Protokoll der Sitzung vom 23.01.2003

Die Schlussfrage, liebe Frau Kollegin Rastätter: Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie ein selektives Wahrnehmungsvermögen haben.

(Abg. Schmiedel SPD: Na, na! – Abg. Wintruff SPD: Frage!)

Jetzt kommt die Frage: Was halten Sie davon – Sie haben den Handwerkstag zitiert –, dass die IHK, alle Berufsschullehrerverbände und der Realschullehrerverband unisono dieses gegliederte Schulwesen, das wir haben, befürworten

(Zuruf von der SPD: Die kennen nichts anderes!)

und die Vorschläge des Handwerkstags ablehnen? Für mich steht es hier 3 : 1.

(Lachen bei der SPD)

Herr Seimetz, das kann ich Ihnen gerne beantworten.

(Abg. Seimetz CDU: Weil Sie das zitieren, was Ih- nen in den Kram passt!)

Ich habe auch mit der IHK Gespräche geführt. Die Sache ist die: Die IHK befürchtet – das kann ich nachvollziehen –, dass sich kein individualisierender Unterricht entwickelt. Wenn sich keine neue Lernkultur entwickelt, sind längere gemeinsame Schulzeiten natürlich problematisch. Wenn Lehrkräfte unterrichten, die von homogenen Lerngruppen ausgehen, ist das ein Problem. Aber wir sind der Meinung, dass eine Weiterentwicklung der Lernkultur mit einer strukturellen Weiterentwicklung einhergehen muss. Die IHK ist durchaus offen dafür, diese Diskussion weiterzuführen.

Andererseits müssen Sie bedenken, Herr Seimetz, wenn Sie von 3 : 1 sprechen: Die angesehene Bertelsmann-Stiftung hat sich für längere Lernzeiten ausgesprochen,

(Abg. Dr. Caroli SPD: 3 : 2!)

auch die Unternehmensberatung McKinsey.

(Abg. Dr. Caroli SPD: 3 : 3!)

Wir haben also eine gesellschaftliche Debatte. Was ich mir von Ihnen wünsche, ist im Wesentlichen, dass Sie sich der Debatte öffnen und stellen und nicht – mit dem Brett vor dem Kopf – einfach sagen: „Alles hat sich bewährt – wir prüfen das nicht einmal.“

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Sei- metz CDU: Die Max-Planck-Studie hat auch etwas anderes ergeben! Aber Wissenschaft und Lehrer zählen bei Ihnen ja nicht!)

Das Wort erteile ich Frau Minister Dr. Schavan.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich mir heute Morgen die Tagesordnung noch einmal angeschaut habe, war ich insofern ein bisschen verwundert, als ich gedacht habe: Vorgestern wollten Sie die Hauptschule abschaffen, und heute wollen Sie über sie diskutieren.

Herr Käppeler, die Geschichten, die Sie hier vorgetragen haben – „Wer möchte zu mir?“; keiner wollte, alle wollten sie woandershin –, sind die klassischen Geschichten, mit denen die Hauptschule in Deutschland seit 30 Jahren systematisch kaputtgeredet worden ist. Systematisch!

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zuruf von der SPD: Das ist Fakt! – Abg. Wintruff SPD: Was gut ist, können wir nicht ka- puttreden!)

Man muss jetzt schon einmal ein bisschen genauer schauen: Was haben wir in diesen 30 Jahren für Debatten geführt, mit welchen Ergebnissen, und was können wir aus diesen Debatten und Ergebnissen jetzt für die nächsten Weichenstellungen nach PISA lernen?

Als vor 30 Jahren die gleiche Debatte, nur nicht auf der Grundlage internationaler Leistungsstudien, sondern damals aus Amerika kommend unter dem Titel „Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit“ geführt wurde, hat man gesagt getreu dem, was Sie eben zitiert haben – frühkapitalistische Aufgliederung der Gesellschaft, drei Klassen, für jede Klasse eine Schule –: Das darf es in Zukunft nicht geben. Wir wollen einen Ansatz, der jedem unabhängig von Klassenzugehörigkeit den Zugang zu einer seiner Begabung entsprechenden Schule ermöglicht.

(Abg. Wintruff SPD: Das könnte von PISA sein!)

Nein, das könnte eben nicht von PISA sein. Ich komme gleich darauf. Nicht immer alle 30 Jahre etwas wiederholen und darauf setzen, dass man nicht mehr weiß, was vor 30 Jahren war!

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

(Abg. Zeller SPD: Das ist doch keine Diskussion, die vor 30 Jahren geführt wurde! Was soll denn das?)

Dann hat es in Deutschland zwei Wege gegeben. Die einen haben gesagt: Wir werden jetzt mit einer neuen Struktur diese Chancengleichheit schaffen. Die Schule der Zukunft hat eine andere Struktur als die Schule der Vergangenheit, weil wir damit mehr Chancengleichheit schaffen. Dann ist es im Zweifelsfall aber nicht mehr so wichtig, wie exakt wir die Frage der Leistung beantworten. Wir müssen die Frage der Gerechtigkeit beantworten. Sie nennen das jetzt Ideologie. Ich lasse den Ideologiebegriff jetzt mal ganz außen vor. Den bewahre ich mir für Größeres auf statt für dieses Aufwärmen einer uralten Debatte. Wenn Sie daran Ihre Ideologie festmachen, dann tun Sie das meinetwegen. Mir ist es egal. Ich nenne das überhaupt nicht Ideologie. Man könnte es so nennen. Die anderen sind bei der Gliederung geblieben.

(Zuruf von der SPD: Das ist arg schwarz-weiß ge- sehen!)

Jetzt bekommen wir 30 Jahre später Ergebnisse. Es ist ja wahr: In der Kultusministerkonferenz ist von interessierten Kreisen alles getan worden, um den Länderbericht, in dem es um einen Schulartenvergleich geht, auf jeden Fall nach dem 2. Februar zu bekommen.

(Abg. Schmiedel SPD: Ja, wenn er nicht vorher fer- tig wird!)

Nicht vorher fertig – haha!

(Abg. Beate Fauser FDP/DVP: Trau, schau, wem!)

Das haben wir ja auch noch durchgehen lassen. Wissen Sie, das lässt man ja mittlerweile alles durchgehen. Ich sage Ihnen: Die Debatte bekommen wir in sechs Wochen. Exakt im März kommt die neue Debatte.

(Abg. Wintruff SPD: Auch das ist nicht neu! Be- zirksliga!)

Die Ergebnisse sind: In Baden-Württemberg sind die sozialen Ungleichheiten, auf 16 Bundesländer bezogen, am niedrigsten.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Aber vorhanden!)

Ich komme gleich auf die Probleme. – Die Bundesländer, die den anderen Weg mit Hunderten von Schulen gegangen sind – Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, SchleswigHolstein –, bekommen bestätigt, die höchste soziale Ungleichheit zu haben.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Das muss man doch jetzt zumindest einmal zugeben. Genauso steht da: Wo der Zugang zur weiterführenden Schule freigestellt worden ist, gibt es mehr Schulversager, mehr – so heißt es wörtlich – strukturelle Diskriminierung.

(Abg. Wintruff SPD: Und was ist im internationa- len Vergleich?)

Ich komme gleich auf den internationalen Vergleich. Jetzt bleiben wir zunächst einmal bei diesen Fakten.

Resümee: Nach 30 Jahren ist dort, wo man Integration der Gliederung vorgezogen hat, kein Fortschritt erkennbar,

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das stimmt doch gar nicht!)

von dem ich jetzt sagen könnte: Das sollten wir uns anschauen, das ist eigentlich schon die gelungene Schule der Zukunft. Das ist es nicht. Dafür gibt es auch Gründe.

(Zuruf von der SPD: Schauen wir doch einmal wo- anders die integrierten Schulen an!)

Wer über Verbesserung der Bildung und damit verbunden über mehr Förderung der Kinder und Jugendlichen spricht, darf zunächst eben nicht über Strukturen sprechen, sondern muss zunächst ein vernünftiges pädagogisches Konzept haben, das dem Differenzierungsgedanken gerecht wird, das der Tatsache gerecht wird, dass für jede Generation ganz unterschiedliche Lernkonzepte notwendig sind, und das vor allem dem Gedanken gerecht werden muss, dass es nicht einfach nur verschieden hohe und geringe Begabungen gibt, sondern verschiedene Begabungen, die ganz verschiedene Lernzugänge ermöglichen müssen.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Renate Ra- stätter GRÜNE)

Jetzt ist auch klar – das ist die Problemlage –, egal, ob integrativ – jetzt komme ich zum internationalen Vergleich – oder gegliedert:

(Zuruf von der SPD: Selektiv!)

Jedes System hat seine Nachfolgeprobleme. Das Problem der integrativen Systeme ist, dass sie nur funktionieren, wenn damit eine ganz konsequente Binnendifferenzierung, eine ganz konsequente Evaluation und damit eine ausgeprägte Testkultur verbunden ist, die sich in Deutschland überhaupt noch niemand vorstellen kann, Testkulturen bis hin zur Veröffentlichung in den Zeitungen – etwas, das Sie über ein Jahrzehnt aufbauen können, das Sie aber niemals aus dem Boden stampfen können. Sie wissen, dass in Deutschland, sobald Sie auch nur versuchen, ansatzweise in diese Richtung zu gehen, viele Vorbehalte bestehen werden. Dennoch glaube ich, dass dieses Thema bei uns eine Rolle spielt.

Die gegliederten Systeme haben das Nachfolgeproblem, dass sie Durchlässigkeit gewährleisten müssen. Ein gegliedertes System ist nicht per se gerecht. Ein gegliedertes Schulwesen ist nur gerecht, wenn es zugleich ein durchlässiges Schulwesen ist,