Protokoll der Sitzung vom 13.12.2001

(Unruhe)

von Leistung und Sich-wohl-Fühlen. Es ist eine Diskriminierung von Grundschullehrerinnen in unserem Land. Diese nehmen nämlich den Erziehungs- und Bildungsauftrag des Lehrplans der Grundschule ernst, der fordert, Grundschulen als Lern- und Lebensorte auszugestalten, als Orte, an denen sich Kinder auch wohl fühlen können.

(Beifall bei den Grünen und des Abg. Zeller SPD)

Dabei gibt es durchaus Reformprojekte, die wir unterstützen, Frau Ministerin: zum Beispiel die frühere Einschulung gekoppelt mit dem „Schulanfang auf neuen Wegen“, die jahrgangsübergreifenden Klassen, bei denen das Prinzip gilt: differenzieren und fördern.

Wenn man sich allerdings anschaut, wie die Entwicklung verläuft, muss man sagen: Nachdem Sie sich bundesweit

damit profiliert haben, haben Sie das Interesse verloren. Das Reformprojekt dümpelt vor sich hin. Stattdessen hätte es ein Schlüsselprojekt für die Weiterentwicklung der Grundschule werden können. Nur 4 % der 2 500 Grundschulen haben dieses Projekt tatsächlich durchgeführt.

Ich vermisse somit die Bereitschaft, Frau Kultusministerin, innezuhalten und auch einmal kritisch zu fragen: Mache ich, machen wir in diesem Bundesland eigentlich alles richtig? Man darf nicht immer nur sagen: Wir sind Spitze, wir können alles.

(Beifall der Abg. Heike Dederer GRÜNE – Abg. Pfister FDP/DVP: Außer Hochdeutsch!)

Nachdenklichkeit, meine Damen und Herren, ist allerdings auch in diesem Hause, bei uns selbst, angesagt. Ich würde es für ein gutes Zeichen halten, wenn sich der Landtag entschließen könnte, eine Enquetekommission zum Thema „Weiterentwicklung von Schule und Unterricht“ einzusetzen. Ich möchte daran erinnern – Frau Kollegin Rudolf hat dies ja bereits angesprochen –: Wir sind sehr zufrieden damit, dass wir in der letzten Legislaturperiode die Enquetekommission „Jugend – Arbeit – Zukunft“ hatten. Sie hat genau zu der Erkenntnis geführt, dass ungefähr 20 % der Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien nicht mehr die Leistungen erbringen, die für eine berufliche Integration notwendig sind.

Die Jugendenquetekommission hat im Ergebnis ein Bündel von Maßnahmen empfohlen. Unter anderem hat sie die Regierungskoalition endlich davon überzeugt, wie dringend notwendig die Schulsozialarbeit in diesem Land ist. Sie hat dafür gesorgt, dass in Baden-Württemberg Jugendagenturen eingerichtet wurden, die den Jugendlichen helfen, den schwierigen Übergang von der Schule in den Beruf zu meistern.

Deshalb, sage ich, würde es uns gut anstehen, zunächst einmal genau hinzuschauen und zu klären: Wo liegen denn die Schwächen? Vor allem sollten wir aber klären: Welche ganz konkreten Handlungsperspektiven müssen aufgebaut werden, damit alle Jugendlichen, von den sozial benachteiligten bis zu den höchstbegabten, die Bildung bekommen und die Kompetenzen entwickeln können, die sie von ihren Potenzialen her mitbringen?

Ich bedanke mich.

(Beifall bei den Grünen und des Abg. Kaufmann SPD)

Das Wort erteile ich Frau Ministerin Schavan.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! 1997 hat sich die Kultusministerkonferenz in Konstanz entschieden, künftig deutsche Schulen an internationalen Vergleichsstudien zu beteiligen. In den letzten zehn Tagen habe ich mich an diese Situation, an die damalige Sitzung und die Wochen und Monate danach erinnert, und ich habe mich übrigens auch an manche schul- und bildungspolitische Debatte der letzten Jahre in diesem Haus erinnert.

(Abg. Röhm CDU: Jetzt kommts!)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Dem Beschluss in Konstanz ist eine erbitterte Auseinandersetzung über Wochen und Monate vorausgegangen, lautstark bis in die Sitzung hinein – nicht weil die CDU gesagt hätte: „Es ist alles Spitze im deutschen Bildungswesen, und deshalb wollen wir das nicht“, sondern weil die SPD-Kollegen gesagt haben: „Das wollen wir nicht, wir wollen keine Beteiligung.

(Zurufe von der SPD: Was?)

Wir haben ein anderes Verständnis von dem, was Schule ausmacht, im Vergleich zu dem, was Vergleichsuntersuchungen liefern können.“

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von der CDU: Aha! Ist ja interessant!)

Das kann man alles in Protokollen nachlesen.

(Abg. Christine Rudolf SPD: Nur sollten Sie die lesen!)

Deshalb meine erste Feststellung: Die damalige Vereinbarung der Kultusministerkonferenz in Konstanz gehört zu den bedeutsamsten Beschlüssen, weil jetzt möglich ist, was bislang nicht möglich war: Bildungspolitik auf eine empirische Grundlage zu stellen, mit Fakten und nicht unentwegt mit Spekulationen zu arbeiten, sachliche Debatten zu führen.

Liebe Frau Rudolf, Sie müssen mich nicht ermahnen. Ich bin diejenige, die in den letzten Tagen unter anderem in Berlin gesagt hat – das können Sie nachlesen –: Alle Länder sind betroffen.

(Abg. Drexler SPD: Stimmt doch gar nicht!)

Alle Länder sind betroffen.

(Abg. Drexler SPD: Sie wissen alles!)

Äußerungen wie „Wir wissen alles“ stammen übrigens aus den letzten Tagen vorrangig von Sozialdemokraten.

(Beifall bei der CDU)

Heute Morgen wird in nordrhein-westfälischen Zeitungen die Kultusministerin Behler zitiert mit dem Satz, dass eben Lehrer beratungs- und weisungsresistent seien und dass wir deshalb in Deutschland solche Zustände hätten.

(Oh-Rufe von der CDU – Abg. Dr. Birk CDU: Ein Schlag ins Gesicht der Lehrer! – Abg. Fleischer CDU: So eine Verunglimpfung! – Weitere Zurufe von der CDU: Unglaublich! Skandalös!)

Sozialdemokratische Kollegen, übrigens auch baden-württembergische, haben mir in den letzten Tagen gesagt, ich solle doch einfach mal reinschlagen:

(Abg. Pfister FDP/DVP: Reingrätschen!)

reinschlagen in die Schulen, reinschlagen in die Verbände, reinschlagen in die Interessenvertretungen. Dann würde alles besser.

(Abg. Drexler SPD: Da wird bald niemand mehr mit Ihnen reden, wenn Sie alle vertraulichen Ge- spräche wiedergeben!)

So weit zur Nachdenklichkeit, so weit zum Thema Innehalten, so weit zu der Bereitschaft, nicht einfach bei dem zu bleiben, was immer schon gesagt worden ist, sondern empirische Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen.

Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu den empirischen Grundlagen. Es sind 500 Seiten. Herr Kleinmann hat schon ein Exemplar da liegen.

(Abg. Fleischer CDU: Streber! – Abg. Kretsch- mann GRÜNE: Er will damit den Eindruck erwe- cken, als würde er das auch lesen!)

Was bislang in den Zeitungen steht, ist ein Bruchteil davon, aber es sind die gravierenden Ergebnisse.

Erster Punkt: Es ist jetzt erwiesen, dass wir, wenn wir über Schlüsselqualifikationen nachdenken, vielleicht nicht an allererster Stelle von Teamfähigkeit, Wohlfühlen und Sozialkompetenz sprechen. Es wäre schon gut, wenn man sich beim Leisten wohl fühlen würde, das ist wahr, aber Alternativen können es nicht sein. Nach PISA ist klar: Die Lesekompetenz ist der wirklich entscheidende Schlüssel.

(Beifall bei der CDU – Abg. Christine Rudolf SPD: Sie bauen doch Widersprüche auf, die es gar nicht gibt!)

Frau Rudolf, eine Schlüsselqualifikation ist übrigens auch Zuhören-Können.

(Beifall bei der CDU – Zuruf des Abg. Drexler SPD)

Lesekompetenz ist nicht nur bedeutsam im Blick auf Deutsch, auf Literatur und für das Verständnis von Texten. PISA hat uns in vielen Details dargelegt, es ist genauso die entscheidende Voraussetzung für mathematische Grundkompetenzen und für Naturwissenschaften. Deshalb muss der Grundsatz gelten: Wer über Bildungsinhalte nachdenkt, wer darüber nachdenkt, was in der Schule Priorität haben muss, der muss wissen, um mit Hartmut von Hentig zu sprechen – der erscheint Ihnen nicht ganz so fies wie vielleicht ich –,

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Dazu bedurfte es seit 3 000 Jahren keiner PISA-Studie!)

dass es zweierlei zu beachten gilt: Wir brauchen guten Sprachunterricht, und wir brauchen Spracherziehung. Spätestens, wenn es um Spracherziehung geht, brauchen wir die Verbindung und Kooperation zwischen Schule und Elternhaus,

(Beifall bei der CDU)

übrigens auch zwischen Schule und einer Gesellschaft, in der Lernen und Leistung, in der der Umgang mit Sprache, in der die Pflege der Sprache einen anderen, einen höheren Stellenwert bekommt als bei uns.

(Zuruf von der SPD: Da war der Humboldt schon weiter! – Heiterkeit bei der SPD)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)