zwängen der Diktatur. Für jene, die in der Diktatur gelitten hatten, die eingesperrt waren, die große Teile ihres Lebens bespitzelt und verfolgt wurden, ermöglichte die Wiedervereinigung das langersehnte, freie, selbstverantwortliche Leben.
Für die Westdeutschen bedeutete die Wiedervereinigung natürlich auch Veränderung. Aber vor allen Dingen bedeutete es, Solidarität zu üben und zu unterstützen und das nicht nur durch finanzielle Beteiligung, sondern auch durch die Förderung der Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Solidarität mit den vielen Opfern. Auch das sollten wir nicht vergessen.
Die deutsche Einheit war und ist eine Gemeinschaftsleistung. Beide Teile Deutschlands haben sie angenommen und tragen seit 30 Jahren dazu bei, diese Einheit zu gestalten. Gerade hier in unserer Stadt Berlin wird diese gemeinsame Leistung sichtbar. Die Fülle an Aufgaben,
vor denen die Verantwortlichen im Parlament und im Senat 1990 in Berlin standen, war beträchtlich, nicht zu vergessen auch die in den Berliner Bezirken. Die Jahre, das Zusammenwachsens zweier Stadthälften bedeutete für Berlin einen beispiellosen Kraftakt. Der Strukturwandel in Ostberlin kostete unzählige Arbeitsplätze, in deren Folge die Arbeitslosigkeit auf 20 Prozent stieg. Dann der Wegfall der finanziellen Unterstützung des Bundes und damit verbunden der dramatische Anstieg der Schulden. Der Konsolidierungs-, der Solidarpakt brachte viele weitere Härten, mit denen Berlin umzugehen hatte. Es waren Jahre enormer Anstrengung nicht nur für Politik und Verwaltung, sondern ganz konkret für die Berlinerinnen und Berliner.
Ich bin unserer Bevölkerung sehr dankbar, dass sie das mitgetragen hat, dass sie trotz der Zumutung mit ihrer Stadt immer solidarisch war. Auch das macht unsere Stärke aus, dass die Menschen mitmachen und die Ärmel hochkrempeln, um unserer Stadt zu helfen, dass sie eben in schweren Zeiten alles geben. Wie gesagt, dafür bin ich sehr dankbar.
Das Ergebnis unseres gemeinsamen Einsatzes kann sich sehen lassen. Berlin ist heute eine Kulturstadt, eine erfolgreiche Wirtschafts- und Wissenschaftsmetropole, Herr Saleh ist darauf schon eingegangen, eine Forschungsmetropole, eine, die sich mit ihrer Innovationsfähigkeit, ihrer Kreativität und ihrem Zukunftsdrang weltweit einen Namen gemacht hat. Der Name Adlershof steht wie kaum ein anderer für die Weitsicht, die bereits Anfang der Neunzigerjahre mit der Weichenstellung für Berlin als Innovationsmotor bewiesen wurde, auch damals im Übrigen eine umstrittene Entscheidung, als Eberhard Diepgen und sein Senat gesagt haben: Wir wollen bewusst an dieser Stelle investieren und einen Schwerpunkt setzen.
Berlin hat in den letzten 30 Jahren in seine Stärken investiert. Heute können wir sagen, dass sich das ausgezahlt hat. Wenn wir in unserer Geschichte noch etwas weiter zurückgehen, können wir sehen, dass sich auch schon früher genau dieser Mut, dieser Vorwärtsdrang bewährt hat.
In diesem Jahr, wir haben es vorhin in einem Festakt gewürdigt, schauen wir auch zurück auf ein Jubiläum, das, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, dafür Pate stehen könnte: Genau heute vor 100 Jahren entstand Groß-Berlin. Auch damals entstand aus dem Veränderungsdruck der plötzlichen Metropolenbildung eine enorme Kreativität und Schaffenskraft.
Genau das macht die DNA unserer Stadt aus, immer wieder auf die Chancen, die im Wandel stecken, zu setzen, denn eines ist sicher, die Transformation geht immer weiter. Heute sind es Digitalisierung und Klimawandel, die neue Antworten fordern, morgen sind es vielleicht
(Regierender Bürgermeister Michael Müller)
andere Themen. Entscheidend ist, Berlin muss sich immer wieder neu auf die Zukunft ausrichten, muss Trendsetterin bleiben und die Fortschrittsfäden in der Hand halten. Wichtig ist und bleibt dabei, dass wir diesen Weg der Zukunft gemeinsam gehen.
Wenn wir am Tag der deutschen Einheit diese gemeinsame Zukunft ins Auge fassen, müssen wir auch darüber sprechen, was wir mit Einheit eigentlich verbinden. Das gilt es immer wieder neu auszuloten. Denn Einheit heißt nicht, die Unterschiede und Widersprüche in unserer Gesellschaft wegzuwischen, sondern sie auszuhalten und, wo möglich, eben auch einzubinden. Das heißt auch, sich immer wieder aufs Neue mit der Vielfalt unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Damit verbunden ist die Aufgabe, dass wir uns als Gesellschaft immer wieder miteinander verständigen müssen, wohin wir wollen und was wir dafür brauchen. In einer Demokratie ist gerade diese permanente Aushandlung ein Herkulesaufgabe. Sie endet eben nicht nur mit den Wahlen.
Gerade in diesen Zeiten der Coronapandemie spüren wir den enormen Spannungsbogen, der damit einhergeht, der Umgang mit Freiheit, Demokratie, Bürgerrechten und der Verantwortung des Staates für seine Bürgerinnen und Bürger. Auch hier sind wir darauf angewiesen, dass die Menschen die Entscheidung der Politik mittragen, dass sie bereit sind, Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte hinzunehmen, um die Gemeinschaft zu schützen. Gleichzeitig müssen sie sich darauf verlassen können, dass wir Ihre Sorgen ernst nehmen.
Wir erleben, dass in der Auseinandersetzung um diese Frage immer wieder Vergleiche zur Diktatur gezogen werden. Da ist von der Angst vor „Zwangsimpfungen“ die Rede. Die Maskenpflicht wird als unzumutbarer staatlicher, ja diktatorischer Freiheitsentzug gebrandmarkt. Auch wenn für solche Vergleich nur wenig Verständnis habe, wird doch eines deutlich. In – wenn auch kleinen – Teilen der Bevölkerung hat sich etwas verfestigt, ein Grundmisstrauen gegen die Eingriffe in ihre Freiheit entwickelt. Dieses Misstrauen
sehr schön, dass genau Sie jetzt dazwischengerufen – wird von denen instrumentalisiert, die Hass und Spaltung mit ganz anderen Zielen schüren,