Protokoll der Sitzung vom 11.03.2004

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

lese, dass ein Herr Dr. Tibor Müller vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag in Brüssel einen Vortrag unter der Überschrift „EU-Chemikalienverordnung: Damoklesschwert für die europäische Wirtschaft“ hält, wenn der Verband der Chemischen Industrie noch immer mit Horrorzahlen durch die Lande zieht, nach denen diese Verordnung 2,3 Millionen Arbeitslose in Deutschland produzieren werde, wenn ich sehe, dass die Großindustrie allein ihre Interessen in Brüssel vertritt und diese Verordnung so weitreichend torpediert, dass eine Verabschiedung in dieser Legislaturperiode nicht mehr gelingen wird, wenn ich sehe, dass die Großindustrie kalkuliert, dass ein neu zusammengesetztes EU-Parlament aufgrund der politischen Verhältnisse in den Beitrittsstaaten diese Verordnung womöglich gar nicht mehr passieren lassen wird, dann ist diese Einigkeit hier im Landtag von großer Bedeutung, erstens damit den Schwarzmalern, die die Risiken weiterhin bei der Gesellschaft abladen möchten, die rote Karte gezeigt wird –

(Beifall bei den Grünen)

diese Art von Propaganda ist nicht zu akzeptieren – und zweitens damit Sie von den beiden Regierungsfraktionen hier im Land darauf hinwirken, dass Ihre Parlamentarier – Frau Gräßle sitzt hier – im nächsten EU-Parlament dafür sorgen, dass Deutschland geschlossen für diese Verordnung stimmt und nicht den Interessen der Großindustrie nachgibt.

(Beifall des Abg. Dr. Witzel GRÜNE)

Guter Punkt für einen Beifall.

(Beifall des Abg. Dr. Witzel GRÜNE – Abg. Döp- per CDU: Ganze Massen! – Abg. Heiderose Ber- roth FDP/DVP: Das ist heute bei den Grünen nicht richtig organisiert!)

Das Nachgeben gegenüber der Großindustrie führt im Übrigen dazu, dass die Interessen der kleinen und mittelständischen Unternehmen bisher unzureichend artikuliert werden konnten.

(Beifall des Abg. Dr. Witzel GRÜNE – Abg. Dr. Caroli SPD: Witzel als Claqueur!)

Ich glaube, dass wir trotz dieser generellen Vorbemerkung drei berechtigte kritische Fragen zur Verordnung stellen müssen. Die erste berechtigte kritische Frage bezieht sich auf den bürokratischen Aufwand. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sich die FDP/DVP hier deutlicher positioniert.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Mehr als sa- gen kann man es ja nicht!)

Meiner Ansicht nach müsste sich die FDP/DVP schon überlegen, ob sie diese Verordnung grundsätzlich unterstützt. Dann führt leider nicht viel an der Bürokratie vorbei. Denn wenn Sie in den Anforderungen noch weiter zurückgehen, als dies jetzt in der Kompromissvorlage der EU-Kommission getan wurde, dann können Sie es ebenso gut bleiben lassen. Sie müssen schon eine Mindestanforderung an die Registrierung stellen.

Wenn Sie aber sagen, dieser bürokratische Weg sei Ihnen zu aufwendig – unzweifelhaft werden da Kosten von mehreren Milliarden Euro über zehn Jahre hinweg für die Unternehmen entstehen; das wird nicht bestritten –, dann bleibt Ihnen als Alternative eigentlich nur der amerikanische Weg. Dazu erwarte ich eine Antwort von Ihnen.

Ich sage Ihnen: Wenn die Industrie das will, kann man mit uns darüber diskutieren. Die Alternative zu diesem Registrierungs-, Evaluierungs- und Zulassungsverfahren ist die US-amerikanische Haftungsregelung.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Wenn etwas passiert, dann sind sie dran!)

Das heißt: Der Staat kümmert sich nicht um diese Probleme. Aber wenn ein Unternehmen Schäden an der Gesundheit zu verantworten hat, dann muss es dafür zahlen, und zwar ordentlich, wie wir am Fall Lipobay sehen. Das kann auch große Unternehmen wie Bayer ziemlich in die Krise führen und deren Aktienkurse nach unten drücken.

Wir sind der Auffassung, dass es im Interesse der Industrie ist, diesen bürokratischen Aufwand zu betreiben, um die Risiken zu erkennen, aber dafür die Industrie von den Haftungsrisiken zu befreien.

Der andere, unbürokratische Weg bedeutet dann, Verträge mit Versicherungen abzuschließen. Da sind die Verträge länger als jede Verordnung. Die Frage, die Sie in der FDP/ DVP zu entscheiden haben, müsste dann sein, ob Sie diesen Weg gehen wollen. Wir wären dafür offen, aber wir hören bisher nicht, dass die Industrie selbst Interesse an dieser scheinbar unbürokratischen Lösung hat.

Die zweite Frage, meine Damen und Herren: Bringt die Verordnung Mittelstandsfeindlichkeit oder Mittelstandsfreundlichkeit? Zunächst einmal muss man festhalten: Die Belege für eine Mittelstandsfeindlichkeit fehlen. Es werden zwar unklare, unpräzise, nebulöse Argumente für eine Mit

telstandsfeindlichkeit der Verordnung in den Raum gestellt, aber die Belege dafür fehlen. Die Kommission hat den Entwurf, auf den sich die Kritik bezogen hat, deutlich nachgebessert und die Anforderungen für die Bereiche zwischen 1 und 10 sowie zwischen 10 und 100 Jahrestonnen nach unten geschraubt. Ich denke, dass man die Anforderungen nicht mehr sinnvoll weiter senken kann, dass weitere Abstriche hier nicht mehr sinnvoll sind.

Ferner sind die Wettbewerbsbedingungen für alle gleich. Herr Kollege Scheuermann hat das korrekt ausgeführt. Es gibt keine Benachteiligung, keine Wettbewerbsverzerrungen. Übrigens werden 75 % der chemischen Produktion innerhalb Europas gehandelt und gehen nur 25 % über die europäischen Grenzen hinaus. Bei den kleinen und mittleren Unternehmen ist der zuletzt genannte Anteil im Allgemeinen noch etwas geringer als 25 %, wobei Ausnahmen, Herr Staatssekretär Mappus, natürlich die Regel bestätigen.

Aber Erfahrungen aus Brüssel – und unsere Fraktion hat dort vor drei Wochen intensive Gespräche geführt – zeigen: Seit diese Veränderungen vorgenommen wurden, sind eventuell noch vorhandene Kritikpunkte der kleinen und mittleren Unternehmen nicht mehr bei der Kommission angekommen. Ich darf Ihnen dazu eine E-Mail – das Zitieren von E-Mails ist hier ja seit gestern modern – aus der Europäischen Kommission zitieren. Darin heißt es:

Welche konkreten Beispiele haben kleine und mittlere Unternehmen bisher aufgeführt? Das einzige konkrete Beispiel, das mir bisher gezeigt wurde, wollte einen 25-Jahrestonnen-Stoff für 400 000 € testen. Bei den Anforderungen der damaligen Version von REACH, die anspruchsvoller war, wäre für diesen Stoff nur der Grunddatensatz erforderlich gewesen, der nach Kenntnis der Kommission etwa 85 000 € kostet. Die Schätzung der Industrie war somit etwa viermal so hoch, und anscheinend lagen überhaupt keine Informationen zu Toxizität und Ökotoxizität vor. Dies alles erscheint wenig plausibel.

Die E-Mail stammt vom 29. Februar. Das ist das, was von Ihrem Wirken in der Landesregierung bisher bei der Kommission ankommt. Da wir hier diese mittelständische Struktur haben, da es in Baden-Württemberg viel Chemieindustrie gibt, müssen Sie sich mehr anstrengen. Wenn es tatsächlich noch Probleme – und ich kann das nicht beurteilen –, konkrete, belegbare Probleme für kleine und mittlere Unternehmen gibt, dann müssen die benannt und nach Brüssel kommuniziert werden. Das ist die Aufgabe der Landesregierung, und ich finde es richtig, dass der gemeinsame Antrag aller Fraktionen hier einen Versuch unternimmt, mit diesem Testvorlauf, mit der Probephase neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das ist der Punkt, an dem wir in Baden-Württemberg besonders betroffen sind.

(Beifall bei den Grünen)

Die dritte Frage zu dieser Verordnung, meine Damen und Herren, ist bereits angesprochen worden. Sie bezieht sich auf das Thema Tierversuche. Herr Scheuermann, aus meiner Sicht verhält sich die Sache ein klein wenig anders. Es ist meiner Ansicht nach ziemlich offenkundig, dass ein so immens aufwendiges Testverfahren – 100 000 Stoffe, 3 bis

4 Milliarden € Kosten – zunächst einmal mehr und nicht weniger Tierversuche bedeuten wird. Dieser Antrag begehrt nur, das Mehr an Tierversuchen möglichst zu begrenzen, und zwar dadurch, dass man auf die Standards, die im deutschen Chemikalienrecht bereits heute verankert sind und die vom REACH-System nicht berücksichtigt werden, zurückgreift, insbesondere was das gemeinsame Verwenden von Daten angeht, um Mehrfachtestungen zu vermeiden. Das ist das Ziel unseres Antrags, und es freut mich sehr, dass Sie ihm zustimmen werden.

Ich füge auch hinzu, dass in unserer Fraktion, die Tierversuchen besonders kritisch gegenübersteht, an dieser Stelle die grundsätzliche Zustimmung zu Tierversuchen aus einer Überlegung resultiert, die ganz einfach zu formulieren ist: Hier geht es nicht um das Testen von Kosmetika, sondern hier geht es um das Testen von Stoffen, die Menschen töten können, ohne dass wir die Gefahr kennen, und in diesem Zusammenhang sind Tierversuche in möglichst geringer Anzahl ethisch zu vertreten.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Aus meiner Sicht ist entscheidend, dass wir erstens gemeinsam die Blockadehaltung der Industrie kritisieren und der Industrie gegenüber, wie es der heute vorliegende Antrag tut, offensiv die Vorzüge des REACH-Systems vertreten, dass wir zweitens in der deutschen Politik gemeinsam der Kommission den Rücken stärken, falls im neuen Europäischen Parlament nach der nächsten Europawahl die Mehrheitsverhältnisse kritisch sind, dass also die deutschen Parlamentarier ihre Zustimmung erteilen und an der Verbesserung des Entwurfs mitwirken, dass wir drittens – das ist unsere Aufgabe hier im Landtag – insbesondere daran erinnern, dass die kleinen und mittleren Unternehmen betroffen sind und für diese die besten Voraussetzungen geschaffen werden müssen, und dass wir viertens klar machen, dass Tierversuche nur in ganz minimaler Anzahl, soweit unbedingt nötig, stattfinden dürfen.

Das sind die vier wesentlichen Punkte, die im heute gemeinsam zu verabschiedenden Antrag, wenn unser Ergänzungsantrag Ihre Zustimmung findet, enthalten sein werden. Deswegen ist das eine gute Stunde für dieses Parlament.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erhält Frau Abg. Berroth.

Herr Kollege Palmer, Sie haben mich direkt angesprochen. Deswegen möchte ich auch gleich eine Antwort geben.

Erstens wollen Sie Schwarzmalern die rote Karte zeigen. Ich weiß nicht, ob Sie dazu fähig sind. Aber als Allererstes sollten Sie sich da an die eigene Nase greifen. Dieses Szenario, das Sie am Eingang Ihrer Rede gezeichnet haben, war ja wieder einmal eine übliche grüne Katastrophenrede.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Das ist ein Zitat der EU-Kommission! Das ist keine Schwarzmalerei!)

Passen Sie einmal auf! Wieso könnten denn dann über 40 Regelungen wegfallen, wenn da überhaupt nichts geregelt wäre, wie Sie das darstellen wollten? Was steht denn bisher darin? Haben Sie einmal genau geschaut, was bisher üblich ist, welcher Formularkram, welche Bürokratie notwendig ist, wenn man in einem Betrieb chemische Verfahren anwendet? Da sind diese ganzen Datenblätter, die zu Recht erforderlich sind. Deswegen muss man es ja vereinfachen. Und Sie sprechen von Blockadehaltung der Industrie.

(Glocke des Präsidenten)

Frau Abg. Berroth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Palmer?

Bitte sehr, wenn das der Klärung der Sachlage dient.

(Zuruf von der SPD: Immer! – Abg. Stickelberger SPD: Das hängt von Ihnen ab!)

Frau Kollegin Berroth, bestreiten Sie, dass die EU-Kommission selbst in der Begründung für das REACH-System darstellt, dass durch diese Verordnung jährlich 2 000 bis 4 000 Krebserkrankungen und Gesundheitskosten zwischen 30 und 50 Milliarden € vermieden werden können? Bestreiten Sie das, oder ist das grüne Schwarzmalerei?

Das kann ich nicht bestreiten, weil ich es nicht nachvollziehen kann. Aber Sie haben dargestellt – –

(Zuruf von der SPD: Dann sollten Sie lesen ler- nen!)

Entschuldigung, nicht alles, was ich lese, halte ich gleich für richtig. Ich weiß, dass in Unterlagen auch jede Menge Mist stehen kann, und stehe dem dann kritisch gegenüber. Ich will dazu schon ein bisschen mehr als eine einfache Behauptung wissen.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Die EU-Kommission ist ja nicht irgendjemand!)

Sie haben bei Ihrer Darstellung einfach gesagt, da sei überhaupt nichts geregelt. Das stimmt nicht. Das wollte ich nur festhalten.

Dann sprachen Sie von einer Blockadehaltung der Industrie. Das sehe ich überhaupt nicht so. Die chemische Industrie bringt völlig zu Recht ihre Einwände vor, welche Probleme sie sieht. Genau diese Einwände greift unser gemeinsamer Antrag auf. Deswegen kann man doch nicht sagen, die Industrie nehme eine Blockadehaltung ein.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Aber es ist ein gemeinsamer Antrag!)

Zum Schluss haben Sie wieder einmal im Sinne der FDP/ DVP mitgedacht. Es ehrt uns enorm, dass Sie sich auch noch für uns Gedanken machen; das war aber unnötig. Ich sehe das ganz klar: Mit dieser Vereinfachung entstehen eben nicht nur Kosten, sondern auch jede Menge Einsparungen, weil nicht jeder alle Tests wieder neu machen muss und nicht jeder getrennt anmelden muss. Wenn nur der Be