Protokoll der Sitzung vom 01.12.2005

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie der Abg. Gall SPD und Kretschmann GRÜNE)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Lösch.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bin dankbar für die Debatte heute Morgen, weil man zum einen die Möglichkeit hat, Begrifflichkeiten zu klären, und weil zum anderen deutlich wird, dass wir alle hier in diesem Haus einmütig aktive Sterbehilfe ablehnen.

Die Ankündigung der umstrittenen Sterbehilfeorganisation Dignitas, in Hannover einen Ableger in Deutschland zu gründen, hat die Diskussion über dieses sehr sensible Thema neu entfacht.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Neuregelung der Rechtsgrundlage in Bezug auf die aktive Sterbehilfe steht im Augenblick nicht zur Diskussion. Dies fordern lediglich Einzelstimmen. Der Kollege Lasotta hat vorhin schon darauf hingewiesen: Außer dem Hamburger Justizsenator Kusch hat es bisher niemand gefordert. Stattdessen steht die Diskussion um die rechtliche Verankerung der Patientenverfügung und somit die Frage der passiven Sterbehilfe im Mittelpunkt des Interesses.

Ich glaube, dass es schon einen Grund hat, weshalb die Bürgerinnen und Bürger im Augenblick sehr aufgeregt dieses Thema diskutieren. So offenbart für mich die Gründung der Sterbehilfeorganisation Dignitas mit ihrer Mentalität des „Nichts wie weg“ mindestens drei Defizite in Hinblick auf die Diskussion um die Sterbehilfe. Das erste Defizit ist die nach wie vor bestehende Unsicherheit darüber, was am Sterbebett erlaubt und was verboten ist. Das zweite Defizit ist, dass wir tatsächlich im Bereich der Palliativmedizin noch nachzuarbeiten haben. Und das dritte Defizit ist die noch ausstehende Debatte um die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „würdevolles Sterben“ – Begrifflichkeiten, die sowohl Gegner als auch Befürworter der aktiven Sterbehilfe gern ins Feld führen. Ich denke, man muss einmal diskutieren: Was heißt denn „freier Wille“ mit Blick auf Entscheidungsprozesse sterbenskranker Menschen?

Ich möchte Ihnen Martin Ostertag, den Hospizbeauftragten der Landeskirche Hannovers, zitieren:

Sterbenskranken, die noch im Klinikbett vor Schmerzen nach dem Tod riefen, schwand der Sterbenswille, wenn sie erst in einem Hospiz liebevoll empfangen wurden.

Das heißt, das dritte Defizit betrifft tatsächlich auch den Ausbau der Hospizarbeit.

Das bedeutet für mich: Wir müssen zum einen die gesetzliche Regelung über die Ausgestaltung der Patientenverfügung auf Bundesebene herbeiführen und zum andern die Versorgungsstrukturen in Baden-Württemberg für Sterbenskranke im Bereich der Palliativmedizin und Hospizarbeit verbessern.

Die grundsätzliche Bedeutung von Patientenverfügungen ist nicht mehr umstritten, aber es bestehen nach wie vor sehr viele offene Fragen. Sie wissen ja, dass der Referentenentwurf der Bundesjustizministerin Zypries zurückgezogen wurde, weil man sich nicht einig wurde, wie weitreichend eine Patientenverfügung sein sollte. Frau Zypries hatte vorgesehen, eine Patientenverfügung, auf lebenserhaltende Maßnahmen solle verzichtet werden, sei auch dann umzusetzen, wenn die Krankheit noch keinen tödlichen Verlauf genommen hat. Darauf gab es Kritik von vielen Seiten. Die Diskussion ging quer durch alle Fraktionen. Die Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ hat sich dagegen geäußert. Sie empfiehlt, die Gültigkeit von Patientenverfügungen auf Fallgruppen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist, das heißt, dass eine Krankheit vorliegt, die trotz medizinischer Behandlung zum Tode führen wird.

Der Kollege Noll hat vorhin bereits die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer vorgestellt. Auch diese besagen, dass ein Abbruch der Behandlung, sofern dieser auch dem Willen des Patienten entspricht, nur unter bestimmten Umständen zugelassen werden kann,

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Dem mutmaßlichen Wil- len!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ganz rasch und vordringlich eine Klärung der Reichweite und Bindungskraft der Patientenverfügung.

Heute wurde in der Zeitung das Beispiel einer neunzigjährigen Frau aus Remseck dargestellt, die seit Jahren im Wachkoma lag und die eine Patientenverfügung hinterlegt hatte. Aber der Arzt hat sich nicht daran gehalten, weil die Patientenverfügung zu wenig konkret war. Diese Frau ist jetzt an Bronchitis gestorben. Sie hatte versäumt, in ihrer Patientenverfügung zu regeln, dass sie keine Magensonde will. Das zeigt für mich ganz klar auf, dass das Thema der Verbindlichkeit der Patientenverfügung auf Bundesebene dringend angegangen werden muss. – Das ist die eine Ebene.

(Abg. Stickelberger SPD: Der Justizminister fehlt bei einem solchen Thema!)

Die zweite Ebene ist die Frage: Was kann man hier in Baden-Württemberg machen? Das ist die Frage nach den Alternativen. Diese bestehen, wie gesagt, im Ausbau der Palliativmedizin und der Hospizarbeit. Da ist es natürlich in der Tat nicht sehr konstruktiv, wenn Sozialminister Renner in einer Pressemitteilung vom August einerseits sagt – ich zitiere –:

Die Hospizbewegung ist für mich eine überzeugende Antwort auf die Diskussion über die aktive Sterbehilfe. Ich sehe deshalb eine wichtige politische Aufgabe darin, die Hospizarbeit weiter zu stärken.

(Beifall der Abg. Dr. Lasotta CDU und Dr. Noll FDP/DVP – Abg. Dr. Lasotta CDU: Gut!)

So weit die verbale Unterstützung. Das ist ja auch toll. Aber wenn man die Realität betrachtet, muss man andererseits einfach feststellen, dass die Landesregierung sowohl im Doppelhaushalt 2005/2006 als jetzt auch im Nachtragshaushalt bei den ehrenamtlichen Hospizdiensten Kürzungen vorgenommen hat.

(Abg. Drexler SPD: So ist es! Das muss man halt sagen!)

Diese kann man ganz konkret benennen: Kürzungen bei den Service Points mit der Begründung, dass der Beratungsbedarf abnehme.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir feststellen, dass wir keine aktive Sterbehilfe wollen und dass der Wunsch nach aktiver Sterbehilfe dann abnimmt, wenn Alternativen, also eine Schmerztherapie oder die Aufnahme in ein Hospiz, angeboten werden, dann müssen diese Angebote ausgebaut werden und dann kann es nicht sein, dass man genau in diesen Bereichen kürzt mit der Begründung, dass der Beratungsbedarf abnehmen werde.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Zum Glück finanzieren jetzt ja die Krankenkassen!)

Deshalb, Kollege Lasotta, kann es nicht nur um eine verbale Anerkennung dieser Tätigkeiten gehen. Vielmehr gibt es in Baden-Württemberg sowohl bei den Hospizen als auch bei der Palliativmedizin großen Nachholbedarf. Diese Kürzungen konterkarieren im Endeffekt genau die Anstrengungen in Bezug auf diesen Nachholbedarf.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Das Wort erteile ich dem Minister für Arbeit und Soziales Andreas Renner.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dankbar für die Debatte, und ich denke, wir haben am heutigen Welt-Aids-Tag auch ein sehr symbolträchtiges Datum für eine solche Debatte gefunden.

Natürlich hat der Versuch, Dignitas in Deutschland zu etablieren, die Diskussion über die Sterbehilfe wieder in einer großen Welle nach vorne gebracht. Ich freue mich auch darüber, dass hier in diesem Haus weitgehend Einigkeit in diesem Thema besteht.

Der Ruf nach aktiver Sterbehilfe entsteht, auch internationalen Gutachten zufolge, vor allem durch die Angst, Schmerzen erleiden zu müssen, die Angst, ausgeliefert zu sein, die Angst, anderen zur Last zu fallen. Der Wunsch des Menschen, in Würde zu sterben und unter Umständen eine Behandlung abzubrechen, ist Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts. Dies haben wir zu respektieren.

Gleichwohl lehne ich eine aktive Sterbehilfe ganz konsequent ab. Ich denke, wir sollten eine Aussage von Bischof Fürst, die ich hier zitieren möchte, zur Leitschnur dieser Diskussion machen. Sie lautet:

Nicht durch die Hand, sondern an der Hand des Nächsten sterben.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut!)

Ich denke, das ist ein sehr guter Gedanke zu diesem Thema.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen wir Alternativen anbieten. In Baden-Württemberg widmen wir uns den Bereichen Schmerzmedizin und palliative Versorgung schon seit Jahren mit großem Nachdruck. Daher haben wir bessere Alternativen zur Sterbehilfe. Palliativmedizin bedeutet Linderung, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Palliativmedizin muss integraler Bestandteil jeglicher adäquater ärztlicher Versorgung werden.

Es ist wahr: Wir haben noch keinen Lehrstuhl für Palliativmedizin. Die Hochschulstrukturkommission prüft aber derzeit die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls bei uns in Baden-Württemberg. Wir haben uns als zuständiges Ministerium auch mit Nachdruck dafür eingesetzt.

Zentrales Element der Palliativmedizin ist eine differenzierte Schmerztherapie. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine ausreichende Schmerztherapie auch unmittelbar verfügbar ist. Gerade in der ambulanten Versorgung von Palliativpatienten dürfen deshalb keine Lücken entstehen. Palliativmedizin bietet Unterstützungsmöglichkeiten an, die es auch den Angehörigen erleichtern, die Krankheit des Patienten zu ertragen. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, dass Patienten bis zum Ende ihres Lebens in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können. Die allermeisten Betroffenen wünschen sich dies.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der zweite Bereich ist der Hospizbereich. Ich sage immer: Die Hospizbewe

gung ist unsere Antwort auf Dignitas, und zwar in einem ganz speziellen Bereich.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der FDP/DVP und der Grünen – Zuruf von der CDU: Bravo!)

In Fällen, in denen eine Versorgung im häuslichen Umfeld nicht möglich ist, sollten Hospize oder Palliativstationen zur Verfügung stehen. In Baden-Württemberg wird in den 15 stationären Hospizen mit insgesamt 107 Betten sowie auf den vier Palliativstationen mit insgesamt 48 Betten hervorragende Arbeit geleistet.

Die grundsätzliche Möglichkeit der Aufnahme in ein Hospiz ist in vielen Fällen auch die Grundlage für die Entscheidung, die Pflege der Patienten zunächst doch zu Hause zu versuchen.

Lassen Sie mich nun aber auf die ganz konkreten Verbesserungen eingehen, die wir in Baden-Württemberg intensiv vorantreiben. Der Hausarzt ist für viele Betroffene der wichtigste Ansprechpartner.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

Umso wichtiger ist es, dass die Hausärzte über ausreichende Kenntnisse in Palliativmedizin verfügen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

Deshalb haben wir am überregionalen Schmerzzentrum der Universitätsklinik Heidelberg einen palliativmedizinischen Konsiliardienst eingerichtet. Hier können sich niedergelassene Ärzte beraten lassen. Dies hat sich bereits außerordentlich bewährt. Ich hoffe, dass wir uns mit den Krankenkassen darauf verständigen können, einen solchen Dienst auch an anderen geeigneten Stellen einzurichten.

Aber auch bereits in der ärztlichen Ausbildung muss die Schmerz- und Palliativmedizin stärker verankert werden. Für alle in der palliativen Versorgung mitwirkenden Berufsgruppen brauchen wir Bildungsangebote. Diese könnten an den vier überregionalen Schmerzzentren in Baden-Württemberg eingerichtet werden. Ziel ist die Einrichtung von entsprechenden Lehrstühlen. Dies wird derzeit – ich habe es gesagt – vom Wissenschaftsministerium in der Hochschulstrukturkommission geprüft.

Daneben brauchen wir eine gesicherte Verfügbarkeit der in der Palliativmedizin wichtigen Medikamente sowohl im ambulanten kassenärztlichen Bereich als auch in den Pflegebereichen und in stationären Hospizen. Deshalb befürworte ich die Entschließung des Bundesrats, der damit das Verschreiben von Betäubungsmitteln für Bewohner von Hospizen den Erfordernissen der Praxis anpasst, außerordentlich.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)