Protokoll der Sitzung vom 23.01.2003

Die gegliederten Systeme haben das Nachfolgeproblem, dass sie Durchlässigkeit gewährleisten müssen. Ein gegliedertes System ist nicht per se gerecht. Ein gegliedertes Schulwesen ist nur gerecht, wenn es zugleich ein durchlässiges Schulwesen ist,

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Seimetz CDU: Richtig!)

nämlich nach dem Grundsatz: Auf jeden Abschluss folgt ein Anschluss. Letztlich heißt das, dass wir nicht ein gegliedertes Schulwesen allein haben, sondern ein Schulwesen, das in Form eines Baukastensystems funktioniert, mit unterschiedlichen Lernkonzepten, völlig unterschiedlichen Ansätzen. „IMPULSE Hauptschule“ ist nicht ein Konzept für

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Minderbegabte, sondern ein ganz spezifisches Konzept, das in einer besonderen Weise Anwendung mit Theorie verbindet, Praxisorientierung mit vielen außerschulischen Lernorten verbindet. Das ist kein Konzept für Minderbegabte, sondern ein eigenes Konzept, ein bestimmtes Element im Baukastenschulwesen in Baden-Württemberg.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wenn man sich jetzt die internationale Debatte ansieht, wird man feststellen müssen, dass die Länder, in denen es bislang keine Test- und Evaluationskultur gibt, zur Vergleichbarkeit mehr davon schaffen müssen und dass diejenigen, die ein gegliedertes Schulwesen haben, dafür sorgen müssen, dass es immer durchlässiger wird. Ich sage Ihnen: Welche Kooperationsmöglichkeiten in zehn Jahren nach einer solchen, immer besser funktionierenden Durchlässigkeit noch bestehen werden, weiß ich nicht. Das lassen wir auch offen. Was wir in Baden-Württemberg aber nicht tun, ist, angesichts der PISA-Studie jetzt die Debatten zu wiederholen, die vor 30 Jahren geführt wurden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Schmiedel SPD: Wer führt denn solche Debatten?)

Meine Damen und Herren, das hat zu einer massiven Vernachlässigung jeder bildungspolitischen Debatte über Bildungsinhalte und Bildungsziele geführt. Diese 30 Jahre – das gilt für alle Bundesländer –

(Abg. Zeller SPD: Ach was!)

waren davon geprägt, dass überhaupt kein gesellschaftlicher Konsens mehr darüber herbeigeführt werden konnte, was für eine interessante Lernkultur in inhaltlicher und curricularer Hinsicht geeignet ist. Viel zu viel ist über Strukturen gestritten worden, anstatt eine Lernkultur zu schaffen, die Kindern und Jugendlichen etwas nützt und ihnen Spaß macht. Deshalb sage ich Ihnen: Sie können doch jetzt nicht darüber hinwegsehen, dass Professor Baumert bei jeder Gelegenheit sagt: Der Grund für das gute Abschneiden BadenWürttembergs im nationalen Vergleich und der Grund dafür, dass Baden-Württemberg in einigen Bereichen auch international so gut abgeschnitten hat – bei den Naturwissenschaften liegen wir in Teilbereichen vor Schweden –, hat damit zu tun – wörtliches Zitat –, dass Baden-Württemberg die modernste Hauptschule hat. Wir haben sie eben nicht kaputtgeredet und immer mehr abgeschafft zugunsten von anderen,

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

sondern wir haben sie weiterentwickelt, und wir werden sie auch künftig weiterentwickeln.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Sie haben mein Streitgespräch mit Herrn Schleicher angesprochen. Nun sage ich Ihnen: Sie haben es gelesen, ich habe es geführt.

(Heiterkeit)

Deshalb weiß ich, dass das Gespräch dreimal so lang war wie das, was abgedruckt worden ist, dass die Hälfte dieses Gesprächs ausschließlich um das Thema „berufliche Bil

dung in Deutschland“ gegangen ist, auch im Zusammenhang mit allgemein bildenden Schulen, die auf berufliche Bildung vorbereiten, dass Herr Schleicher mir erklärt hat, unbestritten sei die berufliche Bildung in Deutschland die große Stärke nicht nur des deutschen Bildungswesens, sondern auch eine herausragende Stärke im internationalen Vergleich. Und natürlich ist nichts, aber auch gar nichts von diesem Teil des Gesprächs abgedruckt worden, weil die, die da schreiben, weder eine Hauptschule von innen kennen noch sich mit dem beruflichen Bildungswesen in Deutschland beschäftigen. Es ist nur das abgedruckt worden, was in irgendeiner Weise zur Strukturdebatte hinführen konnte.

Herr Schleicher hat mir mehrfach am Telefon gesagt – es war ein Telefongespräch, das wir geführt haben –: Wenn ich jetzt Kultusminister in Deutschland wäre, würde ich unter gar keinen Umständen eine Strukturdebatte führen.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Nicht ausschließlich! Das sagt doch auch kein Mensch!)

Sie können sie entweder führen oder nicht führen. Das ist so.

(Zuruf des Abg. Zeller SPD)

Das ist wahr. Aber Sie haben es ja zitiert.

Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen nach der PISA-Studie eine umfassende Erneuerung der Lernkultur schaffen,

(Abg. Seimetz CDU: Richtig!)

der Bildungsinhalte, der Bildungsziele. Wir müssen aufhören, die Schulen mit allem zu befrachten,

(Abg. Zeller SPD: Wer macht denn das?)

wir müssen aufhören, immer neue Schulfächer einzuführen.

(Abg. Zeller SPD: Wer macht denn das? – Gegen- ruf des Abg. Seimetz CDU: Frau Rastätter zum Beispiel! Und Bayer! – Unruhe)

Das wurde schon heute Morgen gemacht, das wurde eben beim Thema Ethik gemacht.

Wir müssen in Lernkultur investieren.

(Abg. Zeller SPD: Werden Sie einmal sachlich!)

Ich bin die ganze Zeit heute ungewöhnlich sachlich. Ich habe heute gar keine Lust zu streiten. Ich bin überhaupt nicht auf Streit ausgelegt.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP – Abg. Seimetz CDU: Nur weiß Zeller nicht, was Sach- lichkeit bedeutet! – Abg. Dr. Caroli SPD: Ist alles relativ!)

Aber ich sage Ihnen: Ich wiederhole nicht einfach das, was schon vor 30 Jahren schief gegangen ist.

(Zuruf des Abg. Wintruff SPD)

Jetzt komme ich zu einem internationalen Beispiel, weil immer nur von Schweden und Finnland geredet wird.

(Zuruf des Abg. Wintruff SPD)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Sie wissen ja, dass einige von uns in den letzten Tagen – und nicht in den letzten Tagen allein – in Frankreich waren. Sie wissen, dass bei der PISA-Studie alle westeuropäischen Länder ähnlich wie Deutschland abgeschnitten haben: Italien, die Schweiz, Frankreich. Sie konnten in der letzten oder vorletzten Woche in der „Zeit“ ein Interview mit dem französischen Bildungsminister Luc Ferry lesen. Das war auf Deutsch und Französisch. Wer dieses Interview liest, der merkt, wie sehr wir in der Gefahr sind, in Deutschland jetzt völlig falsche Debatten zu führen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

Luc Ferry sagt erstens – Frankreich hat ganz ähnlich abgeschnitten wie wir –, nach den Schwächen des französischen Bildungswesens gefragt: Die erste und größte Schwäche ist, dass es uns in unseren Grundschulen nicht gelingt, den Kindern Lesen und Schreiben beizubringen.

Er wurde dann gefragt, wie das möglich sei, nachdem Frankreich eine Vorschule habe, auf die wir ja manchmal neidisch schauen, von der wir meinen, dass Frankreich eine Form gefunden habe, um Kindern früher eine Möglichkeit zum Lernen zu geben.

Ich habe mit ihm dann noch einmal ausführlich darüber gesprochen. Die Ecole Maternelle führt überhaupt nicht dazu, dass es in der Grundschule irgendeine bessere Situation gibt. Luc Ferry sagt, es gebe andere Gründe. Sie seien nur zum Teil bekannt – wie übrigens bei uns auch. Das hat sehr viel mit inhaltlichen und kulturellen Fragen zu tun.

Zweiter Punkt, zweite Schwäche: Ein riesengroßer Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern in Frankreich verlässt jährlich die Schule ohne Abschluss. Der Bildungsminister sagt, das geschehe, obgleich Jugendliche in Frankreich acht Stunden pro Tag in der Schule seien – all das, worüber wir zum Teil erst diskutieren.

Er sagt: Es gelingt in diesen acht Stunden anscheinend nicht – die ganzen letzten Jahre; es ist auch ein längerer Prozess –, mehr Schülerinnen und Schüler zu einem Schulabschluss zu bringen. Es gelingt uns nicht, zu einer Lernkultur zu kommen, die wirklich – jetzt sage ich einmal – dem kulturellen Anspruch und den Erwartungen Frankreichs gerecht wird.

So kann ich die Punkte durchgehen.

(Abg. Wintruff SPD: Dann haben Sie halt den Fal- schen gefragt! Das ist doch ganz einfach!)

Ich will damit sagen: Wer jetzt immer auf internationaler Ebene mit Kolleginnen und Kollegen spricht, stellt fest: Wir sind erst am Beginn der Kenntnis über die wirklichen Ursachen der schlechten Position und der schlechten Ergebnisse, die wir im internationalen Vergleich mit asiatischen, skandinavischen und auch osteuropäischen Ländern aufweisen. Es sind Punkte, die zu tun haben – ja, ich sage es einmal – mit dem Rückgang von kulturellen Standards, mit einer immer stärkeren Entwicklung einer Gesellschaft, die ihr Bildungswesen nicht ernst nimmt, wenn es um die Autorität derer geht, die in diesem Bereich arbeiten, wenn es um Respekt, wenn es um kulturelle Standards geht.

(Beifall der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Deshalb bin ich dafür – auch im Blick auf die internationale Debatte, im Zusammenwirken mit unseren internationalen Partnern –, dass wir uns um diese kulturelle Entwicklung in unseren Gesellschaften kümmern, die wesentlichen Einfluss auf Schule haben.