Protokoll der Sitzung vom 23.11.2000

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ich eröffne die 99. Sitzung des 12. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich den Herren Abg. Brechtken und Hofer erteilt.

Krank gemeldet sind die Herren Abg. Brinkmann, Nagel und Stächele.

Dienstlich verhindert sind Herr Wirtschaftsminister Dr. Döring, Herr Innenminister Dr. Schäuble

(Abg. Kiefl CDU: Da sitzt er doch!)

das gilt nur für den Nachmittag –, Herr Finanzminister Stratthaus und Herr Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst von Trotha.

Meine Damen und Herren, heute hat Kollege Dr. Schäfer Geburtstag. In Abwesenheit gratuliere ich ihm sehr herzlich und wünsche ihm alles Gute.

(Abg. Dr. Schäfer Bündnis 90/Die Grünen betritt den Sitzungssaal.)

Er kommt im Moment. Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Schäfer.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen – Abg. Dr. Schäfer Bündnis 90/Die Grünen: Danke!)

Im E i n g a n g befindet sich ein Schreiben des Staatsgerichtshofs vom 18. Oktober 2000 betreffend Organstreitverfahren der Fraktion Die Republikaner gegen die Landesregierung wegen des Unterlassens, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Ich schlage vor, das Schreiben an den Ständigen Ausschuss zu überweisen. – Sie stimmen dem zu.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – „Leitkultur in Deutschland“ – Einwanderungsdebatte unter falschen Vorzeichen – beantragt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Das Präsidium hat die üblichen Redezeiten festgelegt: Gesamtdauer 50 Minuten ohne Anrechnung der Redezeit der Regierung, fünf Minuten für die einleitenden Erklärungen und fünf Minuten für die Redner in der zweiten Runde.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Salomon.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Man muss es wirklich so hart sagen: Die CDU hat auf den Begriff „deutsche Leitkultur“ oder, wie es jetzt heißt, „Leitkultur in Deutschland“ deshalb nicht verzichtet, und zwar gegen alle gut gemeinten Ratschläge, insbesondere auch aus den eigenen Reihen – ich sage nur Peter Müller, Volker Rühe, Heiner Geißler, Hildegard Müller, Rita Süssmuth –, weil der Begriff vor allem für Unklarheit, für Kopfschütteln, ja für Empörung sorgt und, sage ich, für Empörung und Verwirrung sorgen soll, auf der einen Seite für Empörung, auf der anderen Seite für Zustimmung an den Stammtischen – oder was die CDU dafür hält. Die Zustimmung kam mittlerweile ja auch schon. Insbesondere kam sie von den Republikanern am letzten Wochenende.

„Was soll das?“, fragt man sich. Frau Merkel hat bei der Vorstellung ihres Eckpunktepapiers zur Zuwanderung den Begriff „Leitkultur in Deutschland“ unter anderem damit begründet, dass er schon allein deshalb gut sei – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –, weil sich die anderen so schön darüber aufregen. Das ist an Zynismus eigentlich kaum zu überbieten.

(Zurufe von den Republikanern)

Überhaupt, meine Damen und Herren zur Rechten hier: Das ganze unselige Hin und Her um die deutsche Leitkultur – – Herr Merz hat diesen Begriff zufällig erfunden, weil er auf Frage eines Journalisten einmal blöd rausgeschwätzt hat – anders kann man es nicht sagen.

(Vereinzelt Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Oh-Rufe von der CDU – Abg. Rapp REP: Völlig falsch!)

Frau Merkel ist zunächst dagegen und verspricht Paul Spiegel: „Das machen wir weg“, und dann ist es doch drin. Herr Teufel ist dafür, spricht mittlerweile sogar von „nationaler Leitkultur“.

(Abg. Deuschle REP: Er wird immer besser!)

Herr Oettinger ist dagegen, Rommel schauderts, von Trotha findet es absurd. Den Vogel schießt Frau Schavan als stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende ab: Ihr ist das Niveau der Debatte zu niedrig und zu degoutant. Sie beschließt, es sei ihr egal, was in diesem Papier steht. Das ist eigentlich unglaublich.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD)

Dieses ganze Hin und Her, meine Damen und Herren, steht meines Erachtens für die Schwierigkeiten in der CDU, in der politischen Realität anzukommen. Die politische Realität ist, dass sich die CDU in einem wichtigen gesellschaftspolitischen Feld endlich und nur auf ständigen Druck der Wirtschaft hin von ihrer Lebenslüge verabschiedet hat, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Das, meine Damen und Herren, ist der wahre Grund für die Instrumentalisierung des Begriffs Leitkultur.

Die CDU hat sich in der Sache bewegt, und sie will dies mit Worten verschleiern. Es handelt sich um Nebelwerfen, um den rechten Rand einzubinden, weil die dort das mit der Einwanderung vielleicht nicht so gut finden könnten. Das ist der Punkt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Dafür nehmen Sie, Herr Ministerpräsident, und Frau Merkel und Frau Schavan und die ganze CDU in Kauf, dass das aufgeklärte und tolerante Deutschland und mehr noch das Ausland über Sie entsetzt ist.

(Oh-Rufe von der CDU)

„Die Woche“ von heute titelt über Frau Merkel übrigens: „Die Kanzlerkandidatin in spe: Sie hat kein Konzept, und sie driftet nach rechts ab“.

(Abg. Dr. Schlierer REP: Da hat sie noch viel, viel Platz!)

Das ist es. Der Begriff Leitkultur entspricht nicht ihrer Meinung, aber man benutzt ihn, um den rechten Rand einzubinden. Sie driftet nach rechts ab, und Frau Schavan schließt sich an.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Freie Rede, Herr Kolle- ge!)

Ach, Herr Reinhart! Was wissen Sie von der freien Rede?

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen – Lachen bei der CDU)

Den gebildeten Ständen wird patzig entgegengerufen, sie sollten sich nicht so aufregen, mit „Leitkultur in Deutschland“ sei gemeint – das sagt das Papier wörtlich –: „die Werteordnung unserer christlich-abendländischen Kultur, die von Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischem Recht und der Aufklärung geprägt“ sei.

(Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Da fehlen nur noch „Euphrat und Tigris“. Das ist ja interessant. Die Frage ist nur: Warum nennen Sie das „deutsche Leitkultur“? Das ist doch der Witz dabei.

Bei den weniger gebildeten Ständen – das ist die Doppelstrategie, die Sie hier betreiben – kommt das mit der Leitkultur ganz anders an, nämlich so: Wenn einer aus dem Ausland kommt und bei uns sein will, dann soll er sich so aufführen wie wir, sonst kann er draußen bleiben.

(Zuruf des Abg. Rückert CDU)

Das ist Leitkultur, wie sie an den Stammtischen ankommt. Das ist dieser Herr-im-Haus-Standpunkt,

(Zurufe von den Republikanern)

den manche noch von früher kennen, als es hieß: Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, läuft es so, wie es bei mir zu laufen hat. Das ist der Begriff der Leitkultur.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Dabei ist es absurd: Weder das Christentum noch das Judentum wurden meines Wissens von einem Deutschen erfunden; sie sind, wie sollte es anders sein, orientalischen Ursprungs – also nichts mit der deutschen Leitkultur. Antike Philosophie und römisches Recht haben ihren Ursprung ebenfalls nicht im Teutoburger Wald – auch nichts mit der Leitkultur. Mit der Aufklärung ist es so eine Sache, meine Damen und Herren von der CDU. Ich weiß nicht, ob Sie mir folgen können, aber Descartes und Voltaire waren Franzosen, und Kant kam leider zu spät und war in Deutschland nicht geschichtsmächtig. Die Entwicklung, dass aus aufklärerischen Gedanken, die die alten Mächte hinwegfegen, Demokratien wurden, in denen der Mensch als Mensch und Individuum im Mittelpunkt stand, nicht als abgeleitete Größe von Gott oder von einem Kaiser oder einem König, und dass diese Demokratien später eine Menschenrechtstradition, eine Bürgerrechtstradition und einen Grundrechtekanon ausgeprägt haben, fand in Großbritannien, in Frankreich und in den USA statt, aber leider nicht bei uns in Deutschland. Bei uns ist dies erst später geschehen.

(Abg. Hans-Michael Bender CDU: Alle haben ihre Leitkultur!)

Nach dem Ende des zwölfjährigen Tausendjährigen Reiches haben uns die westlichen Alliierten diese Werte Gott sei Dank – dafür muss man dankbar sein – –

(Abg. Dr. Birk CDU: Sollen wir deshalb in Sack und Asche gehen?)

Nein, wir müssen nicht in Sack und Asche gehen, aber wir können nicht behaupten, dass das die deutsche Leitkultur ist. Dies ist der Punkt.

(Zuruf von der CDU: Das sagt doch kein Mensch! – Gegenruf von der SPD: Sie haben Schwundge- fühle!)