Die gemeinschaftliche Chemikalienpolitik muss gemäß EGVertrag sowohl für die gegenwärtige Generation als auch für die künftigen Generationen ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt gewährleisten. Gleichzeitig muss sie die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts sowie die Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie sichern. Das ist ein Spagat, der dort aufgestellt wird.
Grundlegende Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Ziele sind die Anwendung des Vorsorgeprinzips, die Produktverantwortung und die konsequente Orientierung am Leitbild der Nachhaltigkeit. Ökologische, ökonomische und soziale Ziele müssen auf eine integrierte und ausgewogene Weise berücksichtigt und zusammengeführt werden, um die Nachhaltigkeit im Sinne der Rio-Deklaration auch zu erreichen. Dieses Ziel wurde im Übrigen auch noch einmal durch den Weltgipfel in Johannesburg bestätigt, und es muss auch Ziel unserer internationalen Politik bleiben.
In Deutschland waren im Jahr 2002 rund 465 000 Menschen in Chemieunternehmen beschäftigt; der Jahresumsatz dieser Unternehmen betrug 134 Milliarden €. In BadenWürttemberg sind es fast 59 000 Beschäftigte, der Jahresumsatz liegt hier bei fast 15 Milliarden €, und das in überwiegend mittelständischen Unternehmen. Die deutsche Chemiebranche belegt einen Spitzenplatz, sie ist innerhalb der EU führend, und ihre wirtschaftliche und technologische Bedeutung für den Industriestandort Deutschland ist sehr hoch.
In Europa bildet die chemische Industrie den drittgrößten Industriezweig. Die Industrie und das Gewerbe haben in der Vergangenheit innovative Lösungen erarbeitet, um Ressourcen zu schonen, Abfälle zu vermeiden, Energie zu sparen und die Produkte sicherer und verbraucherfreundlicher zu machen. Sie sind also in vielen Bereichen auch ein Stück vorangekommen; das muss man hier ausdrücklich noch einmal anerkennen.
Die großen Potenziale der Industrie, technische Innovation zu leisten und sichere Chemikalien zu entwickeln und zu produzieren, müssen deshalb weiterhin gestärkt werden. Die Orientierung an der allgemeinen Sorgfaltspflicht sowie die Möglichkeiten, die die Anwendung des Substitutionsprinzips eröffnen, können hierbei einen wichtigen Beitrag leisten und Impulse geben.
Eine effiziente und umweltverträgliche Chemie zahlt sich für den Standort und für die Beschäftigung in doppelter Weise aus. Zudem ist sie auch ein wichtiger Beitrag zur Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Die chemische Industrie und das Gewerbe in ganz Europa sind nun aufgerufen, ihrer Verantwortung bei der Umsetzung des REACH-Systems gerecht zu werden und sich an der Gewinnung von Daten über neue und alte Stoffe kooperativ und konstruktiv zu beteiligen. Dazu gehört die wissenschaftlich fundierte, bedarfsgerechte und praktikable Risikobewertung ihrer Eigenschaften, deren Qualität europaweit anerkannt ist und die dem internationalen Standard entspricht.
Mit der freiwilligen Selbstverpflichtung von 1997 hat sich die deutsche chemische Industrie zur Einhaltung anspruchsvoller Umwelt- und Sicherheitsstandards verpflichtet. Hinter dieses Niveau darf eine europäische Regelung natürlich nicht zurückfallen, gerade auch im Interesse der deutschen Chemieindustrie und ihrer Beschäftigten. Die Europäische Union muss dafür Sorge tragen, dass die mit dem REACHSystem angestrebten Ziele mit dem geringstmöglichen Aufwand erreicht werden. Denn Wohlstand und Beschäftigung, aber auch die Innovation anderer Wirtschaftszweige hängen in hohem Maße von der chemischen Industrie ab.
Wenn durch eine hohe zusätzliche Kostenbelastung kleinvolumige Stoffe, die kein Umwelt- oder Gesundheitsrisiko darstellen, vom Markt verschwinden sollten, könnte sich dies nachteilig auf die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige auswirken. Es kann nicht gewollt sein, dass Stoffe nur aus Gründen eigentlich vermeidbarer zusätzlicher Kostenbelastung und nicht aufgrund ihres Risikos für Umwelt und Gesundheit vom Markt genommen werden. „Umwelt und Gesundheit“, das ist unser Stichwort für die Risikobewertung.
Das gegenwärtige europäische Chemikalienrecht unterscheidet zwischen Alt- und Neustoffen. Darauf hat Herr Kollege Scheuermann bereits hingewiesen, und ich will das nun nicht mehr weiter ausführen. Die chemischen Altstoffe machen heute mehr als 97 % der Gesamtmenge sämtlicher auf dem Markt befindlichen Stoffe aus. Sie unterliegen bislang anderen Prüfvorschriften als die Neustoffe. Insgesamt sind über 100 000 Stoffe als Altstoffe angemeldet; davon sind ca. 30 000 mit Produktionsmengen von mehr als 1 Tonne pro Jahr tatsächlich marktrelevant. Nur 140 dieser Stoffe unterliegen als prioritäre Gefahrstoffe umfangreichen Risikobeurteilungen durch die Behörden der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Dies steht zu dem Risikopotenzial in keinem Verhältnis.
Eine abschließende Risikobewertung konnte im Rahmen der bisherigen Altstoffverordnung der EU in einem Zeitraum von rund zehn Jahren nur für etwa 30 Altstoffe erreicht werden. Das bedeutet, dass die gegenwärtige Chemikalienpolitik der Europäischen Union ein Informationsdefizit, einen Rückstand in der Risikobewertung von Altstoffen und unterschiedliche Regelungen für Alt- und Neustoffe hat. Das sind ihre Kennzeichen. Über die Eigenschaften und die Verwendungszwecke der chemischen Altstoffe bestehen deshalb entlang der Wertschöpfungskette bislang Wissensdefizite. Dies führt dazu, dass man keine Möglichkeit hat, Gesundheitsgefahren rechtzeitig zu erkennen. Informationen über die Stoffeigenschaften und die Anwendungsbereiche von Chemikalien sind aber die Grundvoraussetzung für eine angemessene Risikobewertung. Dies war in der Vergangenheit nicht hinreichend bekannt.
Zusammengefasst: Der durchgreifende Umbau des bisherigen Chemikalienmanagements im Rahmen des vorgeschlagenen REACH-Systems sollte eine realistische Perspektive zur Beseitigung von Defiziten bei Information und Bewertung sowie im Risikomanagement bieten und die Transpa
renz im Stoffsystem erhöhen, ohne dabei die Wettbewerbsund Innovationsfähigkeit der europäischen Industrie zu gefährden. Das ist die Zielsetzung, über die wir hier heute reden.
Am 29. Oktober 2003 verabschiedete die Europäische Kommission ihren Vorschlag zu der neuen EU-Chemikalienverordnung. Dadurch sollen rund 40 europäische Richtlinien, Änderungsrichtlinien und zwei Verordnungen ersetzt werden.
Das vorliegende Vorschlagspaket trägt der Neuausrichtung der europäischen Chemikalienpolitik, trägt dem Anliegen, das ich eben dargestellt habe, Rechnung. Die SPD-Fraktion hat sich damit in der Diskussion sehr ausführlich auseinander gesetzt. Es ist doch klar, dass auch bei uns in der Fraktion zunächst einmal gefragt wurde: Wie stehen die Umweltpolitiker zu dieser Frage, und wie stehen die Wirtschaftspolitiker zu dieser Frage? Es drohte ein Konflikt zu entstehen. Aber wir haben gemeinsame Gespräche mit dem VCI geführt. Wir haben gemeinsam eine Stellungnahme der Landesregierung zu diesem Vorschlagspaket gefordert, und wir haben auch die Initiative zu einer Stellungnahme in Richtung auf diese Prüfung eingebracht, wobei schließlich das gemeinsame Ergebnis im Ausschuss zustande gekommen ist – bei einer guten Diskussion, die wir im Ausschuss hatten und die ich als durchaus vorbildlich bezeichnen möchte.
Nochmals zusammengefasst: Wir haben eine große Übereinstimmung hinsichtlich der Zielsetzung des REACH-Systems. Wir haben im Einzelnen etliche Fragen zur Praktikabilität. Deswegen soll im Vorlauf zum REACH-System noch ein Praxistest durchgeführt werden, damit wir schließlich zu einem guten System kommen, das der Sache gerecht wird, sodass wir im Endeffekt tatsächlich etwas für die Umwelt, für die wirtschaftlichen Interessen und damit auch für mehr Nachhaltigkeit in Deutschland und im Land BadenWürttemberg tun.
Ich möchte noch eine Anmerkung zu dem Änderungsantrag der Fraktion GRÜNE, zu der Ergänzung, machen. Wir hatten im Ausschuss auch schon über den Tierschutz diskutiert, hatten aber noch keine Formulierung vorliegen. Es ist ausdrücklich auch Ziel der REACH-Verordnung, den Tierschutz zu verbessern und Tierversuche zu vermeiden. Das ist eine ausdrückliche Zielsetzung und steht auch so in der Verordnung. Es ist, denke ich, gut und sinnvoll, wenn wir das hier gemeinsam noch einmal bekräftigen. Wir werden das unterstützen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Sinn und Zweck und auch das Ausmaß des Vorschlagspakets zur Neuausrichtung des europäischen Chemikalienrechts sind von meinen Vorrednern bereits zutreffend und ausführlich geschildert worden. Deshalb will ich das nicht wiederholen. Es ist auch sinnvoll und notwendig, Regelungsbereiche, die sich über Jahrzehnte – ich sage es einmal in Anführungszeichen – historisch entwickelt ha
ben, ab und zu grundsätzlich neu zu ordnen, genau wie man einen Baum, der gute Früchte tragen soll, von Zeit zu Zeit wieder in Form bringt und bei ihm das, was an Überflüssigem gewachsen ist, herausschneidet.
Systematisch vereinheitlichen muss ja gleichermaßen bedeuten, dass eine große Zahl bisher bestehender Regelungen wegfällt. Ich bitte die Landesregierung, massiv darauf zu achten, dass tatsächlich vieles wegfällt, und vielleicht schon heute einmal zu prüfen, welcher Bedarf für Entsorgung von Landesregelungen in der Nacharbeit dann besteht.
Es darf nicht dazu kommen, dass zum Beispiel in einer Behörde auf Kreisebene noch Vorschriften bestehen, die aufgrund der Neuregelung gar nicht mehr notwendig wären.
Mit der vorgesehenen völligen Zentralisierung muss und soll erreicht werden, dass zum Beispiel unnötige Doppelarbeit wegfällt. Aus meiner Sicht betrifft das auch den Tierschutz. Forschende Firmen führen Tierversuche ja schließlich nicht aus Jux und Tollerei durch. Wer irgend kann, wird die dadurch entstehenden Kosten sicherlich gerne vermeiden. Aus diesem Grund halte ich das, was der Änderungsantrag noch begehrt, nicht unbedingt für notwendig. Ich meine auch, dass man immer aufpassen muss, wenn man etwas ganz genau verbietet oder vorschreibt. Aber bevor mir jetzt irgendjemand einen Strick daraus dreht und auch noch behauptet, ich wäre gegen den Tierschutz, was wirklich nicht der Fall ist, kann ich, denke ich, mit dem Antrag leben. Ich hätte ihn nicht für nötig gehalten. Je schlanker eine Regelung, desto besser. Wenn wir eine solche Spezialregelung machen, müssen wir natürlich darauf achten, dass nicht plötzlich andere Schlange stehen und sagen: „Bei uns besteht auch etwas Besonderes. Da bedarf es auch noch einer Spezialregelung.“ Das sollte auf keinen Fall sein. Wir brauchen eine schlanke, einfache, gut nachvollziehbare Regelung.
In der Zentralisierung liegen allerdings auch Gefahren. Man muss erstens fragen: Passen zum Beispiel die einheitlichen Regelungen auch für unsere überwiegend mittelständische Wirtschaft?
Zweitens: Werden mit dieser Zentralisierung, unter anderem von hochinteressanten Forschungsdaten, etwa auch alle Dinge vereinfacht, die sich mit Wirtschaftsspionage befassen?
Das sollte man eigentlich nicht vereinfachen. Darauf muss streng geachtet werden, wenn die Daten wirklich an einem zentralen Ort gesammelt werden. Jeder von uns weiß, dass elektronisch Gespeichertes heute nicht endgültig als sicher gelten kann. Da sehe ich ein hohes Gefahrenpotenzial.
Schließlich die dritte Frage: Ist das Vorhaben überhaupt technisch und verwaltungsorganisatorisch in der Praxis funktionsfähig? Meine Vorredner haben das ja auch schon angesprochen. Ich muss sagen: Die Erfahrungen mit der Maut lassen grüßen. Wir müssen aufpassen, dass wir hier
Hier ist Vorsicht geboten. Ich freue mich deshalb, dass meine Initiative für einen interfraktionellen Beschluss erfolgreich war: ja zu einer einheitlichen Regelung, die praktikabel und kosteneffizient ist, und zwar kosteneffizient sowohl für die Betriebe als auch für die Verwaltung, die ja die Einhaltung der Regeln kontrollieren muss; ja aber auch zu einem Pilotprojekt, das vor Abschluss des Rechtsetzungsverfahrens die Umsetzung der geplanten Regelung in der Praxis konkret abprüft. Nur so können wir sicherstellen, dass baden-württembergische Betriebe und damit auch deren Kunden und Mitarbeiter auch in Zukunft eine solide Entwicklungschance haben und dass gleichzeitig die Sicherheit beim Einsatz chemischer Verfahren weiter verbessert wird.
(Beifall der Abg. Kleinmann FDP/DVP und Rech CDU – Abg. Walter GRÜNE: Die gesamte FDP/ DVP-Fraktion klatscht! – Die Rednerin erleidet ei- nen Hustenanfall. – Abg. Dr. Inge Gräßle CDU: Das war ein überraschendes Ende Ihrer Rede!)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die große Einigkeit hier im Haus könnte vielleicht über die Brisanz hinwegtäuschen, die in der Tat in diesem Vorschlag steckt. Es handelt sich hier gewissermaßen um das letzte große bislang völlig unbehandelte klassische Umweltthema. Wir sind die meisten klassischen Umweltthemen, die sich mit Verschmutzung und mit Gefährdungen der Gesundheit und der Natur beschäftigen, angegangen und haben sie teilweise gelöst. Denken Sie an die Flussverschmutzung. Die Kläranlagen sind heute gebaut. 98 % der Haushalte sind an eine Kläranlage angeschlossen. Der Katalysator ist flächendeckend eingeführt. Die Rauchgasentschwefelung in Kraftwerken und sogar der Atomausstieg sind auf den Weg gebracht.
Sehen Sie, das ist der Unterschied zwischen klassisch und neu. Es gibt noch innovative Themen, um die wir uns auch kümmern, aber die klassischen Themen sind angegangen. Die Chemie ist das letzte große klassische Thema, bei dem bisher im Wesentlichen nichts unternommen wurde. Von 100 000 Altstoffen ist praktisch keiner auf sein Risiko für den Menschen untersucht.
(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das ist aber jetzt auch stark übertrieben! – Abg. Hauk CDU un- terhält sich mit seiner Nebensitzerin.)
Herr Kollege Hauk, hören Sie jetzt einmal zu, damit Sie auch wissen, was das Problem bei der Sache ist.
(Abg. Hauk CDU: Glauben Sie mir, dass ich durch- aus zu multifunktionaler Tätigkeit in der Lage bin!)
Sie würdigen das. Sehr gut. – Herr Kollege Hauk, hier geht es um ein wirklich großes klassisches Thema. Bisher töten die Gifte unerkannt. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die unerkannten Gefahren in Chemikalien jährlich zu 2 000 bis 4 000 Krebserkrankungen führen und dass über einen Zeitraum von 30 Jahren Schäden an der menschlichen Gesundheit entstehen, deren Behandlung mindestens 18 Milliarden €, schlimmstenfalls sogar 54 Milliarden € erfordert, die durch diese REACH-Verordnung vermieden werden können. Es handelt sich also um ein brisantes, um ein wirklich gewichtiges Thema.
Es ist erfreulich, dass hier im Landtag so große Einigkeit herrscht. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Einigkeit keinesfalls im Land herrscht. Da sind besonders die Fraktionen der FDP/DVP und der CDU, denen man gewöhnlich Wirtschaftsnähe nachsagt, gefordert. Denn wenn ich auf einer Einladung der IHK Reutlingen für eine Veranstaltung, die morgen stattfindet,