Die sozialen Sicherungssysteme können zukunftsfähig und krisenfest gemacht werden, wenn nicht immer nur an Symptomen herumgedoktert wird
und kurzfristig wirkende Kostenbegrenzungen ohne Einbettung in ein Gesamtsystem vorgenommen werden. Wir brauchen auch hier ein Denken in Zusammenhängen. Notwendig sind mutige Entscheidungen, die vielleicht in der Gegenwart allen wehtun,
Um mehr Eigenverantwortung der gesamten Bürgerschaft kommen wir nicht mehr herum. Es ist besser, in allen Bereichen – Arbeitsmarkt, Arbeitslosenversicherung, Rente, Gesundheit, Pflege – große Schnitte mit gerechter Verteilung der Lasten vorzunehmen, als dauernd Reparaturarbeiten zu machen, von denen jeder weiß, dass sie allenfalls ein oder zwei Jahre oder gar nur Monate bis zur nächsten Reparatur halten werden.
Die Menschen spüren, dass das Zeitfenster, innerhalb dessen große Reformen mit einem verantwortbaren und ge
rechten Ausgleich, auch zwischen den Generationen, möglich sind, immer kleiner wird und sich zu schließen beginnt. Deshalb muss der politische Wettlauf zur Verschiebung oder Verhinderung des Unangenehmen beendet werden, denn er geht auf Kosten der Zukunftsfähigkeit unseres Landes und auf Kosten der Gerechtigkeit zwischen den Generationen.
Der viel zitierte Ruck sollte nicht mehr länger nur beschworen, sondern endlich herbeigeführt werden. Wir brauchen, gerade auch auf der Bundesebene, auf der die allermeisten Reformbaustellen liegen,
Meine Damen und Herren, die Politik muss auf allen Ebenen wieder ihrem Gestaltungsanspruch gerecht werden. Dazu bedarf es nicht vieler Kommissionen, sondern vor allem der politischen Führung. Wir in Baden-Württemberg handeln im Rahmen unserer Zuständigkeiten: mit der Einführung eines Konzepts zur Kinderbetreuung und der Sprachförderung im Kindergarten, mit der Einführung einer Fremdsprache in der ersten Grundschulklasse, mit der Oberstufenreform des Gymnasiums und dem Abitur nach acht Jahren, mit 5 500 neuen Lehrerstellen bis 2006, mit dem Recht der Hochschulen zur Selbstauswahl ihrer Studenten, mit der Verkürzung des Studiums, mit Langzeitstudiengebühren, mit dem Ausbau der Fachhochschulen und Berufsakademien, mit einer stärker praxisbezogenen Lehrerausbildung, mit Jugendberufshelfern, mit unserem Landeserziehungsgeld, mit einer weit überdurchschnittlichen Forschungsförderung, mit einem Technikzukunftsprogramm für die Polizei, mit der kommunalen Kriminalprävention, mit anlass- und ereignisunabhängigen Kontrollen zur Verbrechensbekämpfung, mit den Zukunftsoffensiven Junge Generation,
mit der Landesstiftung Baden-Württemberg, mit bundesweit einzigartigen Einrichtungen wie der Medien- und Filmgesellschaft, der Filmakademie, der Popakademie, dem Haus der Geschichte, mit den neuen Initiativen „doIT“ und „Baden-Württemberg media“, mit einer vielfach ausgezeichneten Werbe- und Sympathiekampagne, mit Stuttgart 21 und der ICE-Trasse Wendlingen–Ulm, mit der neuen Landesmesse und vielem anderem mehr.
Meine Damen und Herren, unter unseren Gästen auf der Zuhörertribüne gilt mein besonderer Gruß einer Delegation aus Nordirland. Bei den nordirischen
Gästen handelt es sich um die Mitglieder einer Kommission, die sich mit Fragen der Reform der öffentlichen Verwaltung befasst.
Im Rahmen ihres zweitägigen Aufenthalts in der Landeshauptstadt wollen sich die Gäste über die Pläne für eine Verwaltungsreform in Baden-Württemberg informieren.
Begleitet wird die Delegation vom britischen Generalkonsul, Herrn Mark Twigg, den ich ebenfalls sehr herzlich begrüße.
Verehrte Gäste, wir wünschen Ihnen einen angenehmen und informativen Aufenthalt in unserem Land. Der nordirischen Bevölkerung wünschen wir eine friedliche Zukunft.
Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Aussprache über die Regierungserklärung. Nach § 83 a Abs. 3 unserer Geschäftsordnung erteile ich das Wort Herrn Abg. Kretschmann.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident, Sie haben Ihre Verwaltungsreform unter ein Motto gestellt – ich zitiere –: „Der Staat muss vom Bürger her gedacht und vom Bürger her gemacht werden.“ Solch einem guten und klaren Motto kann man nur zustimmen. Wie aber soll das gelingen, wenn schon die Art und Weise, wie Sie Ihre Verwaltungsreform eingebracht und durchgezogen haben, diesem Prinzip diametral widerspricht?
Im Verfahren, das Sie gewählt haben, spiegelt sich wie in einem Fokus die ganze falsche Anlage Ihrer Reform wider. Deswegen möchte ich ein sehr altes Zitat – es ist über 2 500 Jahre alt – aus der berühmten Totenrede des Perikles bringen. Denn, Herr Ministerpräsident, wirklich fortschrittlich kann man nur sein, wenn man auch konservativ ist und Werte, die seit langem bestehen, achtet; sonst ist man kein wirklich fortschrittlicher Mensch. Darum jetzt dieses konservative Zitat.
Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet. Denn auch darin sind wir wohl besonders, dass wir am meisten wagen und doch auch, was wir anpacken wollen, erwägen, indes die anderen Unverstand verwegen und Vernunft bedenklich macht.
Also, Herr Ministerpräsident: Für diese Beratung ist das vom Volk gewählte Parlament eine Institution. Dieses Parlament ist dafür zuständig, wie das Land regiert wird, und in diesem Parlament müssen die Grundlinien beraten und entschieden werden.
Sie haben in Ihrer Rede vier große Zusammenhänge mit Ihrer Verwaltungsreform festgestellt: erstens Subsidiarität, Selbstverwaltung und Föderalismus, zweitens Modernisierung, drittens finanzielle Konsolidierung, viertens geschichtliche Kontinuität.
Das mit der geschichtlichen Kontinuität ist allerdings an dieser Stelle nur eine Selbststilisierung. In Wirklichkeit verlassen Sie sie. Die erste große Reform, nämlich das Entstehen des Südweststaats, ist durch eine Volksabstimmung erfolgt, durch direkte Demokratie. Die zweite große Reform, die Kreis- und Gemeindeverwaltungsreform, ist hier im Landtag leidenschaftlich debattiert worden. Was Sie jetzt gemacht haben, das steht nicht in dieser Kontinuität.
Sie ziehen diese Reform in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in eineinhalb Tagen in den Regierungsfraktionen durch, und die lassen sich das auch noch gefallen.
Ich möchte... Sie als Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg... bitten, die Landesregierung in diesem Prozess des Umsetzens kritisch zu begleiten und zu unterstützen. Jede einzelne wichtige Entscheidung wird schlussendlich in diesem Parlament fallen.