sondern Politik beginnt mit dem Erkennen der Wirklichkeit. Wenn wir die Wirklichkeit wahrnehmen, müssen wir auch schauen, welche bildungspolitischen Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.
Erstens: Niemand wählt freiwillig, bewusst die Hauptschule. Beim Übergang in die Hauptschule handelt es sich vielmehr in aller Regel um eine Zwangsentscheidung. Das, sagt der Baden-Württembergische Handwerkstag, wirkt sich negativ auf die Motivation der Schüler und Schülerinnen aus.
Alle – auch in diesem Hause –, die so vehement für den Erhalt der Hauptschule streiten, sind entrüstet, wenn man vorschlägt, dass sie ihre eigenen Kinder dort hinschicken sollen. Jeder, der sich vehement für die Hauptschule engagiert, sagt immer, das Gymnasium sei für die begabten Kinder, für die leistungsfähigen Kinder und selbstverständlich für die eigenen Kinder, die Hauptschule sei für die anderen. Auch das trägt nicht dazu bei, die Akzeptanz der Hauptschule zu fördern.
Zweitens: Niemand mehr will Hauptschullehrer werden. Der Hauptschullehrer und die Hauptschullehrerin sind eine aussterbende Art und gehören schon längst auf die rote Liste gesetzt.
(Abg. Zimmermann CDU: Sagen Sie, warum! – Gegenruf von der SPD: Sagt sie doch gerade! – Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Zuhören!)
An der PH studieren sechsmal so viele Lehramtsstudierende das Lehramt Grundschule und dreimal so viele das Lehramt Realschule. Mit Engelszungen versuchen die Hochschullehrer und -lehrerinnen, die Studierenden in den Hauptschulstudiengang zu drängen. Die Hochschullehrer sagen, die Studierenden seien beratungsresistent.
Kein Wunder! Denn ich muss Ihnen den Vorwurf machen: In dieser Hinsicht haben Sie in der Tat versagt. Denn Hauptschullehrkräfte haben die kürzeste Ausbildungsdauer und das geringste Gehalt aller Lehrkräfte und müssen höchsten Erwartungen genügen. Sie müssen alle Fächer unterrichten können sowie interkulturelle und sozialpädagogische Fähigkeiten besitzen. Die Hauptschulen müssen am engsten mit außerschulischen Einrichtungen kooperieren. Hier haben Sie versagt bei der Aufgabe, den Hauptschullehrkräften zumindest eine ordentliche Ausbildungszeit, ein ordentliches Gehalt und eine ordentliche Arbeitszeit zu geben.
Viertens: Die Bildungschancen sind höchst unterschiedlich. Die Übergangsquoten in die Hauptschule auf dem Land und in der Stadt sind extrem unterschiedlich. Wenn man in Waldshut-Tiengen lebt, ist die Wahrscheinlichkeit, in eine Hauptschule zu gehen, zweimal so hoch wie beispielsweise in Heidelberg.
Es gibt aber nicht nur ein Stadt-Land-Gefälle, sondern es gibt auch innerhalb einer Stadt ein Gefälle. Wir haben in Karlsruhe 30 Grundschulen. Zwei Beispiele möchte ich nennen. Wir haben eine Grundschule mit einer Übergangsquote auf die Hauptschule von 0 %, zur Realschule von 20 % und zum Gymnasium von 80 %. Wir haben eine Grundschule, bei der die Übergangsquote aufs Gymnasium sogar bei 85 % liegt. Wir haben aber auch Grundschulen mit einer Übergangsquote von 62 % auf die Hauptschule, von 25,5 % auf die Realschule und 12,5 % aufs Gymnasium.
Womit hängt das zusammen? Das hängt natürlich mit dem sozialen Umfeld der Grundschule zusammen. Wenn es ein bildungsbürgerliches Umfeld ist, dann haben wir Übergangsquoten aufs Gymnasium von 80 bis 90 %, ist es hingegen eine Grundschule mit hohem Migrantenanteil, mit Eltern, die selbst bildungsarm sind, dann haben wir riesige Übergangsquoten auf die Hauptschule. Das heißt, entscheidend für die Schule, in die die Kinder nach der vierten Klasse gehen, ist – und das ist der wichtigste Grund, weshalb wir etwas tun müssen – nach wie vor die soziale Herkunft. Die frühe Selektion verstärkt dies, weil die Leistungen der Kinder in dieser geringen Zeit nicht auf ein Niveau gebracht werden können, das bessere Chancen bietet.
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Zeller SPD: Das hat Herr Baumert auch bestätigt! – Gegenruf von der SPD: Dazu hat Herr Seimetz nichts gesagt!)
Frau Schavan, natürlich stimme ich mit Ihnen überein, dass wir ein sehr gutes berufliches Schulwesen haben und dass es in Baden-Württemberg, was die vertikale Durchlässigkeit anbelangt, gute Möglichkeiten gibt. Aber den Druck auf die Grundschulen, die Ängste bei Kindern, die psychischen Probleme, die Kinder haben,
(Abg. Seimetz CDU: Wenn die Eltern nur solche Dinge hören wie von Ihnen, kann es auch gar nicht anders sein!)
die Misserfolgserlebnisse, die sie in der Grundschule haben, können Sie auch mit einem noch so gut ausgebauten, durchlässigen beruflichen Schulwesen nicht beseitigen.
Ich komme zu meiner Konsequenz: Die frühe Auslese nach der vierten Klasse erfolgt zu früh, und die grundlegenden Probleme des Bildungswesens lassen sich damit nicht lösen.
Warum halten Sie aber so vehement und hartnäckig an dem gegliederten, an dem frühselektiven Bildungswesen fest? Es sind rein ideologische Gründe – rein ideologische Gründe! –, und ich kritisiere das Menschenbild, das dahinter steckt.
Es ist ein Menschenbild, das vorgibt, dass Kinder in drei unterschiedliche Begabungstypen sortiert werden können. Meine Damen und Herren, das ist ein völlig veraltetes Menschenbild. Das ist ein Menschenbild aus der Zeit des Frühkapitalismus, aus der Klassengesellschaft, in der Kinder nach so genannten Begabungstypen sortiert wurden, nämlich nach ihrer späteren Verwertbarkeit in der Arbeitswelt.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Seimetz: Das ist eine Klassen- kampfrede! Das ist der bildungspolitische Klassen- kampf, den Frau Rastätter ausruft!)
Wenn wir uns umschauen und alle anderen europäischen Staaten anschauen, stellen wir fest: Nirgendwo gibt es ein solches selektives Bildungswesen, das bereits nach vier Grundschuljahren selektiert, mit Ausnahme von Österreich, aber die Österreicher haben im Prinzip Hauptschulen mit Profilen – immer wieder wird das Musikprofil der Hauptschule genannt – und im Grunde eine Zweigliedrigkeit. Aber ansonsten sind es überall mindestens sechs Jahre, die Regel sind neun Jahre. Wenn Sie sich anschauen, was der Baden-Württembergische Handwerkstag fordert, stellen Sie fest, dass er nicht lediglich eine Verlängerung der Grundschulzeit fordert, sondern dass er dafür plädiert, die Selektion von Kindern grundsätzlich zu überwinden und zu einem modernen Bildungswesen zu kommen, wie es in Finnland, in Schweden und in allen anderen skandinavischen Ländern besteht.
und dass wir dort ein Bildungswesen kennen lernen, in dem die Schülerinnen und Schüler neun Jahre lang gemeinsam die Schule besuchen. Aber ich befürchte fast, dass es nicht viel hilft, wenn wir dort sind; denn ich war gerade in Schweden und habe mir das schwedische Bildungswesen angeschaut und habe, oh Wunder, als ich dort war, immer wieder festgestellt: Ich bin überall auf den Spuren unseres Staatssekretärs Rau gewandelt. Herr Rau war auch in der Futurum-Schule in Stockholm, wo es kein gegliedertes Bildungswesen und nicht einmal mehr Klassenverbände gibt. Die Kinder lernen dort jahrgangsübergreifend neun Jahre lang zusammen – –
Ich möchte gerade noch meinen Satz zu Ende führen. Die Kinder lernen neun Jahre lang zusammen auf unterschiedlichen Niveaus. Da lernt der zwölfjährige begabte Mathematikschüler zusammen mit dem 18-jährigen Schüler.
Herr Rau war total beeindruckt. Er kam zurück aus Schweden, und was hat er als Erstes gesagt? „Das baden-württembergische gegliederte Bildungswesen hat sich bewährt.“ Deshalb sage ich: Es sind ideologische Gründe, die dahinter stehen.
(Abg. Alfred Haas CDU: Dann ist es keine Zwi- schenfrage mehr! – Abg. Kleinmann FDP/DVP: Dann ist es eine Schlussfrage!)
Für uns Grüne heißt das: Wir sind selbstverständlich dafür, dass man alle Schritte unternimmt, um die Situation zu verbessern. Deshalb sind wir, das haben wir auch schon in der Vergangenheit gesagt, für eine sechsjährige Grundschule als ersten Schritt.
Wir sind auch dafür, dass in der Grundschule keine Noten gegeben, sondern Lernberichte erstellt werden, die den Kindern ermutigende, stärkende Leistungsrückmeldungen geben. Das bedeutet keinen Verzicht darauf, dass Kinder lernen, sich selbst im Kontext der anderen zu bewerten. In Schweden, in Finnland lernt man schon im Kindergarten, sich selbst einzuschätzen und zu bewerten und Verantwortung für die eigenen Lernleistungen zu übernehmen.
Selbstverständlich sind wir auch dafür, dass wir regionale Schulen bekommen. Wir werden kleine Hauptschulen, die
Klassenstärken von weniger als 16 Schülern haben, nicht halten können. Hier brauchen wir leistungsfähige pädagogische Einheiten. Wenn wir sie sowieso brauchen, macht es auch Sinn, sie integrativ auszugestalten und allen Kindern die Möglichkeit zu geben, einen mittleren Bildungsabschluss zu erzielen.
Wir brauchen eine neue Lernkultur. Diese muss aber auch mit einer strukturellen Weiterentwicklung der Schule einhergehen.
Ich komme zum Schluss: Es bedarf einer Umkehr unseres Leitbilds von Schule. Wir müssen weg von Schulen, die über die falschen Schüler klagen, und hin zu Schulen, die richtig sind für unsere Schüler.