Protokoll der Sitzung vom 01.02.2006

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 106. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie. Ich darf Sie bitten, die Plätze einzunehmen und die Gespräche einzustellen.

Urlaub für heute habe ich den Herren Abg. Dr. Lasotta und Gall erteilt.

Krank gemeldet sind Frau Abg. Kipfer und Herr Abg. Dr. Christoph Palmer.

Meine Damen und Herren, die fünfjährige Amtszeit der Abg. Alfred Haas und Dr. Stefan Scheffold im Aufsichtsrat der Landesstiftung ist im Oktober 2005 abgelaufen. Der Finanzminister hat daher mit Schreiben vom 10. Januar 2006 um die Nachbenennung von zwei Mitgliedern des Landtags für diese beiden vakant gewordenen Sitze des Landtags in diesem Aufsichtsgremium gebeten. Nach § 6 Abs. 3 des Gesellschaftsvertrags ist auch eine wiederholte Entsendung zulässig.

Das Vorschlagsrecht liegt bei der Fraktion der CDU, die wieder die beiden Abg. Alfred Haas und Dr. Stefan Scheffold benannt hat. Kann ich davon ausgehen, dass Sie diesen Vorschlägen zustimmen? – Es erhebt sich dagegen kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Meine Damen und Herren, eine Zusammenstellung der E i n g ä n g e liegt Ihnen vervielfältigt vor. – Sie nehmen davon Kenntnis und stimmen den Überweisungsvorschlägen zu.

Im Eingang befinden sich:

1. Mitteilung des Rechnungshofs vom 16. Dezember 2005 – Beratende Äußerung zu Organisation, Wirtschaftlichkeit und Personalbedarf der Landesoberkasse Baden-Württemberg – Drucksache 13/4987

Überweisung an den Finanzausschuss

2. Antrag des Finanzministeriums vom 21. Dezember 2005 – Haushaltsrechnung für das Haushaltsjahr 2004 – Drucksache 13/5003

Überweisung an den Finanzausschuss

3. Mitteilung des Rechnungshofs vom 20. Januar 2006 – Beratende Äußerung zur Organisation und Arbeitsweise der Erbschaftsteuerstellen und der Bedarfsbewertung – Drucksache 13/5077

Überweisung an den Finanzausschuss

Ich darf noch darauf hinweisen, dass nach Aufstellung der Tagesordnung in der letzten Präsidiumssitzung ein neuer Punkt 3 in die Tagesordnung aufgenommen wurde: Zustimmung des Landtags zur Berufung von Frau Dr. Monika Stolz zur Ministerin für Arbeit und Soziales. Die SPD-Fraktion hat gebeten, dass eine Aussprache dazu stattfindet, und eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion vorgeschlagen. – Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Regierungserklärung – Integration fördern, Zusammenhalt stärken – Für eine offene und wertebewusste Gesellschaft – und Aussprache

Das Wort erteile ich dem Herrn Ministerpräsidenten.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! In Baden-Württemberg und auch darüber hinaus ist in den letzten Tagen und Wochen viel über die Integration von Zuwanderern diskutiert und auch gestritten worden. Auch wenn ich nicht jedes Argument in der Debatte teile, die Debatte selbst begrüße ich sehr; denn sie zeigt, dass uns die Grundlagen unseres Zusammenlebens nicht gleichgültig sind.

Ausgangspunkt dieser Diskussion war der Gesprächsleitfaden, der seit Anfang Januar bei den Einbürgerungsbehörden in Baden-Württemberg zum Einsatz kommt. Erlauben Sie mir jedoch zunächst einige grundsätzliche Ausführungen zum Thema Integration.

Die Landesregierung von Baden-Württemberg bekennt sich zum Leitbild einer integrativen Gesellschaft. Wir wollen eine Gesellschaft, in der niemand ausgegrenzt wird, in der alle ihren Platz finden und in der sich jeder mit seinen Fähigkeiten einbringen kann: Jung und Alt, Behinderte und Nichtbehinderte, Schwache und Starke, Einheimische und Zuwanderer. Jeder Einzelne von ihnen leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu den Eigenschaften, die unser Land zu dem gemacht haben, was es heute ist: fleißig und erfindungsreich, nachdenklich und zupackend, modern und traditionsbewusst, weltoffen und bodenständig. Wir sind stolz auf diese Vielfalt und wollen sie bewahren.

(Beifall bei der CDU)

Aber ich füge auch hinzu: Vielfalt und Offenheit sind nicht gleichbedeutend mit Beliebigkeit. Wir stehen für eine welt

(Ministerpräsident Oettinger)

offene und plurale Gesellschaft. Aber auch Pluralität braucht ein festes Fundament. Zu den Eckpunkten dieses Fundaments gehören erstens die uneingeschränkte Anerkennung der Grund- und Menschenrechte, zweitens die Achtung unserer verbindenden Traditionen und Werte, drittens ein gutes und solidarisches Miteinander, viertens das Wissen, dass jeder von uns auf den anderen angewiesen ist, dann der gemeinsame Wille zum Erfolg und auch der Wunsch, den eigenen Kindern und der jungen Generation möglichst gute Startbedingungen zu geben. Diese Werte und Ziele verbinden uns. Sie sind der Kitt, der unsere plurale Gesellschaft zusammenhält.

(Beifall bei der CDU)

Es gibt vermutlich nur wenige Worte, die so vieldeutig sind wie der Begriff der Integration. Integration heißt für mich nicht die völlige Aufgabe der eigenen Identität, aber sie bedeutet auch nicht ein berührungsfreies Nebeneinander unterschiedlicher Standpunkte. Integration bedeutet für uns Teilhabe am Ganzen. Teilhabe hat nicht nur sprachlich etwas mit Teilen zu tun. Wenn Integration gelingen soll, muss die Mehrheitsgesellschaft bereit sein, sich für Neues zu öffnen und ihren Platz mit Minderheiten zu teilen.

Die Minderheiten müssen bereit sein, die Grundwerte der Mehrheitsgesellschaft zu teilen. Und beide, Mehrheit und Minderheit, müssen in der Lage sein, sich gegenseitig mitzuteilen. Das setzt zum Beispiel eine gemeinsame Sprache voraus.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Die Geschichte Baden-Württembergs ist eine Geschichte von erfolgreichen Integrationsprozessen. Das gilt nicht nur für die Vereinigung der drei Landesteile in Baden-Württemberg vor über 50 Jahren. Im Laufe unserer Geschichte haben viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, Kulturen und Religionsgemeinschaften ihren Beitrag zur Entwicklung unseres Landes geleistet.

Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hat unser Land Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Osten aufgenommen, die das schwere Schicksal der Flucht, der Vertreibung, der Aussiedlung, der Umsiedlung erlitten haben. Ähnlich wie die Spätaussiedler, die später aus Osteuropa zu uns kamen, haben die Aussiedler einen enormen Beitrag zum Aufbau Baden-Württembergs geleistet. Dafür sind wir ausdrücklich dankbar.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Mitte der Fünfzigerjahre kamen die ersten Gastarbeiter mit ihren Familien nach Baden-Württemberg. Über eine Million Menschen aus Italien, Spanien, dem ehemaligen Jugoslawien, aus Griechenland und Portugal und vor allem aus der Türkei ließen sich in Baden-Württemberg nieder. Aus Gastarbeitern wurden Einwohner, wurden Bürger. Sie haben sich dauerhaft integriert. Die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes wäre ohne sie undenkbar.

Seit der deutschen Wiedervereinigung ist Baden-Württemberg das Land mit der stärksten Binnenzuwanderung. Vor

allem junge Menschen aus den neuen Bundesländern kommen zu uns. Sie finden hier Arbeitsplätze und eine gute Ausbildung. Viele von ihnen gründen hier eine Familie. Gemeinsam mit den Zuwanderern aus dem Ausland tragen sie dazu bei, dass Baden-Württemberg ein Wachstumsland bleibt, einen Geburtenüberschuss hat und das Land mit dem geringsten Altersdurchschnitt in Deutschland ist.

Heute leben in Baden-Württemberg 1,2 Millionen Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Das sind etwa 12 % unserer Bevölkerung. In den Ballungsräumen sind es bis zu 20 %, in Stuttgart sogar fast 25 %.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Weil wir niemanden einbürgern!)

Jedes zehnte Kind, das in Baden-Württemberg geboren wird, hat muslimische Eltern. Allein diese Zahlen zeigen, wie groß die Herausforderung der Integration für alle geworden ist. Dieser Aufgabe müssen sich nicht nur die Zuwanderer, sondern auch wir, die Mehrheitsgesellschaft, stellen.

Wir alle sind dankbar für die vielen Beispiele gelungener Integration, die es in Baden-Württemberg gab und gibt. Die große Mehrheit der Zuwanderer hat sich erfolgreich in unsere Gesellschaft eingegliedert, ist integriert. Sie pflegen gute Kontakte zur Nachbarschaft und am Arbeitsplatz. Einige haben erfolgreich Unternehmen gegründet. Viele haben Anschluss an das örtliche Vereinsleben gefunden. Trotz mancher Schwierigkeiten und Spannungen ist es ihnen im Alltagsleben gelungen, die Kultur ihrer Heimat mit der unseren zu verbinden. Das ist eine Leistung, die Respekt verdient und für die ich heute danken möchte: den Betroffenen, den Zuwanderern selbst und ihren Familien, aber auch den Nachbarn und den Kirchengemeinden, den Lehrerinnen und Lehrern, den Vereinen und Verbänden, die sich um diese Menschen kümmern und ihnen die Aufnahme in die Gesellschaft ermöglichen und erleichtern.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Aber es gibt auch Fälle, in denen Integration scheitert. Und manchmal ereignet sich dieses Scheitern erst in der zweiten oder dritten Generation. Ich denke etwa an Sprachprobleme. Ich denke an Kinder, die an Ausflügen und bestimmten Schulveranstaltungen nicht teilnehmen können. Ich denke an Trends und Tendenzen des religiösen Fundamentalismus. Und ich denke auch an die Debatte über das islamische Kopftuch. Dieses Kopftuch ist eben nicht nur ein religiös oder traditionell geprägtes Kleidungsstück. Mit ihm werden oft auch politische Signale ausgesandt. Und eines dieser Signale lautet: Als Frauen dürft ihr nicht eigenständig und selbstbewusst auftreten. Ihr müsst euch dem Willen eurer Väter und Männer unterwerfen. Ihr müsst euch vor der Welt verstecken. – Genau das aber, die Trennung zwischen einem „guten“ Innenraum und einer vermeintlich „bösen“ Außenwelt, gegen die man sich abgrenzen muss, ist das Gegenteil von Integration.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wenn Integrationsprozesse scheitern, dann liegt das oft daran, dass sich die betroffenen Menschen von der Gesell

(Ministerpräsident Oettinger)

schaft des Einwanderungslandes abgeschottet haben. Dafür gibt es Gründe, die ich nennen will. Aber unabhängig von den Ursachen gilt es festzuhalten: Wenn ausländische Zuwanderer völlig unter sich bleiben, wenn es zwischen ihnen und der Mehrheitsgesellschaft keine Berührungspunkte und oft auch keine gemeinsame Sprache gibt, dann findet auch kein Austausch statt. Aber dieser Austausch ist für das Gelingen von Integration existenziell notwendig. Wir brauchen in unserem Land kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander; wir brauchen kein Gegeneinander, sondern ein Füreinander. Dies ist unser erklärtes Ziel.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen wendet sich die Landesregierung mit aller Entschiedenheit gegen die Entstehung von Parallelgesellschaften. Wir haben großen Respekt vor den religiösen Überzeugungen und vor der Kultur der Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, hier leben, wohnen und arbeiten. Ich erwarte von niemandem, dass er seine religiösen und kulturellen Wurzeln leugnet, solange sie nicht im Widerspruch zu Recht und Gesetz bei uns stehen.

Eines aber können wir sehr wohl von allen Zuwanderern in unserem Land Baden-Württemberg erwarten: Wir können erwarten, dass sie sich in zentralen Punkten für unsere Grundwerte und für die Rechtsordnung der Mehrheitsgesellschaft öffnen und dass sie sich hier auch innerlich mit dem verbünden, was bei uns an Werten und Tradition aufgebaut ist.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wer bei uns leben will, muss auch bereit sein, mit uns zu leben. Und wer mit uns leben will, muss auch bereit sein, unsere Grundwerte zu akzeptieren. Der Maßstab für diese Werte ist das Grundgesetz. Das Grundgesetz steckt einen weiten Rahmen ab: Es schreibt niemandem vor, was er zu glauben und wie er zu leben hat. Aber es formuliert Mindeststandards für die zwischenmenschliche Toleranz und für den Umgang miteinander. Es begrenzt den Machtbereich des Staates und bekräftigt Grund- und Menschenrechte. Es formuliert Regeln für den Gebrauch der Freiheit. Damit jeder so viel Freiheit wie möglich erhält und damit der Stärkere seine Freiheit nicht auf Kosten der Schwächeren ausbaut, ist diese Leitlinie des Grundgesetzes für jeden wichtig; sie steht für uns keineswegs zur Disposition.

(Beifall bei der CDU)