Protokoll der Sitzung vom 27.03.2003

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 42. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich den Herren Abg. Maurer und Gaßmann erteilt.

Krank gemeldet sind Frau Abg. Weckenmann sowie die Herren Abg. Dr. Glück, Fleischer und Rüeck.

Dienstlich verhindert sind Herr Ministerpräsident Teufel, Frau Ministerin Werwigk-Hertneck, Herr Minister Stratthaus, Herr Minister Köberle und Herr Staatssekretär Rückert.

Meine Damen und Herren, heute hat Herr Kollege Wintruff Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen, Herr Wintruff, sehr herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Regierungserklärung – Verantwortung fördern – Qualität entwickeln – Bildung und Erziehung stärken! – und Aussprache

Das Wort erteile ich Frau Ministerin Dr. Schavan.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit eines Landes und der Motor für kulturelle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sind Bildung, Ausbildung und Erziehung. Darüber gibt es einen internationalen Konsens. Deshalb ist die Bildungspolitik in vielen Ländern derzeit Reformpolitik. Es gilt der Grundsatz: Selbstzufriedenheit und Stillstand in der Bildung bedeuten über kurz oder lang Rückschritt.

Wer reformiert, braucht einen pädagogischen Grundimpuls. Dieser Grundimpuls ist in Baden-Württemberg ein ganzheitliches Bildungsverständnis, das Bildung nicht nur aufgrund von Messbarem definiert. Persönlichkeitsstärkung, musisch-ästhetische Erziehung, die Einübung von Verantwortung und die Gestaltung von Freiheit durch Orientierung gehören dazu.

Wer reformiert, braucht Maßstäbe, von denen her sich ein roter Faden für das Reformprojekt knüpfen lässt. Unsere

Maßstäbe heißen: Verantwortung auf allen Ebenen fördern, Qualität entwickeln. Die Weichenstellungen der badenwürttembergischen Bildungspolitik der vergangenen Jahre sind diesen Maßstäben verpflichtet.

Wenn ich sage, Bildung ist nicht schon das, was sich messen lässt, so bleibt doch auch richtig, dass es Voraussetzungen für den Erfolg von Bildungsprozessen gibt, für die die internationale empirische Bildungsforschung Instrumente entwickelt hat, die uns Informationen über Erfolg und Misserfolg im Zugang zur Bildung geben. Das ist das Thema der uns bislang vorliegenden internationalen Vergleichsstudien.

Aufgrund eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz 1997 in Konstanz beteiligen sich die Länder in Deutschland seither und in den kommenden Jahren an zahlreichen internationalen Vergleichsstudien, die alle allgemein bildenden Schulen betreffen. Bildungspolitik erhält damit in einem wichtigen Segment, bezogen auf grundlegende Kulturtechniken und soziokulturelle Bedingungen der Bildung, ein empirisches Fundament. Ich halte das für einen Fortschritt in der Bildungspolitik, der vor allem der Vergleichbarkeit im Zugang zur Bildung dient.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Theurer FDP/ DVP)

Meine Damen und Herren, die Chancen, die damit verbunden sind, werden allerdings gefährdet, wenn mit festgestellten Schwächen jeweils der Eindruck erweckt wird, als müsse die Schule neu erfunden werden. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wer Qualitätsentwicklung will, muss damit Schluss machen, so zu tun, als müssten wir die Schule neu erfinden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

Die Art der öffentlichen Diskussion hat auch zu tun mit der Praxis der Veröffentlichung von Daten, der Deutung von gleichen Daten aus dem Jahr 2000 in drei Etappen. Für Baden-Württemberg sind diese drei Schritte der Differenzierung der gleichen Daten mit sehr verschiedenen Botschaften verbunden, und bislang liegen uns immer noch nicht alle Deutungen und Analysen vor.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Das birgt die Gefahr virtueller Debatten und muss verbessert werden. Das gehört in das Gespräch zwischen Politik und Wissenschaft, denn internationale Vergleichsstudien werden nicht für akademische Oberseminare gemacht. Sie

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

werden gemacht, um politische Konsequenzen zu ziehen, um zu Handlungskonzepten zu kommen. Deshalb kann uns nicht jedes halbe Jahr eine neue Botschaft verkündet werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Dabei sage ich ausdrücklich: Das Schlechtreden schulischer Arbeit ist ebenso schädlich wie die Schönfärberei.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Ca- roli SPD: Allerdings!)

Beide sind keine guten Begleiter schulischer Reformprozesse, in denen wir mittendrin stecken. Die Lehrerinnen und Lehrer an baden-württembergischen Schulen können von uns erwarten, dass wir ihre Bemühungen in den Reformprozessen auch positiv wahrnehmen und Fortschritte und Stärken öffentlich genauso benennen, wie wir uns intensiv mit den Schwachstellen beschäftigen. Ich bin dankbar dafür, dass in unserem Land viele Lehrerinnen und Lehrer mit hohem Engagement und ausgewiesener pädagogischer Kompetenz arbeiten. Für beides danke ich ihnen sehr.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Meine Damen und Herren, die nationalen und internationalen empirischen Studien – bereits ab dem 8. April werden weitere Studien vorgelegt – werden die bildungspolitischen Reformprozesse in Deutschland prägen. Sie werden uns aber nur auf die richtigen Fährten bringen, wenn wir sie nutzen für die wesentlichen Fragen dieses Reformprozesses. Diese wesentlichen Fragen beziehen sich erstens auf eine Stärkung des frühen Lernens und damit verbundene gute Verbindungen zwischen dem vorschulischen Bereich und der Grundschule,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ganz wichtig!)

zweitens auf verbesserte Lernstrategien, die Bildungsinhalte ebenso betreffen wie methodische und didaktische Fragen, drittens auf die Frage nach der Gerechtigkeit beim Zugang zur Bildung und viertens auf verbesserte Wege der Integration angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland einen hohen Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben.

Wer immer, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Studien nutzen will, um in Deutschland die gleichen Debatten zu führen, die wir vor 30 Jahren schon einmal geführt haben, der läuft Gefahr, von diesen wesentlichen Fragen abzulenken.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Was meine ich, wenn ich die Auswertung der gleichen Daten in drei Etappen kritisiere? Im Dezember 2001 wurde Deutschland ein Platz im letzten Drittel – Rang 21 unter 31 teilnehmenden Staaten – bescheinigt. Der PISA-Schock saß tief, und das pauschale Urteil über unsere Schulen war verheerend.

PISA E – die zweite Auswertung – differenzierte im Juni 2002 diese Aussage: Baden-Württemberg liegt unter 16 Bundesländern auf Platz 2. Der Kommentar der Opposition

war: „Zweiter in der Regionalliga; Spitze in der Regionalliga ist nicht Spitze.“

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und wenn es so wäre, hätten Sie sogar Recht gehabt.

(Abg. Wintruff SPD: Wir haben immer Recht!)

Der dritte Teil – der vertiefende Länderbericht – zeigt bei der Betrachtung von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund: Die mittleren Leistungswerte in unserem Land entsprechen in allen drei Kompetenzbereichen denen in internationalen Spitzenländern wie zum Beispiel Kanada, Finnland und Australien. Damit verbunden ist die zweite Botschaft: Jugendliche mit Migrationshintergrund – das sind unter den 15-Jährigen in Baden-Württemberg 28,6 % – werden erfolgreich gefördert. Ich erinnere an unsere großen Sorgen, die wir zum Beispiel im Zusammenhang mit den Aussiedlerfamilien gehabt haben. Ich nenne Städte wie Lahr, ich nenne Stichworte wie „Brückenlehrer“. Die Tatsache, dass wir damals mit hohen Investitionen geantwortet haben, auch mit unkonventionellen Lösungen, hat sich bewährt. Professor Baumert, der Direktor des MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung, sagte am 8. März 2003 in der „Süddeutschen Zeitung“:

Die Länder, die wie Bayern und Baden-Württemberg insgesamt erfolgreich sind, integrieren auch ausländische Schüler am besten.

Das ist ein gutes Zeugnis für unsere Schulen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Solche Differenzierungen in der Deutung der Daten, wie sie nicht die Politik, sondern das Max-Planck-Institut vorgenommen hat, dienen der Suche nach geeigneten bildungspolitischen Konzepten. Deshalb ist es mir unverständlich, dass man solche Differenzierungen als unseriös abtut. Sie eignen sich weder für Schuldzuweisungen, noch eignen sie sich zur Beruhigung. Auch wenn wir so differenzieren, bleiben Schwachstellen in allen Ländern in Deutschland, um die wir uns kümmern müssen. Ich sage aber auch: Wer solche Differenzierungen ignoriert, weil ihm gute Nachrichten nicht ins politische Konzept passen, der legt falsche Fährten in der bildungspolitischen Diskussion.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

PISA E und der vertiefende Länderbericht für Deutschland zeigen ein dramatisches Nord-Süd-Gefälle mit Unterschieden bis zu zwei Schuljahren. Das ist das Ergebnis von 30 Jahren Bildungspolitik. Deshalb sage ich so eindringlich: Jetzt darf nicht rückwärts gewandt die gleiche Debatte wie vor 30 Jahren geführt werden. Das gilt sowohl im Hinblick auf die sechsjährige Grundschule wie auch im Hinblick auf die damals eingerichteten Gesamtschulen, die in Deutschland erwiesenermaßen nicht zu den Ergebnissen geführt haben, die erreicht werden sollten –

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

weder bei den Kompetenzbereichen noch im Blick auf die Frage nach der Gerechtigkeit beim Zugang zur Bildung.

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Deshalb heißt es interessanterweise im vertiefenden Länderbericht auch, dass die quantitative Entwicklung der vergangenen Jahre nicht automatisch zu qualitativen Verbesserungen geführt hat, sondern jetzt Fragen nach der Qualität des Unterrichts, nach der Wirksamkeit von Lernstrategien und den Prozessen einer inneren Schulentwicklung eine neue Phase der qualitativen Entwicklung unseres Bildungswesens eröffnen müssen. Genau mittendrin in dieser qualitativen Phase sind wir in Baden-Württemberg.