Protokoll der Sitzung vom 06.10.2004

Sie werden das alles auch einmal nachlesen können,

(Abg. Schmid SPD: Ja, ja, in Geschichtsbüchern!)

wenn sich die Wissenschaft diesen Themen einmal näher gewidmet hat.

(Abg. Schmid SPD: Das ist ja unerträglich, diese Selbstgerechtigkeit!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Kollege Dr. Schüle hat zu Recht auf den ganz wichtigen Aspekt der Subsidiarität und der Umsetzung des Frühwarnsystems im Zusammenhang mit der Verfassung hingewiesen. Ich glaube, wir müssen uns jetzt sehr intensiv mit dieser Frage befassen, auch in der Zusammenarbeit zwischen Landesregierung und Landtag. Wir haben im Jahr ungefähr 1 000 Beratungsgegenstände, über die wir im Europaausschuss des Bundesrats verhandeln. Davon sind zwar nur ein relativ kleiner Teil Gesetzgebungsvorhaben, aber natürlich muss auch vieles andere unter Subsidiaritätsgesichtspunkten geprüft werden.

Ich würde anbieten und hoffen, dass der Landtag und die Landesregierung zu einem gemeinsamen Verfahren kommen, wie wir dieses Frühwarnsystem innerstaatlich und auch im Verhältnis des Bundesrats zu den Landtagen – auch zum Landtag von Baden-Württemberg – sinnvoll umsetzen. Da müssen wir ins Gespräch kommen, denn wir haben nur sechs Wochen Zeit für die Subsidiaritätsprüfung. Es ist zwar nicht so, dass diese Frage morgen vor der Tür stehen würde. Zuerst muss die Verfassung verabschiedet werden. Aber wir brauchen ein Instrumentarium – da hat Kollege Schüle absolut Recht –, mit dem wir das miteinander bewältigen. Wir werden in Zukunft nämlich bei keiner Maßnahme mehr sagen können, wir seien im Vorfeld nicht informiert worden.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Deswegen brauchen wir einen Europaausschuss!)

Ein Ausschuss als solcher macht die Beratungsintensität auch nicht besser. Es kommt darauf an, dass wir ein Verfah

(Minister Dr. Christoph Palmer)

ren entwickeln, wie wir uns mit den Gegenständen befassen und dann auch verständigen.

Nun hat in der Debatte die Frage des Beitritts der Türkei – auch aus gutem Grund; sie ist aktuell – die zentrale Rolle gespielt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Landesregierung stellt übereinstimmend fest, dass wir einen Beitritt der Türkei zum jetzigen Zeitpunkt nicht befürworten können. Sie finden das auch im Europabericht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Kretschmann GRÜNE: Das fordert ja niemand!)

Wir machen dafür unterschiedliche Gründe geltend, zum Beispiel erstens geografische Gründe. Die Ukraine und Weißrussland haben unter geografischen Gesichtspunkten mindestens das gleiche Recht – wenn nicht sogar ein größeres Recht –, in die Europäische Union zu gelangen, wenn sie die Voraussetzungen, die so genannten Kopenhagener Kriterien, erfüllen.

Es gibt zweitens politische Gründe. Man sollte die Türkei einmal daraufhin anschauen, an welche Länder sie grenzt: Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak und Syrien. Ich glaube, man würde diese Europäische Union politisch überfordern, wenn man der Türkei in einem überschaubaren Zeitraum eine solche Beitrittsperspektive gäbe.

Der dritte Punkt kommt heute ganz anschaulich im Fortschrittsbericht und in der Machbarkeitsstudie zum Ausdruck: Wir würden die Europäische Union auch finanziell an Grenzen bringen. Die Nettokosten für einen Beitritt der Türkei werden von der EU-Kommission auf 16 bis 28 Milliarden € pro Jahr beziffert, je nach Szenario. Das ist natürlich weit mehr als bei jeder anderen Erweiterung, die bisher gemacht wurde. Das kann man auch nicht mit der Erweiterung um zehn Länder vergleichen, bei der für einen Zeitraum von fünf Jahren 40 Milliarden € bereitgestellt wurden. Hier geht es um jährlich 16 bis 28 Milliarden € Nettokosten, die auf die alten Mitgliedsländer umgelegt würden. Wir würden uns auch finanziell überfordern, meine sehr verehrten Damen und Herren.

In der Debatte ist nun gesagt worden, wir hätten den Weg zu einer Mitgliedschaft der Türkei schon früher eingeschlagen. Wahr ist: Es gibt ein Assoziationsabkommen der alten EWG mit der Türkei von 1963. Ich halte das aber für einen ganz falschen Beleg in dieser Debatte. Was war denn die EWG 1963? Es war eine Freihandelszone, es war eine Meistbegünstigungszone. Es hat doch kein Mensch etwas dagegen, dass wir in der Welt Freihandel miteinander veranstalten. Das wird auch jeder Marktwirtschaftler vertreten. Deshalb ist dieser Rekurs auf 1963 natürlich falsch.

Ebenso ist der Hinweis auf den Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 1997 schlicht falsch. Ich habe diesen Beschluss im Wortlaut da. Der Europäische Rat in Luxemburg hat beschlossen, dass für alle Beitrittsländer – für alle, die ein Beitrittsgesuch stellen – die gleiche Anwendung der Kopenhagener Kriterien zu gewährleisten ist, also beispielsweise auch für Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Mazedonien, also für alle, die bereits einen Antrag gestellt haben oder in Zukunft einen Antrag stellen.

Der erste Schritt, der wahrhaftig in die Richtung gegangen ist, die Türkei zu einem Vollmitglied der Europäischen Union zu machen, dieser erste Schritt ist im Dezember 1999 durch den Europäischen Rat in Helsinki erfolgt. Da hat die Türkei den Status des Beitrittskandidaten bekommen. Wir halten dies für einen Fehler. Wir glauben, dass das kein Weg ist, der in eine, wie es Kollege Kretschmann genannt hat, strategische Zukunft weist. Ich glaube, es ist ehrlicher, das auch Freunden und wichtigen Nationen im Vorhinein in aller Offenheit zu sagen. Denn was entsteht für ein außenpolitischer Schaden, wenn im Rahmen des Ratifikationsverfahrens, das in allen Ländern erforderlich ist – für das in Deutschland übrigens eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat und in anderen Ländern eine Volksabstimmung vorgesehen ist –, beispielsweise die Franzosen in einer Volksabstimmung Nein zu einem Beitritt der Türkei sagen? Da ist es doch viel ehrlicher, von vornherein guten Freunden zu sagen: Lasst uns aus geografischen, politischen und ökonomischen Gründen gemeinsam das Konzept einer privilegierten Partnerschaft entwickeln, die in die Zukunft weist. Genau das ist der Weg, den auch die Landesregierung vertritt, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Nun ist vom Kollegen Kretschmann bezweifelt worden, dass der Vorschlag der privilegierten Partnerschaft mit einem Konzept unterlegt wäre. Herr Kollege Kretschmann, der Verfassungsvertrag sieht in Teil I Artikel 57 über die Beziehungen der EU zu ihren Nachbarn ausdrücklich ein solches besonderes Integrations- und Partnerschaftsverhältnis vor. Diese Regelung schafft den Rahmen dafür, dass es an den Rändern der Europäischen Union engere Formen der Zusammenarbeit gibt. Das ist für die Türkei gangbar.

Dieses Konzept der privilegierten Partnerschaft ist ganz genau definiert und liegt auf dem Tisch. Wir haben im Augenblick bei den Zöllen, bei den Tarifen und Handelsbeschränkungen beispielsweise eine Beschränkung auf Industriegüter und auf verarbeitete landwirtschaftliche Produkte. Man kann auch eine komplette Zollbegünstigung beschließen.

Man kann, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zusammenarbeit mit der Türkei auf anderen Gebieten suchen: beim Umweltschutz, bei der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen, bei der Gesundheit, bei der Bildung. Man kann sich vorstellen, dass wir im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusammenarbeiten. Man kann sich auch eine Integration in die GASP und in die ESVP vorstellen. Selbstverständlich ist es im Rahmen dieser privilegierten Partnerschaft auch möglich, justiziell bei der Bekämpfung des Terrors zusammenzuarbeiten.

Das gesamte Spektrum der Zusammenarbeit von Nationen, die gleichgerichtete Interessen haben, wird in Zukunft an den Rändern der Europäischen Union unverzichtbar sein, übrigens nicht nur mit der Türkei, sondern, wenn ich die aktuelle Diskussion des Bundesinnenministers über die Auffanglager in Nordafrika sehe, auch mit den Maghreb-Staaten, natürlich auch mit den Staaten im Kaukasus und mit den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.

(Minister Dr. Christoph Palmer)

Wir brauchen solche strategischen Konzepte für privilegierte Partnerschaften nicht nur mit der Türkei, aber selbstverständlich besonders mit der Türkei. Denn dass die Türkei ein Brückenland ist, ein Übergangsland zwischen Orient und Okzident, dass die Türkei in ihrer geschichtlichen Entwicklung immer ein Janusgesicht hatte, einerseits nach Europa herüber, andererseits nach Asien hinüber, wird von niemandem in dieser Diskussion bestritten. Ich warne nur davor, aus Euphorie und aus Naivität in einen Prozess hineinzugehen, der am Ende die große Gefahr in sich birgt, die Europäische Union an der Frage der Aufnahme der Türkei zu sprengen. Das ist nämlich tatsächlich die große Dimension dieses Beitritts, die wir mit Sorge diskutieren müssen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Meine Damen und Herren, wir kommen zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung. Sie stimmen der Beschlussempfehlung des Ständigen Ausschusses, Drucksache 13/3604, zu der Mitteilung der Landesregierung vom 27. Juli 2004, Drucksache 13/3430, zu. – Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.

Damit ist Tagesordnungspunkt 7 abgeschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8:

Zweite Beratung des Gesetzentwurfs der Landesregierung – Gesetz zur Änderung der Landesbauordnung für Baden-Württemberg – Drucksache 13/3304

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – Drucksache 13/3569

Berichterstatter: Abg. Gall

Das Präsidium hat für die Allgemeine Aussprache eine Redezeit von fünf Minuten je Fraktion festgelegt.

Ich erteile Herrn Abg. Hoffmann das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns bereits am 28. Juli dieses Jahres mit dem Gesetzentwurf zur Änderung der Landesbauordnung auseinander gesetzt. Schon bei der damaligen Debatte hat die CDU-Fraktion klargestellt, dass die geplanten Änderungen, die vordringlich die Frage der Barrierefreiheit umfassen, einen Kompromiss darstellen. Zum einen versucht der Gesetzentwurf, dem berechtigten Wunsch behinderter Menschen, am öffentlichen Leben teilzuhaben und in Selbstbestimmung leben zu können, gerecht zu werden. Zum anderen behält er aber die tatsächliche Machbarkeit und auch die finanzielle Machbarkeit im Auge.

Dass dieses Gesetz aus Sicht der Behindertenverbände noch weiter gehen könnte, liegt in der Natur der Sache. Die Einführung von mehr vor Ort entscheidbarer Flexibilität geht dafür der Immobilienwirtschaft noch nicht weit genug. Wenn aber, wie wir das vorhaben, ab 1. Januar 2008 beim Bau von Wohngebäuden mit mehr als vier Wohnungen die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei zugänglich sein sollen, geht das der Immobilienwirtschaft wiederum zu weit.

Wenn die einen sagen, das Gesetz regle zu wenig, und die anderen sagen, das Gesetz regle zu viel, scheinen wir mit unserer Gesetzesänderung genau in der Mitte der unterschiedlichen Standpunkte angelangt zu sein. Gesetze, die in der Mitte landen, decken in der Regel die Interessen breit ab und stehen dann unter diesem Vorzeichen im Ruf, das Zeug zu einem guten Gesetz zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn zukünftig nicht nur der barrierefreie Zugang zur Selbstverständlichkeit, sondern auch die vollständig barrierefreie Nutzung von Gebäuden Standard würde. Es ist den Bauherren nicht verboten, die vollständige Barrierefreiheit bei Projekten umzusetzen. Ganz im Gegenteil, aus Sicht der CDU hat die bessere Berücksichtigung der Belange älterer und behinderter Bewohner sogar Vorteile. Bei steigendem Altersdurchschnitt der Bevölkerung und der Zunahme eines Bedarfs an entsprechend ausgestattetem Wohnraum tätigen die Bauherren aus unserer Sicht sogar eine sinnvolle Zukunftsinvestition, wenn sie freiwillig barrierefrei bauen. Sie sichern den Wert ihrer Immobilie besser, als das im Moment über ein Gesetz möglich sein kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Dass der Markt dafür vorhanden ist, zeigt die Tatsache, dass der Bevölkerungsanteil der älteren Generation heute bei knapp 23 % liegt und bis zum Jahr 2050 auf 36 % ansteigen wird. Wer heute in Neubauten 80er-Türen und -Duschwände einbaut, wird morgen Probleme haben, diese Wohnungen zu vermieten oder zu verkaufen. Aber wir brauchen keine Vorschriften, sondern das wird der Immobilienmarkt sehr gut allein anpassen.

(Beifall des Abg. Blenke CDU – Abg. Blenke CDU: Sehr gut!)

In vielen Bereichen hat die Praxis gezeigt, dass einige der derzeitigen Anforderungen – besonders im kommunalen Bau, besonders bei öffentlichen Gebäuden, beim Einzelhandel – zu starr und zu unbeweglich sind und eher zu einer Ausgrenzung als zu einer Verbesserung für Ältere und Behinderte geführt haben. Es nutzt nichts, alle Fragen in einem Gesetz bis ins Detail zu klären, wenn anschießend ganze Vorhaben scheitern oder so unwirtschaftlich werden, dass sie nicht umgesetzt werden können.

Jetzt können wir Ausnahmen zulassen, und zwar dort, wo planerische und organisatorische Lösungen pragmatische Verbesserungen bringen. Wir ersetzen die starren Paragrafen durch pragmatische Lösungen und machen dadurch Entscheidungen direkt vor Ort möglich. Ich bin sicher, dass unser Innenminister den Behörden vor Ort, den Baubehörden vor Ort, den Landratsämtern klar machen wird, dass diese künftig ihren Spielraum ausnutzen müssen. Wir brauchen keine Vielzahl von neuen Präzedenzfällen, sondern pragmatische Lösungen. Ich glaube, unser Innenminister steht in seiner Person dafür, dass die Behörden das entsprechend umsetzen.

Ich will noch mit ein paar Worten auf den Änderungsantrag der Fraktion der SPD eingehen, der uns hier vorliegt. In

dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD, Drucksache 13/3615-1, wird begehrt, man möge Toilette, Bad und Küche rollstuhlgerecht zugänglich machen. Die SPD wird es mir übel nehmen, aber ich sage es trotzdem: Die Formulierung in diesem Antrag zeigt schlicht die Unkenntnis der Situation von älteren und behinderten Menschen. Ich sage Ihnen auch, warum. Was heißt denn „rollstuhlgerecht zugänglich“? Inzwischen sind rund 300 verschiedene Rollstuhltypen am Markt vorhanden. Ich habe mir vorhin einmal ganz aktuell ein ganz normales Standardmodell herausgesucht: Das ist der MEYRA 1 406 – Insidern wird die Bezeichnung etwas sagen. Dieses Modell ist inzwischen in Breiten von 66 und 71 Zentimetern lieferbar. Die Rollstühle haben sich der heutigen Wohnungssituation angepasst und nicht umgekehrt. Der Markt ist vorhanden. Wir haben viele ältere Menschen, die darauf angewiesen sind. Bei dem genannten Modell handelt es sich aber um einen Straßenrollstuhl. In den Wohnungen setzen behinderte Menschen sehr oft leichtere Rollstühle ein, die noch schmaler und noch beweglicher sind, weil die großen Straßenmodelle nicht richtig gut handelbar sind für die Menschen, die sich selber fortbewegen wollen. Wir befinden uns also in einer völlig anderen Situation, als dies die SPD unterstellt.

Ich denke, der Antrag der Fraktion der SPD zeigt, dass sie sich mit dem Thema „Was brauchen eigentlich Ältere? Was brauchen eigentlich Behinderte?“ nicht so sehr im Detail auseinander gesetzt hat.

Für uns ist der vorliegende Gesetzentwurf ein guter Kompromiss, eine Abwägung verschiedener Interessen. Aus diesem Grunde stimmt die CDU dem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Kübler CDU: Sehr gut!)