Protokoll der Sitzung vom 30.06.2005

(Glocke der Präsidentin)

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Wacker?

Selbstverständlich, Herr Kollege Wacker.

Frau Kollegin Rastätter, erlauben Sie mir nur zwei kurze Fragen, weil Sie eben den VBE zitiert haben.

Der VBE hat in seiner Pressemitteilung zum wiederholten Mal ausdrücklich gesagt:

Die Grundschulempfehlung wird sorgfältig erstellt. Kein Abschluss ohne Anschluss in Baden-Württemberg!

Dabei wird die Grundschulempfehlung ausdrücklich gelobt. Wie bewerten Sie diese Stellungnahme des VBE?

Die zweite Frage, weil Sie gerade auf Ihren Antrag eingegangen sind: Könnten Sie mir bitte folgenden Widerspruch erklären: Sie fordern in Ihrem Antrag, im Zuge des Schülerrückgangs keine Lehrerstellen einzusparen, während Ihr Fraktionsvorsitzender auf einer Pressekonferenz am 17. Januar ausdrücklich gesagt hat, dass ab dem Jahr 2008 mit Stelleneinsparungen im Lehrerbereich zu rechnen sei. Das war eine Forderung der Grünen damals, und Sie wollen heute durch Ihren Antrag das Gegenteil zum Ausdruck bringen. Können Sie diesen Widerspruch bitte aufklären?

Selbstverständlich, Herr Kollege Wacker. Zunächst: Der VBE sagt zu Recht, dass die Grundschullehrkräfte wirklich auch eine umfassende Diagnose erstellen und eine verantwortungsvolle Empfehlung erteilen. Trotzdem stehen genau diese Lehrer und Lehrerinnen unter einem massiven Druck. Natürlich wissen diese Lehrer und Lehrerinnen – das sagt auch der VBE –, dass sich dieser Druck negativ auf die Grundschule und auf die Pädagogik der Grundschule auswirkt. Genau deshalb fordert der VBE ja in seinem neuen Papier „Auf dem Weg zu einer neuen Grundschule“, die Übergangsentscheidung in den Verantwortungsbereich der Eltern zu geben.

Ich füge noch hinzu: Was hat es für eine Konsequenz, wenn ich eine verpflichtende Empfehlung gebe? Das hat die Konsequenz, dass an den Grundschulen auch verhindert wird, dass neue, motivierende, das Selbstwertgefühl der Schüler und Schülerinnen stärkende Leistungsrückmeldungen an der Grundschule entwickelt werden.

Der VBE sagt zur derzeitigen Notengebung an der Grundschule – ich zitiere –:

Der VBE lehnt ein Notensystem ab, das über Entmutigung, Diffamierung, Bloßstellung, Blamage, Ausgrenzung, Selektion und Auslese zur Demontage des kindlichen Persönlichkeitsempfindens führt und über ein negativ gezeichnetes Selbstbild bereits in diesem frühen Alter Lern- und Lebenschancen einengt.

Weil wir Grünen genau wissen, welche fatalen Folgen die verpflichtende Übergangsempfehlung in der Grundschule hat, sagen wir: Wir müssen die Übergangsentscheidung in die Verantwortung der Eltern geben. Wir wollen die Erziehungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Schule stärken. Wir wollen, dass die Grundschulen eine umfassende Beratung leisten und eine Empfehlung geben. Aber letztlich müssen die Eltern in der Lage sein, die Verantwortung zu übernehmen.

(Abg. Wacker CDU: Und die zweite Frage?)

Die zweite Frage, zu den Ressourcen: Das kann ich Ihnen ganz eindeutig sagen: Wir Grünen haben immer klar gemacht, dass wir den Großteil der Lehrerstellen zunächst in die Qualitätsentwicklung der Schulen geben werden. Das steht für uns absolut im Vordergrund. Dann werden wir in maßvollem Umfang Stellen abbauen. Allerdings werden wir keine Stellen aus der Grundschule abziehen.

(Abg. Wacker CDU: Mehrere Tausend!)

Wir verlangen, dass die Ressourcen in der Grundschule bleiben. Wir wollen eine bessere Förderung der Kinder an der Grundschule. Wir wollen keinen Klassenteiler von 31 an der Grundschule. Keine Grundschulklasse darf über 25 Schüler und Schülerinnen haben, und wir brauchen mehr Unterstützung in kleinen Gruppen an der Grundschule.

(Abg. Wacker CDU: Nicht ganz aufgeklärt!)

Meine Sprechzeit ist zu Ende. Ich bin auf Ihre Fragen intensiv eingegangen und konnte deshalb einiges andere nicht sagen. Aber die Debatte wird fortgesetzt.

Ich komme zum Schluss: Die Grundschule hat es verdient, eine bessere Förderung zu bekommen. Sie hat es verdient, dass der Druck aus dieser Schulart genommen wird. Deshalb wollen wir die Erziehungspartnerschaft zwischen Elternhaus und Schule stärken und auch die Eltern stärker in die Verantwortung nehmen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Staatssekretär Rau.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen eine ganze Reihe von Anträgen zur Grundschule vor, die zeigen, dass diese Schulart immer wieder im Mittelpunkt politischer Debatten steht, auch im Mittelpunkt von Entwicklungen, die in unseren Augen einen sehr erfreulichen Verlauf genommen haben und weiter nehmen werden.

In den Grundschulen hat das umfangreiche Paket an Bildungsreformen, das wir in Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren umgesetzt haben, seinen Anfang genommen. Das ist nur konsequent. Das war nicht eine Weiterentwicklung, die mit PISA oder gar erst mit IGLU begonnen hat. Vielmehr ist diese Entwicklung in den Neunzigerjahren begründet worden. Sie führt dazu, dass wir heute in den Grundschulen dieses Landes schon sehr, sehr weit in der Entwicklung fortgeschritten sind.

Die Umstellung auf die Bildungsstandards im Rahmen der Bildungspläne, die jetzt seit einem Jahr für alle Schulen verbindlich sind, hat einen langen Vorlauf. Zahlreiche Grundschulen haben auch schon in der Erprobungsphase daran gearbeitet.

Das führt konsequenterweise dazu, dass wir nicht an allen Schulen die gleichen Entwicklungsgeschwindigkeiten haben. Aber man kann nicht beides haben, Frau Rudolf: auf der einen Seite den Wunsch, mehr Verantwortung an die Schulen zu geben, und auf der anderen Seite eine völlig gleich laufende Entwicklung an den Schulen. Wir müssen damit leben, dass Schulen unterschiedlich lange Zeit brauchen, um diese Entwicklung durchlaufen zu können. Aber wir sind ganz sicher, dass der Prozess so, wie er derzeit stattfindet, dazu führt, dass alle Schulen diesen Weg beschreiten werden.

Es ist richtig, dass noch nicht alle Chancen der Schulentwicklung gleichermaßen genutzt werden. Aber die Kollegien der Schulen haben im Vorlauf zum Schuljahr 2004/2005 ganz erhebliches Engagement aufgebracht, um die Umstellung auf die Arbeit nach Bildungsstandards tatsächlich schaffen zu können. Dieses einmal in Gang gebrachte Prozedere führt dazu, dass in diesen Schulen auch in Zukunft an der Schulentwicklung gearbeitet wird.

Ich will gleich sagen, dass deswegen für uns zwingend dazugehört, dass auch die jetzt zur Verfügung gestellten Evaluationsinstrumente von den Schulen eingesetzt und genutzt werden. Evaluation ist die andere Seite der Medaille, mit der den Schulen Freiheit und Verantwortung übertragen wurde. Sie müssen wissen, wo sie mit ihrem Prozess stehen, ob sie ihre Ziele richtig gesetzt haben, ob die Qualitätsentwicklung im Unterricht funktioniert, wie die Schulleitung ihre Verantwortung wahrnimmt, wie die unterschiedlichen Gruppen an den Schulen beteiligt sind. Deswegen halte ich es für ganz wichtig, dass wir Evaluation jetzt nicht als den Versuch, vonseiten der Schulaufsicht mit dem dicken Daumen Druck auf die Schulen auszuüben, diskreditieren, sondern dass wir die Chancen sehen, die in der Evaluation liegen.

Sie haben das nicht getan. Das ist keine Replik auf einen Einwand von Ihnen. Ich will nur die Gelegenheit nutzen, dies hier im Zusammenhang deutlich zu machen. Wer Ver

antwortung übernimmt, muss Rechenschaft ablegen, um sich gut entwickeln zu können.

In den neuen Bildungsplänen haben wir mit der Formulierung der Bildungsstandards einen Perspektivenwechsel vollzogen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

Im Mittelpunkt der Reform stehen dabei der Unterricht, die Qualität des Unterrichts, die Kooperation in den Lehrerkollegien und die Bereitschaft, sich selbst konzeptionell weiterzuentwickeln. Professor Baumert, der PISA-Papst in Deutschland – –

(Abg. Margot Queitsch SPD unterhält sich mit Abg. Göschel SPD.)

Das ist ein bisschen störend. Vielleicht könnten Sie Ihre Verhandlungen beenden. Das stört ein bisschen. Entschuldigung, aber das stört mich wirklich von der Seite her.

(Abg. Fleischer CDU: Helmut, schau uns an!)

Ich höre es ja nur grummeln.

(Unruhe)

Professor Baumert, der deutsche PISA-Papst, hat uns immer wieder empfohlen, das Hauptaugenmerk in der Schulentwicklung auf die Unterrichtsqualität zu richten und dabei eben keine Strukturdebatten zu führen, die eher von der Hauptaufgabe der Schulentwicklung ablenken.

(Abg. Zeller SPD: Aber er hat auch gesagt, dass beides zusammengehört!)

Die Grundschule hat an den Gelenkstellen vom Kindergarten zur Grundschule und von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen besondere Verantwortung zu übernehmen. Wir haben hier einen mehrjährigen Prozess hinter uns, der noch nicht abgeschlossen ist, in dem aber diese Gelenkstellen ganz besondere Aufmerksamkeit der Bildungspolitik und ganz besondere Aufmerksamkeit der Handelnden hatten. Wir wissen, dass eine weiterführende Bildungseinrichtung – nach unserem heutigen Verständnis von Kindergarten ist auch schon die Grundschule eine weiterführende Bildungseinrichtung im Aufbau auf die Erfahrungen, die Kinder im Kindergarten machen; wir wissen, dass an diesen Gelenkstellen besonders eng kooperiert werden muss – mit den Erfahrungen der vorauslaufenden Einrichtungen weiterarbeiten muss, dass man selbst Erfahrungen mit den Kindern, die einem anvertraut waren, weitergeben muss und dass abnehmende Schulen nicht einfach sagen können: „Bei uns fängt es von vorne an“, sondern dass sie in Rechnung stellen müssen, was davor geschehen ist. Nur so kommen wir zu einer entwicklungsbezogenen Förderung und Forderung von Kindern in allen Altersklassen; besonders notwendig ist das in der frühen Kindheit.

Wir haben die Richtigkeit unserer Politik in internationalen Schulleistungstests bestätigt bekommen. Ich habe es ganz am Anfang schon gesagt: Wir haben nicht als Reaktion auf diese Leistungstests die Weiterentwicklung unserer Schulen begonnen,

(Abg. Wacker CDU: So ist es!)

(Staatssekretär Rau)

sondern wir haben sie vorher begonnen, und zwar in einer Phase, in der wir mit Erfahrungen auch aus anderen europäischen Ländern umgegangen sind. Wir haben beispielsweise durch die IGLU-Studie eine sehr gute Bestätigung der in unseren Grundschulen geleisteten Arbeit erhalten. Sie sind demnach nicht nur in Deutschland Spitze – das sind sie ohnehin –, sondern sie sind, bestätigt durch die IGLU-Studie, auch in die Weltspitze aufgerückt.

Die PISA-Studien haben zwar nicht Grundschüler untersucht, aber sie haben Schlüsse gezogen, die auch auf die Grundschulen ebenso wie auf die Kindergärten zurückspiegeln, insbesondere im Bereich der Sprachförderung. Auch hier haben wir weiterführende Konzepte entwickelt.

In 14 Tagen wird die nächste PISA-Länderstudie in einer Kurzfassung veröffentlicht werden. Die zweite nationale PISA-Studie liegt schon vor. Ich möchte hier ein Faktum herausgreifen, das mir ganz besonders große Sorgen macht: Die zweite PISA-Studie hat deutschlandweit erbracht – und das wird mit graduellen Unterschieden vermutlich in allen Bundesländern so sein –, dass Migranten der ersten Generation bessere Schulergebnisse erzielen als Migranten der zweiten Generation.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Wo ist der Mario?)

Es ist ein ziemlich bedrückendes Fazit der Integrationspolitik in Deutschland insgesamt, wenn diejenigen, die neu hierher kommen, ihre Chance suchen, und diejenigen, die schon länger hier sind, resigniert haben. Das ist übrigens kein Fazit, das sich ausschließlich an die Schule wendet oder nur durch die Schule korrigiert werden könnte. Hier brauchen wir umfassend abgestimmte integrationspolitische Konzepte, die den Wohnungsbau, den Arbeitsplatz, die Mitarbeit in ehrenamtlichen Strukturen genauso berücksichtigen wie die Schule.

Liebe Frau Bauer, ich will damit deutlich machen: Dass wir Entwicklungen für richtig und gut gelaufen halten, heißt nicht, dass wir uns zurücklehnen. Vielmehr nehmen wir die neuen Herausforderungen auch an.