Protokoll der Sitzung vom 26.11.2003

Aber, Herr Kretschmann, im Ernst: Damit wollte ich Folgendes zum Ausdruck bringen: Wir dürfen nicht immer nur eine Debatte über die Kosten Europas führen, sondern wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern auch einmal in Euro und Cent beziffern, wie viel wir aus Brüssel zurückho

(Minister Dr. Christoph Palmer)

len. Deshalb habe ich die feste Absicht, da überhaupt nicht nachzulassen, sondern in jedem Europabericht – und sogar besser als in diesem Bericht, bei dem das noch nicht so ganz vergleichbar zusammengestellt ist – auf Euro und Cent zu beziffern, welche Rückflüsse von Europa nach Deutschland und nach Baden-Württemberg da sind.

Denn wir sollten uns doch nichts vormachen: Die Menschen sind nicht so euphorisch und nicht so positiv eingestellt, wie die politische Elite, die politische Klasse in diesem Land gottlob im Konsens europapolitisch noch eingestellt ist.

Die Bundesrepublik Deutschland verliert innerhalb Europas jedes Jahr einen Platz in der Nettozahlerposition. Das ist ein Ausfluss unserer schlechten volkswirtschaftlichen Daten. Jedes Jahr gehen wir bei der Nettozahlung pro Kopf der Bevölkerung um einen Platz zurück. Durch die Nennung von Zahlen will ich einfach einmal aufzeigen, wie viel Transfer in das Land zurück stattfindet. Ich glaube, das ist ganz wichtig, um Überzeugungsarbeit auch hinsichtlich der Vorteile, die dieses Land durch die Europäische Union hat, zu leisten.

Wir müssen die Landesvertretung als Präsentationsort, als Drehscheibe, als Frühwarnsystem, als Kommunikationsplattform, als einen Transmissionsriemen, also in allen Funktionen stärken. Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, dass man eine solche Institution braucht. Ab 5. Februar 2004 wird unsere Vertretung eine ganz neue Qualität erhalten. Darüber sind wir froh. Wir müssen diese Möglichkeiten auch nutzen,

(Beifall der Abg. Dr. Inge Gräßle CDU)

meine sehr verehrten Damen und Herren, damit wir einen europapolitischen Mehrwert davon haben.

Dieses Land hat sich in den vergangenen Jahren eindeutig an die Spitze der europapolitisch prägenden Länder der Bundesrepublik gearbeitet. Das ist in der Debatte von allen gesagt worden. Dies erfolgte vor allem durch die Mitwirkung von Ministerpräsident Teufel im Konvent. Jetzt vertreten wir in der Regierungskonferenz zusammen mit Nordrhein-Westfalen die deutschen Länder. Baden-Württemberger leiten die zuständigen Ausschüsse in Berlin, im Bundestag und im Bundesrat. Peter Straub – auch das ist zu Recht gesagt worden – ist Vizepräsident und ab Frühjahr dann Präsident des immer wichtiger werdenden Ausschusses der Regionen.

In unserem Land hat man die Möglichkeiten und den Stellenwert von Europa erkannt. Darüber bin ich froh. Warum? Weil dieses Land wie kein zweites in Deutschland vom Export und von Hochtechnologiearbeitsplätzen geprägt ist und deshalb auch wie kein anderes Land von dem einheitlichen Wirtschaftsraum Europa profitiert. Unsere auslandsorientierte, unsere europaorientierte Wirtschaft ist ganz elementar davon abhängig, dass auch die Politik ihre Rolle als Interessenvertretung berechtigter Anliegen der Regional- und Landespolitik wahrnimmt. Das tun wir, damit unser Land wirtschaftlich eine gute Zukunft nimmt.

Was ist im Konvent erreicht worden? Wir führen heute zu Recht auch eine bilanzierende Aussprache über die Konventsergebnisse. Alle Kollegen haben die gute Arbeit dieses

Konvents gelobt. Auch ich bin der Überzeugung, dass man das Paket weder aufbinden noch das Gesamtergebnis scheitern lassen darf. In der Regierungskonferenz liegen 1 000 Einzelvorschläge für Veränderungen vor. Das zeigt schon, dass man einen besseren Entwurf als den vorliegenden Konventsentwurf nicht erreichen wird. Das schließt freilich nicht aus, dass es an ein paar entscheidenden Stellen trotzdem noch zu unverzichtbaren Verbesserungen kommt.

Die Regierungskonferenz hat ja im Übrigen schon einzelne Veränderungen vorgenommen, indem zum Beispiel – was ich für falsch halte; aber das ist Beschlusslage – der eigenständige Legislativrat, der in Ergänzung zu den Fachministerräten getreten wäre, nicht eingerichtet wird. Da hat man sich vom Konventsergebnis verabschiedet. Auch bei der Präzisierung der Rolle des Außenministers und der Präzisierung der Rolle des Präsidenten des Europäischen Rates zeichnen sich Veränderungen ab.

Ich glaube, man muss jetzt in der verbleibenden Zeit – am Freitag und Samstag tagen wir wieder und dann wieder am 12. und 13. Dezember – mit Selbstbewusstsein noch einmal auf zwei oder drei zentrale Themen hinweisen. Das wichtigste Thema in diesem Zusammenhang ist für mich, dass es unverständlich ist und unverständlich bleiben wird, dass sich die Europäer nicht zu einer Invocatio Dei, zu einem Gottesbezug in der europäischen Verfassung, haben durchringen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Kleinmann FDP/DVP – Abg. Kleinmann FDP/ DVP: Das ist leider sehr schade!)

Das halte ich für problematisch. Da ruft der vorliegende Entwurf nach einer Veränderung.

Ich will hier auch einmal aus der Konferenz berichten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass noch eine Veränderung kommt. Die Franzosen halten sich in der Debatte – ganz im Gegensatz zum Konvent – völlig zurück. Das einzige Land, das offensiv gegen die Aufnahme des Gottesbezugs in die Präambel der europäischen Verfassung bzw. auch gegen die Betonung der christlichen Grundlagen Europas als historisches Erbe eintritt, ist Belgien. Die weit überwiegende Anzahl der Europäer, egal, ob West- oder Osteuropäer, haben mit großer Entschlossenheit hier Veränderungsbedarf angemeldet, sodass ich persönlich, ohne abschließend sagen zu können, ob es so weit kommt, noch zuversichtlich bin, dass es hier eine Veränderung geben wird.

Der zweite Punkt, bei dem es aus deutscher Sicht eine echte Verbesserung geben muss und geben kann, ist das Thema der Daseinsvorsorge. Wir haben eine zumindest missverständliche Formulierung auf französisches Betreiben auf den Schlussmetern im Konventsergebnis erhalten. Frankreich wollte damit die Rolle der Daseinsvorsorge des Staates schützen. Wir verstehen die Formulierung eher als Einfallspforte dafür, dass man doch den Kernbestand der kommunalen Selbstverwaltung, des nationalen Identitätsbestands, die Daseinsvorsorge, durch Richtlinien, durch Verordnungen der Europäischen Union tangieren kann. Wir hoffen sehr, dass es zu einer Präzisierung, wenigstens zu einem ausführenden Protokoll zur Daseinsvorsorge kommt. Auch darüber wird wieder zu berichten sein, wenn wir bei

(Minister Dr. Christoph Palmer)

der nächsten Runde der Regierungskonferenz diese Frage erörtert haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zwei Dinge ansprechen, die wir jetzt rasch innerstaatlich angehen müssen, wenn wir dem Konventsergebnis gerecht werden wollen. Das eine ist die Umsetzung der Subsidiarität, die gottlob jetzt in der Verfassung steht. Das andere ist die Umsetzung des Klagerechts, das im Zusammenhang mit der Subsidiarität steht.

Das Subsidiaritätsprotokoll sieht sechs Wochen als Frist vor. In diesem Zeitraum müssen die nationalen Parlamente Einspruch gegen eine europäische Verordnungsgebung, gegen eine europäische Rechtsetzung einlegen. Wir müssen in den Ausschüssen von Bundestag und Bundesrat in Berlin in die Lage kommen, qualifiziert binnen sechs Wochen eine Stellungnahme abgeben zu können.

Mit Verlaub und ohne mich in die Debatte um die Schaffung eines eigenständigen Europaausschusses des Landtags von Baden-Württemberg einzumischen – dass steht der Regierung auch gar nicht zu –, muss ich sagen: Diese Frist ist für eine vertiefte Erörterung so knapp, dass wir schon alle Hände voll zu tun haben, qualifiziert einen Beratungsgang in der einen Länderkammer der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen. Es muss übersetzt werden, es muss von den Fachressorts bewertet werden, und es muss dann qualifiziert unter Beteiligung von anderen Ausschüssen Stellung genommen werden.

Wenn man dafür eintritt, dass auch die Parlamentsgremien der 16 Bundesländer in dieses Prozedere eingreifen sollten, würden wir uns heillos im Dickicht, im Dschungel verheddern. Wir müssen versuchen, das über Berlin zu bewerkstelligen, was nicht heißt, dass wir die europapolitische Behandlung und Befassung in den Ausschüssen auch in der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament nicht noch verbessern könnten.

Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist das Klagerecht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerstaatlich muss dieses Klagerecht, das nach dem Konventsergebnis nur der Bundesrat als Verfassungsorgan hat, jetzt so umgesetzt werden, wie wenn es jedes Land einzeln wahrnehmen würde. Das heißt, wir brauchen eine innerstaatliche Verständigung mit der Bundesregierung darüber, dass die Klage eines Landes vom Bundesrat durchgereicht wird, als Stellvertretungsklage akzeptiert wird, und die Bundesregierung, die nach europäischem Verfassungsrecht allein antragsberechtigt ist, müsste auch bereit sein, diese Klage weiterzureichen. Es zeichnet sich eine entsprechende Lösung ab, aber wir müssen sie in der Bundesrepublik im nächsten Durchgang absichern.

Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze zum Thema Osterweiterung etwas sagen, dem anderen großen Thema neben dem Konvent und seinen Ergebnissen. Der letzte Fortschrittsbericht der Kommission zeigt erhebliche Fortschritte auf, aber doch auch deutliche Mängel, die es abzuarbeiten gilt.

Machen wir uns bitte nichts vor: Es wird eine ambivalente Entwicklung einsetzen. Für unsere exportorientierte Wirt

schaft wird die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa ganz erhebliche Vorteile mit sich bringen. Alle Studien – egal, welche man zugrunde legt – sind sich darüber einig, dass wir erhebliche Wachstumszahlen haben werden. Das ZEW in Mannheim, die IHK Region Stuttgart, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sagen Steigerungen von 8 bis 11 % im Handel in den kommenden Jahren voraus. Das wird mit Sicherheit eintreten, einfach deshalb, weil unsere Exportstrukturen in der Verfahrenstechnik, im Maschinenbau, im Automobilbau, in der chemischen Industrie, bei den Hightechprodukten vorzüglich zu den Nachfragestrukturen Osteuropas passen. Das ist der eine Teil der Wahrheit.

Wir sollten aber auch eine offene Debatte darüber beginnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir auch im Bereich der weniger qualifizierten Arbeit – ich sage nicht: der nicht qualifizierten Arbeit – Verlagerungseffekte bekommen werden. Wer in den vergangenen Tagen und Wochen aufmerksam die Wirtschaftsteile der Zeitungen verfolgt hat, hat festgestellt, dass etwa im Bereich der IT-Wirtschaft das so genannte Offshore-Outsourcing betrieben wird. Programmierung läuft nicht mehr nur an baden-württembergischen Standorten. Die Firma SAP hat angekündigt, dass sie den größten Produktionsstandort mit 1 500 Arbeitsplätzen zwar nicht in Osteuropa, aber in Indien schaffen wird. Das heißt: Wir werden mittlerweile auch in den technologisierten Märkten durch die Erweiterung zunehmend unter Druck geraten. Darüber muss man offen kommunizieren und die Vorteile und auch die Nachteile in ein angemessenes Verhältnis bringen und darf nicht nur die Vorteile der Erweiterung benennen, weil die Leute, glaube ich, eher bereit sind, eine solche ehrliche Kommunikation über Chancen und Risiken mitzugehen.

Gleichwohl sind sich alle Gruppen dieses Hauses darüber einig, dass es keine Alternative zur Osterweiterung gibt. Wir wollen sie zu einem gemeinsamen Erfolg werden lassen.

(Beifall der Abg. Hauk und Dr. Inge Gräßle CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang in aller Kürze einige Ausführungen zur Türkei – ich habe das schon in zwei anderen Debatten gesagt –: Niemand will das Thema instrumentalisieren, Herr Kretschmann.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Der Bundestagsabge- ordnete Bosbach hat es nun mal getan!)

Wir werden mit diesem Thema verantwortungsbewusst umgehen.

Gleichwohl wird man sich ja schon noch die Frage erlauben dürfen, wo die Grenzen Europas sind. Ich führe nie eine isolierte Türkei-Debatte. Ich finde eine solche Debatte geographisch falsch, historisch falsch und politisch falsch. Aber Europa muss die Grenzen der Erweiterung und die Grenzen seiner Integrationsfähigkeit diskutieren und dann auch benennen. In diesem Zusammenhang muss man den Kaukasus, Weißrussland, die Ukraine, den Balkan, den Maghreb sehen. Überall klopfen die Anrainerstaaten an. Der marokkanische König demokratisiert im Augenblick sein

(Minister Dr. Christoph Palmer)

Land – hoffentlich hat er Erfolg – mit der klaren Zielsetzung, Marokko in die Europäische Union zu führen. Der israelische Außenminister – viele von Ihnen wissen, wie sehr ich dem Land verbunden bin – sagt, Israel solle in die Europäische Union. Wir werden uns doch heillos überfordern, wenn Europa nicht auch die Kraft hat – gedanklich und dann politisch –, die Grenzen Europas zu definieren. Die Grenzen Europas bestehen eben in geographischer, politischer und historischer Hinsicht. Ich finde, es ist ehrlicher, zu sagen, die Türkei wird auf eine überschaubare Anzahl von Jahren keine Perspektive zum Beitritt haben, als ihr dauernd den Wurstkorb höher zu hängen. Wenn Sie die Ausführungen von Herrn Verheugen richtig und differenziert lesen, werden Sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass auch er als Erweiterungskommissar auf ziemlich viele Jahre überhaupt keine Beitrittsperspektive für die Türkei sieht.

Ich plädiere in der Diskussion für Ehrlichkeit

(Zuruf des Abg. Kretschmann GRÜNE)

und für ein Verhältnis zur Türkei, das so eng wie möglich ist – unterhalb der Schwelle einer Vollmitgliedschaft, aber mehr als ein assoziierter Status –, weil die Türkei ein Brückenland, ein Übergangsland ist, das deshalb auch einen besonderen Status in seinem Verhältnis zu Europa verdient. Das ist unsere Position in diesem Zusammenhang.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, lassen Sie mich mit einer letzten Bemerkung abschließen, die besonders aktuell ist und bisher in der Debatte noch keine Rolle gespielt hat. Der Rat Wettbewerbsfähigkeit – ich halte es allein schon für schwierig, dass es der Rat Wettbewerbsfähigkeit macht, weil das da überhaupt nicht hingehört – wird sich am heutigen 26. November 2003 mit der Frage befassen, ob die verbrauchende Embryonenforschung EUweit gefördert wird. Die EU-Kommission will dies zulassen. Das Europäische Parlament hat sich leider ebenfalls mit Mehrheit dafür ausgesprochen. Nach unserem innerstaatlichen Recht, nach unserem Embryonenschutzgesetz ist die verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland aus guten ethischen Gründen und Erwägungen untersagt. Ich hoffe, dass Deutschland, Österreich, Portugal, Italien, Luxemburg und Spanien, die erhebliche Bedenken angemeldet haben, mit ihrer Sperrminorität eine Beschlussfassung verhindern können. Denn Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa muss sich auch darauf besinnen, eine Wertegemeinschaft zu sein. Man kann nicht an einem Tag einen Grundrechtekatalog in die europäische Verfassung aufnehmen und sich dafür auf die Schulter klopfen und am anderen Tag verbrauchende Embryonenforschung in Europa zulassen. Das halte ich für ein ganz falsches Signal, das heute von dem Rat Wettbewerbsfähigkeit ausgeht.

(Beifall bei der CDU, der FDP/DVP und den Grü- nen)

Wir sollten dagegen Stellung beziehen.

Abschließend bedanke ich mich herzlich für die fachlich gute und intensive, kollegiale Befassung mit diesem Europabericht in den Ausschüssen, auch im Ständigen Aus

schuss. Das wollen wir gerne im kommenden Jahr so fortsetzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Birzele.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Palmer, Sie haben eben leider bei Ihrer Klage über die Aufweichung des Stabilitätspakts ebenfalls die Frage nicht beantwortet, ob Sie in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation befürworten, dass in dem von der EU vorgeschlagenen Umfang weitere Ausgaben der öffentlichen Hand eingespart werden sollen.

Zweite Bemerkung dazu: Wenn Sie den Kurs des Euro ansprechen, dann wecken Sie falsche Ängste. Das ist unverantwortlich. Sie wissen, dass wir gegenwärtig einen eher zu hoch bewerteten Euro haben.