Protokoll der Sitzung vom 23.03.2017

Aber wenn es dann mal wieder irgendein Problem gibt, das nicht kurzfristig zu lösen ist, dann wird doch wieder nach Kameras gerufen. Da stellt z. B. Ihre Bundestagsabgeordnete Frau Christina Schwarzer fest, dass in Neukölln viel Sperrmüll abgeladen wird. So weit, so richtig – so weit, so schlecht. Und jetzt raten Sie mal, welchen Lösungsvorschlag sie hat.

[Marcel Luthe (FDP): Video!]

Ja! – Die Berliner CDU will mit Videoüberwachung gegen Sperrmüll vorgehen. Auf die Idee muss man erst einmal kommen.

[Beifall bei der LINKEN]

Und jetzt kommen Sie, Herr Dregger, auch noch mit Fahrraddiebstählen. Wollen Sie jetzt an jeder Straßenlaterne eine Kamera aufhängen? Wie absurd ist das denn, Herr Dregger?

Also, liebe CDU, entweder Sie geben hier nur vor, dass Sie keine ausufernde Überwachung wollen, oder Sie weigern sich, bei solchen Problemen auch nur einmal für zehn Pfennig nachzudenken. Ich befürchte, es ist beides.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den Grünen]

Diesen Beitrag von Frau Schwarzer sollten wir jetzt auch nicht wichtiger nehmen, als er ist, aber er zeigt doch, wie das bei vielen Akteuren funktioniert, auch in der Sicherheitspolitik. Die Forderung nach mehr Überwachung kommt nicht als Ergebnis einer rationalen Prüfung oder einer Abwägung zwischen Sicherheit und Grundrechtsschutz, sondern als Reflex.

(Hanno Bachmann)

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dregger?

Nein, ich möchte gerne fortführen. – Diese Forderung kommt als Reflex und nicht als Beitrag zur Sicherheit, sondern als Vorgaukeln von Sicherheit. Ich bin mir sicher, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion, wenn wir Ihrem Antrag jetzt zustimmen würden – nehmen wir das einmal an –, dann wären Sie doch trotzdem die Ersten, die bei der nächsten Gelegenheit, beim nächsten spektakulären Vorfall wieder mehr Überwachung fordern würden. Und so bewegt man sich Schritt für Schritt weiter in Richtung flächendeckende Überwachung und flächendeckende Einschränkung der Grundrechte.

[Burkard Dregger (CDU): Also lassen wir das mal!]

So läuft das leider auf Bundesebene. Ich bin froh, und dafür werden Die Linke und die Koalition auch weiterhin stehen, dass wir diese Logik, dass wir diese Sicherheitsesoterik in Berlin nicht mitmachen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Ich bin froh, dass wir hier andere Konzepte haben – Kollege Zimmermann hat es gut ausgeführt – wie Personal statt Kameras, mobile Wachen, Doppelstreifen usw. Das sind Konzepte, die wirklich für Sicherheit sorgen, und deshalb können wir Ihren Gesetzentwurf auch guten Gewissens ablehnen. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Beifall von Marcel Luthe (FDP)]

Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Luthe das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns nun mit einer Idee der CDU-Fraktion für die Sicherheit dieser Stadt.

[Burkard Dregger (CDU): Das ist nicht das letzte Mal!]

Das ist schön. Es wäre noch schöner, wenn es sich um eine neue, innovative Idee handeln würde, lieber Kollege Dregger. Die Idee stationärer Videoüberwachung ist mehrere Jahrzehnte alt. Im Bereich der Kriminalprävention stammt sie aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, der Zeit der Notstandsgesetze, und ist nun ein gutes halbes Jahrhundert alt. Sie sollte damals mithilfe von „Polizei-TV“ ordnungs- und strafrechtliche Ereignisse wie „Zechanschlusstaten“ – Zitat: „die Damen vom

horizontalen Gewerbe“, Bankraub, „die Spielwiese des Demonstrationsgeschehens“ sowie Straßenkriminalität fernsehmäßig in den Griff kriegen. – So der 1976 für die modernste Videoüberwachung in Deutschland zuständige Polizeioberrat Lüdecke in Hannover.

Ist das gelungen? Wir hatten ja jetzt mehr als genug Zeit, das zu prüfen. Wirkt Videoüberwachung? – Zur Prävention gibt es bekanntlich keine messbaren Ergebnisse. Prävention ist in den meisten Fällen nicht messbar. Wenn ein Polizist über einen Marktplatz läuft, können Sie nicht zweifelsfrei feststellen, ob deswegen weniger gestohlen worden ist. Genauso ist es mit Videokameras. Aber einen Vorteil gibt es: Sie können anschließend den Täter identifizieren, behauptete jedenfalls der geschätzte Kollege Trapp im Jahr 2009. Aber wirkt Videoüberwachung bei der Aufklärung? – Ja, zweifelsohne trägt Videoüberwachung dazu bei, Tatverdächtige zu ermitteln. Da haben Sie völlig recht, Herr Dregger, aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, jedenfalls, solange wir nicht unbegrenzte Ressourcen für die innere Sicherheit zur Verfügung stellen können: Wie wirksam ist stationäre Videoüberwachung im Vergleich zu anderen Maßnahmen?

Dank der umfangreichen Anfragen mancher Freunde antiquierter Ideen des letzten Jahrhunderts, der Sechzigerjahre, verfügen wir mittlerweile über hinreichendes Datenmaterial. Demnach wurden im gesamten Jahr 2016 im Bereich der rund 15 000 Videokameras der BVG ganze 740 Tatverdächtige erst eingetragen, nachdem Videomaterial ausgewertet war. Das ist zwar nur ein zeitlicher und kein kausaler Zusammenhang, aber lassen Sie uns an der Stelle nicht kleinlich sein, zumindest gibt es da einen gewissen Zusammenhang. Das sind also immerhin rund 0,05 ermittelte Tatverdächtige pro Kamera und Jahr.

Insgesamt wurden in Berlin im Jahr 2016 – die Zahlen haben wir gerade bekommen – 148 042 Tatverdächtige ermittelt, also 147 342 Verdächtige durch klassische Polizeiarbeit, ohne den Abruf von Videodaten. Wer hat diese Verdächtigen ermittelt? – Die Berliner Polizeibeamten, die 16 719 Personen im Polizeivollzugsdienst. Das sind also 8,8 ermittelte Tatverdächtige pro Polizist und Jahr, im Vergleich zu 0,05 Tatverdächtigen bei der Videoüberwachung. Ein einzelner Polizist ermittelt also 176-mal so viele Tatverdächtige wie eine Videokamera.

[Beifall bei der FDP, der LINKEN und den GRÜNEN]

Sofern wir, was in den Berliner Senaten der letzten Jahrzehnte offenbar unüblich geworden ist, mit den von den Bürgern überlassenen finanziellen Mitteln, den Steuern, verantwortungsvoll umgehen – den Exkurs zu Bankgesellschaft nebst Kirchsteigfeld, Tempodrom und BER hole ich an anderer Stelle nach –, müssen wir den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit betrachten.

Der Anschaffungspreis einer Videokamera wird mit 2 000 Euro angegeben. Abgeschrieben über sieben Jahre, so die steuerrechtliche Vorschrift, sind das rund 285 Euro

pro Jahr. Nebst Wartung und Strom sind wir bei 350 Euro pro Jahr für 0,05 Tatverdächtige. Also 7 000 Euro Kosten pro ermittelten Tatverdächtigen bei der Videoüberwachung. Ein Polizeikommissar verdient rund 28 000 Euro jährlich, im Übrigen erheblich zu wenig, und erfüllt eine Vielzahl von extrem wichtigen Rollen in unserer Stadt. Er hilft Bürgern, greift ein, um sie zu schützen. Er ist aber auch schlicht Mensch und ein Teil unserer Gesellschaft. Er greift übrigens auch nicht in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Aber zurück zur Wirtschaftlichkeit: Für 28 000 Euro werden durch Menschen also 8,8 Tatverdächtige ermittelt, 3 200 Euro Kosten pro ermittelten Tatverdächtigen. Wenn wir also an irgendeiner Stelle für die Sicherheit der Bürger Geld investieren wollen, und das ist ja grundsätzlich die Intention, müssen wir die ideologische Träumerei beiseite wischen und wirtschaftlich handeln, und da steht die Wirtschaftlichkeit der Videoüberwachung der Wirtschaftlichkeit von Polizeikräften, von Menschen gegenüber, und der Mensch gewinnt deutlich.

[Beifall bei der FDP und der LINKEN – Beifall von Benedikt Lux (GRÜNE)]

Das bedeutet, endlich anzuerkennen, dass nicht mehr stationäre Videoüberwachung, sondern allein mehr mobile Kräfte der Berliner Polizei das effiziente Mittel sind, um für mehr Sicherheit in unserer Stadt zu sorgen. Ihr Vorschlag trägt also nicht zu mehr, sondern letztlich zu weniger Sicherheit in Berlin bei. Deshalb lehnen wir ihn ab. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP und der LINKEN – Beifall von Benedikt Lux (GRÜNE)]

Danke schön, Herr Kollege! – Für Bündnis 90/Die Grünen jetzt Herr Lux!

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese rot-rot-grüne Koalition handelt für mehr Sicherheit in der Stadt, und ich bin froh, dass wir heute endlich den Gesetzesentwurf der CDU für eine Totalvideoüberwachung dieser Stadt ablehnen können.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Burkard Dregger (CDU): Legende!]

Wir haben auch noch von Ihnen Anträge zur Schleierfahndung und Fußfessel, und ich bin mir sicher, dass Ihnen noch vieles einfallen wird, was Sie weiter treiben können, um mit den Ängsten in der Bevölkerung zu spielen, und heute, Herr Dregger, haben Sie es wirklich getan. Während Sie früher in manchen Reden noch betont haben, dass man nicht flächendeckend überwachen will, haben Sie heute darauf abgestellt und die Erwartung gehegt, mit Videoüberwachung könne man den Taschendiebstahl in der Stadt signifikant bekämpfen, als ob Ta

schendiebstahl nur an bestimmten Plätzen und Straßen stattfindet.

Ich sage Ihnen, unterstützen Sie unseren Kurs, die Fehler, die in der Vergangenheit bei der Grundausstattung, beim Handwerk, bei der Infrastruktur der Polizei gemacht worden sind, endlich auszumerzen. Kollege Zimmermann hat zu Recht auf die mobilen Wachen hingewiesen, die vor Ort für Sicherheit sorgen. Wir werden in den nächsten Jahren mehrere Tausend junge Polizistinnen und Polizisten einstellen. Ihnen soll die Polizei ein guter Arbeitgeber sein. Wir werden die Besoldung erhöhen, und zwar mehr, als Sie es geschafft haben. Und wir haben 40 Millionen Euro für ein Sicherheitspaket II aufgelegt, das auch sachliche und personelle Verbesserungen bei Schießstand und Digitalfunk macht. Dazu muss ich nicht viel sagen. Auch die Gewerkschaft der Polizei, mit der gesprochen wurde, hat gesagt: Personal hilft mehr als Kameras.

Was heute aber auch noch durch Ihren Beitrag deutlich geworden ist, Kollege Dregger, ist, dass Sie jedes Maß verloren haben und Ihren Gesetzesentwurf nicht einmal kennen, Sie in der politischen Debatte gefehlt haben, als wir uns mit Ihrem Gesetzesentwurf im Ausschuss auseinandergesetzt haben. Es ist ja nicht anders zu erklären, dass Sie hier überhaupt nicht den Gesetzeswortlaut parat haben und gesagt haben, Sie wollen Straßen und Plätze videoüberwachen lassen. In Ihrem Gesetzentwurf steht: öffentlich zugängliche Räume. – Da hat Ihnen auch schon die Datenschutzbeauftragte wie jeder Jurist gesagt: Diese öffentlich zugänglichen Räume sind in Berlin auch private Räume, sind auch Schwimmbäder, Einkaufszentren, Kirchen, öffentlich oder privat betriebene Schulen. Und Sie wollen, dass die Polizei eine Generalermächtigung hat, wenn sie nur irgendwie gefährlich sind, dort als Polizei selbst Videokameras zu installieren.

Da möchte ich Sie mal fragen: Was für ein Verständnis haben Sie von einem freiheitlichen Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Freiheiten lässt und nicht die Polizei dazu ermächtigt, überall Videokameras zu schalten? Sie wollen diese Totalüberwachung, also stehen Sie auch dazu! Und dann werden wir gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass es höchste Zeit ist, diesen Gesetzesantrag endlich abzulehnen. Das sehen die Berlinerinnen und Berliner auch so, denn 80 Prozent der Berlinerinnen und Berliner sagen nicht, lasst die Stadt überwachen, sondern die sagen, es kann temporär und anlassbezogen im Einzelfall durchaus eine Ausdehnung der Videoüberwachung geben.

[Heiko Melzer (CDU): Dialektik!]

Und diesen maßvollen Schritt geht die rot-rot-grüne Koalition auch.

[Heiko Melzer (CDU): Die eigene grüne Wahrheit!]

Wir haben bereits jetzt 15 000 Videokameras in der Stadt, auch welche, die ab und zu mal einen Beitrag leisten.

(Marcel Luthe)

Herr Luthe hat gerade ganz gut dargestellt, welchen Sicherheitsgewinn es tatsächlich gibt. Ich glaube, Politik muss auch vernünftig genug sein, um die Bevölkerung darauf hinzuweisen, wie begrenzt der Erfolg von manchen Maßnahmen sein kann.

Deswegen fordere ich Sie auf: Lassen Sie diese Reflexe, immer wieder immer mehr zu versprechen! Damit spielen Sie gerade mit der Unsicherheit. Es wäre sinnvoll, hier eine sachliche Debatte zu führen, aber Sie haben heute bewiesen, dass Sie sie nicht wollen. Rot-Rot-Grün will im Einzelfall anlassbezogen Videokameras ausdehnen, wir haben schon genug, aber es soll auch nur bei einem Anlass so sein. Deswegen lehnen wir Ihren Gesetzesantrag zu Recht ab. – Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Beifall von Henner Schmidt (FDP)]

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Zu dem Gesetzesantrag Drucksache 18/0057 empfiehlt der Fachausschuss mehrheitlich – gegen CDU und AfD – die Ablehnung. Wer dem Gesetzesantrag dennoch zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, AfD und der fraktionslose Abgeordnete. Gegenstimmen? – Die Koalition und die FDP. Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 5 war Priorität der Fraktion der SPD unter Nummer 3.2.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 6: