Protokoll der Sitzung vom 04.02.2004

Zugleich sind wir davon überzeugt, dass damit die Rolle des Kopftuchs im Islam nicht schon differenziert genug gewürdigt ist. Wäre das Kopftuch ein ausschließlich religiöses Symbol, dann gäbe es weder in Deutschland noch in anderen europäischen Ländern über die Frage, ob eine Lehrerin in der Schule ein Kopftuch tragen darf, eine so heftige Debatte. Das ist keine baden-württembergische Debatte; es ist auch keine Debatte in Deutschland. In Wirklichkeit ist es eine europäische Debatte. Es sind unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns darauf hinweisen, dass das Kopftuch auch für eine bestimmte Auslegung des Islam im Sinne des politischen Islamismus steht – also auch mit einer politischen Botschaft verbunden sein kann – und im Islam zunehmend als ein Zeichen der kulturellen Abgrenzung gewertet wird.

Der Streit verläuft also nicht primär zwischen Moslems und Nicht-Moslems. Ulrich Maurer hat in der Plenardebatte vom 20. März 1997 gesagt – ich zitiere –:

Wir befinden uns in der islamischen Welt mitten in einer ganz tief gehenden Auseinandersetzung zwischen dem Teil der islamischen Welt und dem Teil des Verständnisses von Koran und Islam, der vereinbar ist mit den Wertorientierungen – vor allem mit denen in unserer Verfassung –, die wir in unserer westlichen Welt haben, und dem Teil, der damit nicht vereinbar ist. Das sind sehr tief gehende und sehr militante Auseinandersetzungen, bei denen leider auch viel Blut fließt.

Wir dürfen in eine solche Situation der Auseinandersetzung hinein keine falschen Zeichen setzen.

Diese Position wurde vor wenigen Monaten bei einer Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags zum Thema „Islamisches Recht und Menschenrechte“ bestätigt. Bei dieser Gelegenheit haben Experten erklärt: Was in Deutschland derzeit bei der Debatte um das Kopftuch deutlich werde, entspreche dem weltweiten Kampf um die Auslegung des Islam. Die Kluft werde in Zukunft nicht mehr zwischen dem Westen und der islamischen Welt, sondern innerhalb des Islam verlaufen – so weit klaffe die Auslegung des gemeinsamen Glaubens auseinander.

Der Bundespräsident hat in seiner eben bereits zitierten Rede erklärt – Zitat –:

Die Debatte über das Kopftuch wäre also viel einfacher, wenn es ein eindeutiges Symbol wäre. Das ist es aber nicht.

Die Mehrdeutigkeit der Botschaften, die mit dem Kopftuch verbunden sein können, wird schließlich auch vom Bundesverfassungsgericht eingeräumt. Ich bin davon überzeugt, dass wir dem Islam nicht Unrecht tun, wenn wir sagen, dass das Kopftuch ein auch politisches Symbol ist. Das deuten nicht wir in das Kopftuch hinein, sondern das wird uns von muslimischen Experten gesagt, die darüber hinaus darauf hinweisen, dass wir mit Blick auf die Mehrdeutigkeit der Botschaften, die mit dem Kopftuch verbunden sein können, nicht Toleranz mit Ignoranz verwechseln dürfen.

Hier setzt nun der entscheidende Punkt an: Das Kopftuch als ein auch politisches Symbol ist Teil einer Unterdrückungsgeschichte der Frau. Es kann für eine Auslegung des Islam im Sinne des politischen Islamismus stehen, die mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht vereinbar ist. Damit ist es auch nicht vereinbar mit einem Verfassungswert, der in unserem Grundgesetz verankert ist.

Nun ist unbestritten, dass es für muslimische Frauen unterschiedliche Gründe dafür geben kann, ein Kopftuch zu tragen. Es kann Ausdruck von Selbstbewusstsein sein; es kann modisches Accessoire oder Ausdruck einer persönlichen und religiösen Grundhaltung sein. Es kann aber eben auch Ausdruck des politischen Islamismus sein. Genau an dieser Stelle ziehen wir aus den Informationen, die wir aus der innerislamischen Debatte über das Kopftuch haben, eine andere Konsequenz als der Bundespräsident. Er erklärt – ich zitiere –:

Der mögliche Missbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern.

Wir sagen: Zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates gehört, dass Bekundungen und Darstellungen in der Schule nicht zugelassen werden dürfen, die mit einer Botschaft verbunden sein können, die unseren Verfassungswerten widerspricht. Kürzer gesagt: Schülerinnen und Schüler an öffentlichen Schulen müssen vor dem möglichen Missbrauch einer Sache geschützt werden.

Der zentrale Inhalt unseres Gesetzes besagt, dass die Neutralitätspflicht von Lehrkräften im Sinne des Mäßigungsgebots verlangt, alles zu vermeiden, was den Eindruck erweckt, dass sie gegen Menschenrechte, gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau nach Artikel 3 des Grundgesetzes, gegen Freiheitsrechte oder gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftreten. Wer durch politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußere Bekundungen daran Zweifel aufkommen lässt, ist nicht geeignet für den Schuldienst. Aufgrund seiner ambivalenten Rolle als auch politisches Zeichen hat das Kopftuch einer Lehrerin in der Schule deshalb keinen Platz.

Unser Gesetz ist nach unserer festen Überzeugung kein Schritt in die Laizität.

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Wir greifen niemanden wegen seiner Religion an. Wir wollen weder die religionsfreie Existenz noch die religionslose Schule. Wir verlangen aber Mäßigung im Blick auf eine damit nicht auszuschließende politische Botschaft, die mit den Grundüberzeugungen unserer Verfassung nicht vereinbar ist.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP sowie des Abg. Birzele SPD)

Gerade in einer religiös pluraler werdenden Gesellschaft ist die eindeutige Unterscheidung von Politik und Religion bedeutsam, ja zwingend.

Aus alledem ergibt sich auch, dass die bloße Gleichsetzung des Kopftuchs mit anderen religiösen Symbolen der Mehrdeutigkeit damit verbundener möglicher Botschaften nicht gerecht wird.

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Unser Gesetz schützt zugleich die in der Landesverfassung verankerten christlichen und abendländischen Bildungsund Kulturwerte oder Traditionen. Sie entsprechen dem Erziehungsauftrag nach Artikel 12 Abs. 1, Artikel 15 Abs. 1 und Artikel 16 Abs. 1 der Landesverfassung von BadenWürttemberg. Damit beziehen wir uns auf das, was das Bundesverfassungsgericht 1995 festgestellt hat, wonach auch ein Staat, der sich selbst zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen kann, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch – so das Gericht – die Erfüllung der eigenen Aufgaben abhängt. Das Gericht stellte damals fest, dass der christliche Glaube und die christlichen Kirchen dabei von überragender Prägekraft gewesen sind und dass die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster dem Staat nicht gleichgültig sein können. Das gilt auch für das öffentliche Schulwesen.

Meine Damen und Herren, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 hat eine heftige Debatte unter Verfassungsrechtlern ausgelöst. Das Spektrum der damit verbundenen Positionen ist breit und deutet darauf hin, dass wir alle Neuland betreten. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, Bertrams, hat bereits im vergangenen Jahr in einem Beitrag in der Zeitschrift „Deutsches Verwaltungsblatt“ darauf hingewiesen, dass – ich zitiere –

sich die bislang mit der Problematik befassten Gerichte nicht um eine Klärung der offenbar provozierenden Bedeutung des Kopftuches bemüht haben.

Dies sei umso problematischer, als die beamtenrechtliche Eignung einer Bewerberin für den Schuldienst voraussetze, dass sie die grundgesetzliche Ordnung anerkennt und für diese eintritt. Zitat:

Der Staat darf sich daher nicht darauf zurückziehen, dass er aus Gründen der Neutralität einen zum Ausdruck gebrachten Glauben nicht bewerten darf.

Er erklärt weiter:

Der Ausschluss einer islamistischen Lehrerin, die sich nicht ohne Vorbehalt und widerspruchsfrei zu unserer Verfassung und ihren Werten bekennt, ist unverzichtbarer Teil einer wehrhaften Verfassung.

Der Mainzer Verfassungsrechtler Professor Friedhelm Hufen hat erklärt, dass beträchtliche Zweifel daran erlaubt seien, dass das Kopftuch als Symbol den verfassungsrechtlichen Anforderungen unseres Grundgesetzes entspreche. Zitat:

Wenn man hört, dass Frauen ohne Kopftuch auf Berliner Straßen als unrein beschimpft werden, wenn sich muslimische Mädchen in Elternhaus und Umgebung einem erheblichen Druck zum Kopftuch ausgesetzt sehen, dann wird das Kopftuch zum Hindernis der Gleichberechtigung schlechthin.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP/DVP sowie Abgeordneten der Grünen)

Dann haben muslimische Mädchen wenigstens in der Schule einen Anspruch auf Freiheit von einem solchen Symbol, zumal bei einer mit staatlicher Vollmacht ausgestatteten Respektsperson.

Professor Hufen weiter:

Deshalb hat das Kopftuch einer Lehrerin im Unterricht an einer staatlichen Schule nichts zu suchen.

Andere Verfassungsrechtler wie zum Beispiel Professor Ernst-Wolfgang Böckenförde warnen davor, das Kopftuch auf ein rein politisches Symbol zu reduzieren. Das gehe an der Realität vorbei und sei unzulässig. Er spricht sich deshalb gegen ein Kopftuchverbot aus. Das haben wir auch bei einer gemeinsamen Veranstaltung hier im Foyer des Landtags so von ihm gehört. Da hat er es auch begründet.

Ich sage: Wir reduzieren das Kopftuch nicht auf seine politische Bedeutung. Wir glauben aber, dass es auch nicht auf ein religiöses Symbol reduziert werden kann. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass unserem Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen in der Schule ein hoch komplizierter Abwägungsprozess zugrunde liegt. Der Landesgesetzgeber muss in seiner Verantwortung für die öffentliche Schule eine gewissenhafte Abwägung unterschiedlicher Rechte und Pflichten der Lehrkräfte, der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern vornehmen.

Derjenige, der von der auch politischen Bedeutung des Kopftuchs im Islam spricht, leugnet nicht eine andere mögliche subjektive Haltung einer muslimischen Lehrerin, die sich auf ihre religiöse Grundhaltung bezieht. Deshalb sind wir uns auch bewusst, dass dies subjektiv als ein Eingriff in die Glaubensfreiheit gewertet werden kann. Wir befinden uns auf einem schmalen Grat, der nicht alle Spannungen auflöst und angreifbar ist. Angreifbar sind wir aber ebenso, wenn wir zulassen, dass mögliche politische Botschaften in unsere Schulen getragen werden, die weder mit dem Grundgesetz noch mit der Landesverfassung vereinbar sind. Damit würden wir eindeutig gegen unsere Pflichten verstoßen.

Der bessere Weg – meine Damen und Herren, davon bin ich zutiefst überzeugt – gegenüber der Laizität ist das sehr freiheitliche Modell im Verhältnis von Religion und Staat, das zur Tradition in Deutschland gehört. Dafür gibt es viele gute Gründe.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Wer in einer religiös pluraler werdenden Gesellschaft diese Tradition wahren will, muss, wenn der Eindruck zweideutiger Botschaften nicht auszuschließen ist, von Lehrkräften an einer öffentlichen Schule Diskretion und die Vermeidung von Provokation erwarten. Das ist auch ein Beitrag zur Integration und zur Toleranz.

Die Mitglieder der Landesregierung und die Fraktionen des Landtags von Baden-Württemberg haben sich der äußerst schwierigen Debatte in den letzten Jahren und bei der Vorbereitung dieses Gesetzes mit großer Gewissenhaftigkeit und Sensibilität gestellt. Das sage ich ausdrücklich für alle Fraktionen im Blick auf unsere Überlegungen in den vergangenen Wochen zur Schaffung einer geeigneten gesetzlichen Grundlage.

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Im Hinblick auf den Gesetzentwurf der Fraktion GRÜNE sage ich allerdings auch, dass ich es nicht für richtig halte, die Lösung eines Konflikts, die uns schwer fällt und kompliziert vorkommt, an die Schule zu delegieren.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Das ist in meinen Augen eine Überforderung der Schule. Deshalb bitte ich den Landtag, dem Gesetzentwurf der Landesregierung zuzustimmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Fleischer CDU: Sehr gut! Hervorragende Rede!)

Das Wort zur Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktion GRÜNE, Drucksache 13/2837, erteile ich Herrn Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der jüngst verstorbene Rechtsphilosoph John Rawls hat in seiner epochalen „Theorie der Gerechtigkeit“, in der er die Tradition des Gesellschaftsvertrags wieder aufnimmt, zwei Fundamentalsätze für eine gerechte politische Ordnung aufgestellt:

Erstens: Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.

Zweitens: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.

Der gleiche diskriminierungsfreie Zugang zu öffentlichen Ämtern ist in liberalen, pluralistischen Gesellschaften mit ihren vielerlei Ungleichheiten und Unterschieden geradezu ein Lackmustest auf Chancengleichheit und Fairness.