Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

Aber es ist nicht die originäre Aufgabe der beruflichen Schulen, eine Reparaturwerkstatt

(Abg. Wacker CDU: Das ist keine Reparatur!)

für die Versäumnisse der allgemein bildenden Schulen zu sein.

(Beifall des Abg. Kretschmann GRÜNE – Abg. Wacker CDU: Ein Teil der Bildungsbiografie! – Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Trotz der bedeutenden Verbesserung der Bildungsbeteiligung kann auch das berufliche Schulwesen die soziale Un

gerechtigkeit, die an den allgemein bildenden Schulen besteht, nicht ausgleichen.

Ich will Ihnen das anhand von Zahlen auch belegen. In der TOSCA-Studie, die das berufliche Gymnasium untersucht hat, sind die Experten zu dem Ergebnis gekommen, dass die beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg zwar einen guten Beitrag zur besseren Bildungsbeteiligung, zu einer Erhöhung der Abiturientenquote leisten, aber das berufliche Gymnasium die Schule für die Aufsteiger aus der Realschule, aus der Mittelschicht ist und gerade nicht für die Kinder mit Migrationshintergrund.

Zweitens: Das Statistische Landesamt hat neue Zahlen veröffentlicht und kommt zu dem Ergebnis – ich habe die Zahlen dabei, ich kann sie Ihnen nachher auch zeigen –, dass Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund hauptsächlich in Bildungsgängen wie dem Berufsvorbereitungsjahr und in den Sonderberufsschulen zu finden sind. Sie sind aber absolut unterrepräsentiert an Berufskollegs, an Fachschulen – dort wird die Meisterprüfung abgelegt – und an beruflichen Gymnasien. Die Autoren der Studie sagen am Schluss: Für die beruflichen Schulen ergibt sich ein ähnliches Bild wie für die allgemein bildenden Schulen. Auch dort findet beim Zugang zu höherwertigen Bildungsabschlüssen noch eine soziale Ungerechtigkeit statt.

Das heißt, wir müssen zuallererst in den allgemein bildenden Schulen die Zugangsgerechtigkeit verbessern. Wir dürfen nicht allein darauf setzen, dass dies an den beruflichen Schulen erfolgt. Unser berufliches Schulwesen ist eine Stärke, aber es ist nicht der einzige Weg, um soziale Gerechtigkeit im baden-württembergischen Bildungswesen tatsächlich zu erreichen.

Herr Minister Rau, ich bin mit Ihnen völlig einig, dass die frühe Förderung im vorschulischen Bereich und die frühe Förderung in der Grundschule verbessert werden müssen. Die Grundschule ist schon heute eine gute Schule für die Schüler und Schülerinnen. Das hat die IGLU-Studie ja bestätigt. Aber wir müssen dort tatsächlich mehr an Sprachförderung leisten. Deshalb fordere ich Sie zum Handeln auf und stelle diese Forderungen im Landtag heute erneut:

Der Klassenteiler von 31 ist zu hoch, um Schüler mit Migrationshintergrund in diesen Riesenklassen sprachlich zu fördern. Wir brauchen also kleine Lerngruppen – keine Grundschulklasse darf mehr als 25 Kinder haben –, und wir brauchen zusätzlich kleine Lerngruppen, in denen Kinder mit großem Sprachförderbedarf sind.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Das ist die erste Forderung.

Zweitens: Wir brauchen die Einbeziehung von zusätzlichem pädagogischem Personal.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Sicher, Herr Röhm. Genau das ist das Problem, weil 25 % der Grundschulkinder in Klassen mit Größen zwischen 26 und 31 Schülern sind. In den großen Grundschulen in den Ballungszentren gibt es Klassen mit 28, 29 und 30 Kindern.

Dort haben wir den größten Förderbedarf. Die Forderung heißt also: Keine Klasse über 25 Schüler und zusätzlich Kleingruppen dort, wo es einen großen Sprachförderbedarf gibt.

Wir brauchen die Einbeziehung von zusätzlichem pädagogischem Personal, Sonderschullehrer und Förderschullehrer an den Grundschulen, sodass eine intensive Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund und mit Lernentwicklungsverzögerung stattfinden kann.

Drittens: Wir brauchen den Ausbau der Grundschulen zu Ganztagsschulen. In Baden-Württemberg sind genau 0,8 % von 2 500 Grundschulen Ganztagsschulen. Wir Grünen fordern in einem ersten Schritt, in den nächsten zwei Jahren 600 Grundschulen zu Ganztagsschulen auszubauen. Analog zu den Hauptschulen, die unter besonderen pädagogischen und sozialen Bedingungen arbeiten, erwarten wir, dass dieses Programm auch für die Grundschulen durchgeführt wird. Aber dazu vermisse ich, Herr Kultusminister Rau, von Ihnen noch jegliche konkrete Aussage.

Schließlich müssen wir, solange wir die Hauptschule als eigenständige Schulart haben, dort konsequent die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und von Benachteiligten verbessern: also zusätzliches Personal, Schulsozialarbeit und Ganztagsschulen in der Fläche an allen Hauptschulen.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Aber, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Herr Kultusminister Rau, wenn wir die Förderung von Kindern in der frühkindlichen Bildung und in der Grundschule wirklich massiv ausbauen, wer soll dann für die Hauptschule übrig bleiben? Wir haben doch schon jetzt die Situation, dass in Baden-Württemberg von 1 200 Hauptschulen 600 nur einzügig geführt werden. Mehr als 200 Hauptschulen haben nicht mehr als 60 Schüler insgesamt. Wie sollen diese Hauptschulen erhalten bleiben, wenn wir die Hälfte der Schüler mit Migrationshintergrund in die Realschulen und die Gymnasien bringen?

(Abg. Röhm CDU: Da sehen Sie, was unsere Hauptschule wert ist! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das ist das Problem!)

Damit stehen Sie vor einem Problem, das Sie mit dem gegliederten Schulsystem ohnehin nicht lösen können.

(Abg. Wacker CDU: Sie geben ein Plädoyer für die Hauptschule ab! – Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Herr Kollege Wacker, Sie werden doch nicht im Ernst glauben, dass Eltern mit akademischem Hintergrund, die heute alles tun, um ihre Kinder ins Gymnasium zu bringen, künftig bereit sind, ihre Kinder stattdessen an die Hauptschule zu bringen.

(Abg. Wintruff und Abg. Capezutto SPD: Das glaubt Herr Wacker nicht! – Gegenruf des Abg. Seimetz CDU: Davon ist Herr Wacker überzeugt! – Abg. Wacker CDU: Herr Kollege!)

Das ist doch geradezu absurd.

Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen ein Beispiel nennen, wie sich die Bildungsbeteiligung geändert hat. Als ich 1975 als junge Lehrerin an die Realschule KönigsbachStein gekommen bin, hatten die meisten meiner Schülerinnen und Schüler Eltern mit Hauptschulabschluss. Wenn ich zu den Klassentreffen meiner inzwischen erwachsenen Schülerinnen und Schüler gehe, stelle ich fest, dass sie ihre Kinder inzwischen alle ans Gymnasium gebracht haben; die haben Abitur gemacht und studieren. Sie glauben doch nicht etwa, dass Sie die Bildungsbeteiligung zurückdrängen können? Wenn Sie sie erhöhen wollen, dann gibt es de facto keine Möglichkeit mehr, die Hauptschule am Leben zu erhalten.

(Beifall bei den Grünen)

Deshalb, meine Damen und Herren, ist es doch vernünftig, ein human ausgestaltetes und sozial gerechtes Bildungswesen zu schaffen, das nicht diesen enormen Druck an der Grundschule beinhaltet, der den originären Bildungsauftrag durch den Stress beeinträchtigt, welche Bildungsempfehlung erfolgen wird.

Wir haben jetzt beim achtjährigen Gymnasium auch den Stress der Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder die Eingangsstufe des Gymnasiums nicht schaffen, und die wegen der Überlastung ihrer Kinder auf die Barrikaden gehen.

Deshalb fordere ich ein gerechtes und humanes Schulsystem. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir Wege mit längerem gemeinsamem Lernen beschreiten müssen.

Meine Damen und Herren, ich habe eingangs die ehemalige Bundestagspräsidentin Süssmuth zitiert. Ich möchte noch einmal auf das Beispiel Hamburg verweisen, wo die CDUBildungssenatorin gesagt hat:

Eine Zweigliedrigkeit wie etwa in Sachsen wäre vorstellbar, um einerseits die Leistungsschwachen besser zu fördern und andererseits die Leistungsstarken weiter zu unterstützen.

Der Vorsitzende der CDU-Bürgerschaftsfraktion Hamburg hat mittlerweile sogar Angebote an CDU und SPD gerichtet, darüber zu verhandeln, und er hat sogar gesagt:

Mein Wunsch ist, das ideologische Kriegsbeil der vergangenen Jahrzehnte im Interesse der Sache zu begraben.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Meine Damen und Herren, deshalb sage ich: Lassen Sie uns pragmatische Wege finden. Niemand will einen künftigen Streit über die Gesamtschule oder das gegliederte Schulsystem. Wir wollen nicht diese Gesamtschulen, die ja auch ein Teil des selektiven Schulsystems sind. Wir wollen Schulen, die individuell fördern, die Kinder gemeinsam miteinander lernen lassen und zusammen aufwachsen lassen, die Kinder sozial integrieren und ihnen dann am Ende der Sekundarstufe I unterschiedliche Optionen für die Oberstufe ermöglichen.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

Das sind moderne und humane Bildungssysteme, wie wir sie aus Skandinavien, aus Finnland, kennen. Diese Wege müssen wir auch in Baden-Württemberg beschreiten.

Lieber Herr Kultusminister Rau, Sie sind für Ihren pragmatischen Weg bekannt. Verbunkern Sie sich nicht! Verbarrikadieren Sie sich nicht in einem Modell,

(Abg. Wintruff SPD: Raus aus dem Bunker! Raus aus den Löchern!)

das aus dem vorletzten Jahrhundert, aus der ständischen Gesellschaft, stammt. Seien Sie auch bereit, dieses Modell auf den Prüfstand zu stellen und in realistischen Schritten in eine neue, humane und gerechtere Schule mit besseren Leistungen für alle Schüler und Schülerinnen, für die sozial Schwachen, aber auch für die Hochbegabten, zu gehen. Denn auch die hochbegabten Schüler und Schülerinnen profitieren mehr und werden besser, wenn sie sich nicht in einer homogenen Gruppe befinden müssen, sondern wenn sie in einer heterogenen Zusammensetzung die bestmögliche individuelle Förderung bekommen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und des Abg. Wintruff SPD)

Das Wort erhält Herr Abg. Zeller.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! In den fünf Anhörungen, die auf Anregung der SPD-Landtagsfraktion zustande kamen, haben wir uns über die Zukunft der Bildung in Baden-Württemberg auseinander gesetzt. Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich mich für die immense Vorarbeit bei der Landtagsverwaltung, insbesondere bei Frau Ehninger, und dem Ausschussvorsitzenden Peter Wintruff recht herzlich bedanken.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen sowie des Abg. Röhm CDU)

Dank sagen möchte ich auch den bildungspolitischen Sprechern für die faire und unkomplizierte Zusammenarbeit, um einen solch gewaltigen Kraftakt an Vorabklärungen durchzuführen. Auch wenn wir inhaltlich manchmal anderer Meinung sind, gilt mein besonderer Dank Ihnen, Herr Wacker.

(Beifall der Abg. Seimetz und Elke Brunnemer CDU – Abg. Schmid SPD: Das ist fair!)