Protokoll der Sitzung vom 23.11.2000

(Zuruf von der CDU: Das sagt doch kein Mensch! – Gegenruf von der SPD: Sie haben Schwundge- fühle!)

Doch, darüber haben Sie gesprochen. Sie haben insbesondere den Göttinger Politologen Bassam Tibi zitiert, der Deutscher und Moslem ist. Tibi hat sich völlig missverstanden gefühlt. Er hat immer von europäischer Zivilisation, von europäischer Leitkultur gesprochen. Das ist es, um was es geht. Er definiert dies ganz anders. Er sagt: Dies sind die individuellen Menschenrechte, die säkulare Demokratie, die Zivilgesellschaft, religiöser und kultureller Pluralismus – hören Sie gut zu – und zivilgesellschaftliche Toleranz. Dies ist der entscheidende Punkt. Wir leben im Pluralismus mit kultureller und religiöser Vielfalt. Der kulturelle und religiöse Pluralismus allein macht den Begriff „deutsche Leitkultur“ schon völlig absurd. Man müsste Sie eigentlich fragen, ob Sie noch zu retten sind.

Kultureller und religiöser Pluralismus sind auf der Grundlage unserer Verfassung...

(Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Dr. Salomon, ich darf Sie bitten, zum Ende zu kommen.

(Beifall bei den Republikanern)

... – sofort, Herr Präsident – eben Kennzeichen der europäischen Zivilisation.

(Abg. Oettinger CDU: Fehlstart!)

Das ist kein Fehlstart, lieber Herr Oettinger. Von Ihrer Seite habe ich dazu noch nicht viel gehört, außer dass Sie den Begriff nicht gut finden. Ich bin gespannt, wie Sie in dieser Situation reagieren. Meine Damen und Herren, in einer solchen Situation bringen Sie diesen Unbegriff in Umlauf, der jetzt schon als das Unwort des Jahres gilt,

(Widerspruch von der CDU)

in einer Situation, in der deutsche Nazis den kulturellen Pluralismus aufkündigen. Das ist doch der Punkt. Wir haben doch kein Problem mit Einwanderern; momentan haben wir ein Problem mit Deutschen. Sie suggerieren mit diesem Wort Leitkultur, dass unsere Kultur besser ist als andere.

Meine Damen und Herren, die Schande ist nicht dieser Begriff; dieser Begriff ist – das habe ich deutlich gemacht – lächerlich. Endlich haben die Kabarettisten wieder etwas, über das sie ihr Kabarett veranstalten können. In bestimmten Kreisen ist es mittlerweile Volkssport, sich über die Leitkultur lustig zu machen. Das ist das eine.

(Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Salomon, ich darf Sie bitten, Ihre Ausführungen jetzt zu beenden.

Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident.

Meine Damen und Herren, die Schande ist, dass Sie in dem Wissen, was Sie mit diesem Begriff anstellen, diesen Begriff instrumentalisieren und deshalb Beifall von Rechts erheischen, aber nicht klar Stellung beziehen. Das ist die Schande.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Oettinger.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Erweiterung der Europäischen Union, die Bürgerkriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und der Arbeitsmarkt sind Faktoren, aus denen sich eine notwendige Beratung und vielleicht Veränderung des Asylrechts und des Ausländerrechts, und zwar auf Bundesebene der Normen und auf Länderebene der Umsetzung, ergeben. Dieser Beratung stellen wir uns.

Deswegen haben wir zunächst einmal Ihnen gegenüber die Frage: Ist die rot-grüne Bundesregierung bereit, in dieser Wahlperiode eine Novellierung vorzunehmen? Ihre Koalitionsvereinbarung sagt dazu nichts aus. Schröder wollte das Thema tabuisieren und vor der Bundestagswahl aussparen. Die Süssmuth-Kommission wurde dafür eingesetzt, aber bei allem Respekt – die Kollegin Süssmuth kennen wir gut –: Die Politik muss handeln. Eine Kommission ersetzt unsere Debatte nicht.

(Beifall bei der CDU)

Dazu gibt es eine Reihe von Fragen. Die hätten mit dem Thema zu tun, auf das Sie heute im Grunde genommen nicht eingegangen sind.

Erste Frage: Bieten Sie eine Reform im Bundesrat und im Bundestag vor der Bundestagswahl an, oder verhängen Sie ein Debattenverbot? Wollen Sie ein Tabu, oder sind Sie zu einer demokratischen, offenen Debatte bereit?

Zweite Frage: Im Dezember geht es um den Fahrplan der europäischen Erweiterung: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien. Die Vision von Fischer kennen wir; aber die realen Schritte sind unbekannt. Was heißt denn dies für die Freizügigkeit im Jahr 2004 und 2005, für das Arbeitsrecht? Wollen Sie Übergangsregeln, oder wollen Sie unserem Arbeitsmarkt zumuten, dass ab dem ersten Tag der vollen Mitgliedschaft auch volle Freizügigkeit gilt? Wir glauben, dass Polen Mitglied der Europäischen Union werden muss, aber dass es mindestens zehn Jahre bedarf, bis die volle Freizügigkeit kommt.

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Len- ken Sie doch nicht ab!)

Herr Kollege Salomon, genau dies ist Zuwanderungspolitik, die von Ihnen heute auf die Tagesordnung gestellt worden ist.

(Beifall bei der CDU)

Dritte Frage zum Richtlinienentwurf zur Familienzusammenführung, gestern von uns in die Debatte eingebracht. Sie haben gestern gesagt: So nicht. Aber Sie sagen nicht, wie dann. Wenn es stimmt, dass uns die Richtlinie bis zu 500 000 zusätzliche Wanderungsbewegungen bringt, Menschen, die hier integriert werden müssen, stelle ich die Frage: Was tut die Bundesregierung, von Ihnen gestellt, dazu, dass dieses Tor in der Dimension nicht geöffnet wird, sondern unser Recht, unsere Integrationsfähigkeit nicht überfordert werden?

(Beifall bei der CDU – Abg. Dr. Salomon Bünd- nis 90/Die Grünen: Erst mal machen!)

Viertens: Ich bin noch nicht so weit wie die CSU. Ob das Grundgesetz geändert werden muss, halte ich noch für offen, aber das Asylrecht und die Praxis können nicht so bleiben, wie sie sind. Wir haben zwar geringere Zugangszahlen, aber die Verfahren dauern zu lang. Der Rechtsweg ist zu kompliziert. Deswegen ist die Frage an Sie: Sind Sie zu einer Änderung des Asylrechts, des materiellen Asylrechts, des Verfahrensrechts und, falls notwendig, auch der Artikel 16, 19 Abs. 4 und 20 des Grundgesetzes ohne oder mit europäischer Harmonisierung bereit? Stellen Sie sich

ergebnisoffen dieser Beratung, oder sind Sie bei dem Thema ideologisch borniert?

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Wir stellen uns, aber reden Sie mal zum Thema!)

Fünftens: Die Greencard mag ja ein berechtigter Versuch gewesen sein; aber wenn der Arbeitsmarkt ausschlaggebend für Zuwanderung auf Zeit von Bürgern jenseits der Europäischen Union sein soll, dann bitte nicht nur die ITBranche im Mittelpunkt, sondern dann bitte auch die Frage beantworten: Wie halten wir es mit Handwerk, mit Gastronomie, mit einfachen Dienstleistungen, mit Berufen, wo längst nicht mehr Arbeitslose prägend sind, sondern Fachkräftemangel?

(Beifall bei der CDU)

In dem Zusammenhang kommt die sechste Frage: Rückführung von Flüchtlingen nach dem Bürgerkrieg.

(Zurufe, u. a. Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Wo ist denn das Thema? Sagen Sie dazu etwas!)

Hier auf Landesebene regt sich aus der Wirtschaft die Aufforderung an uns: Lasst Bosnier bei uns. Nur, das Ganze ist Bundesrecht. Arbeitsmarkt und Arbeitgeberinteresse bei der Rückführung sind nicht Landesrecht. Die Frage ist also: Wollen Sie beim Bundesrecht etwas ändern oder nicht? Fragen über Fragen,

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Da können Sie gleich antworten!)

wo die rot-grüne Bundesregierung nicht führt und ihrer Verantwortung nicht gerecht wird und das Ganze mit einer mühsamen Verkleisterung – Stichwort „Leitkultur“ – zu verdrängen versucht.

(Beifall bei der CDU – Abg. Hans-Michael Bender CDU: Jetzt kommen wir zur Sache! – Lachen des Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen)

Wir verstehen unter dem, was ein ausländischer Einwohner, der Mitbürger werden will, an Pflichten zu erbringen hat, wenn er unsere vollen Rechte genießen will, die wir ihm anbieten, dass er erstens integrationsbereit und integrationswillig ist, dass er zweitens unsere Grundwerte achtet, auch unsere abendländische Kultur, dass er unser christliches Menschenbild akzeptiert, und letztendlich, dass unsere Bevölkerung auch nicht durch Nichthandeln von Politik in dem ganzen Prozess der Akzeptanz von Integration überfordert wird. Die Grünen überfordern unsere Bevölkerung allzumal.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen kann man ja streiten, wie die Überschrift aussehen soll; aber die Debatte wurde von uns zu Recht angestoßen, und eine ratlose, ideologische Bundesregierung ist ihr im Grunde genommen nicht gewachsen und wird ihr nicht gerecht.

(Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Oettinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Dr. Hildebrandt?

Bitte schön, Herr Dr. Hildebrandt.

Herr Fraktionsvorsitzender, darf ich Sie fragen: Sollten wir in Ihrem Fall nicht besser statt von deutscher Leitkultur von deutscher Liedkultur reden?

(Widerspruch bei den Republikanern – Abg. Dr. Schlierer REP: Singen Sie Ihre eigene Internatio- nale!)

Kann es denn sein, dass wir von den Ausländern und Immigranten die Kenntnis deutscher Überlieferung und deutscher Tradition verlangen, zu der wir selbst nicht fähig sind? Oder anders gefragt: Kann jemand über Deutsches und über deutsche Kultur kompetent reden,

(Abg. Kiefl CDU: Sie nicht!)