Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung des Landtags von Ba den-Württemberg wird fortgesetzt.
Das Staatsministerium hat uns mit Schreiben vom 1. Februar 2011 mitgeteilt, dass eines der zentralen Themen der letzten Kabinettssitzung lautete: Enquetekommission „Fit fürs Leben in der Wissensgesellschaft – berufliche Schulen, Aus- und Weiterbildung“ – Vorschläge zur Umsetzung von Handlungs empfehlungen im Bereich der beruflichen Schulen und der du alen Ausbildung.
Die Regularien kennen Sie, Frau Ministerin: Sie haben dafür fünf Minuten Redezeit. Sie bleiben dann bitte auch hier vorn stehen, während die Fragen vom Plenum gestellt werden. Ich verweise auf die Richtlinien für die Regierungsbefragung.
Vielen Dank. – Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Empfehlungen der Enquetekommis sion „Fit fürs Leben in der Wissensgesellschaft – berufliche Schulen, Aus- und Weiterbildung“ sind dem Hohen Haus kurz vor Weihnachten präsentiert worden.
Wir haben uns bemüht, die Ergebnisse dieser Kommission, die fast ein Jahr lang getagt hat, so schnell, so konsequent und so schnell wirksam wie möglich umzusetzen. Wir haben bei den Maßnahmen der Enquete, die wir als Erstes umsetzen, ei nen Schwerpunkt auf die Förderung von benachteiligten Ju gendlichen gelegt, um gerade auch die berufliche Bildung der jenigen, die beim Start ins Berufsleben nicht alle Vorteile auf ihrer Seite haben, zu unterstützen.
Deswegen hat das Kultusministerium die Umsetzung in An griff genommen. Ich nenne z. B. die Einführung von Ganz tagsangeboten. Das betrifft vor allem die Maßnahmen, bei de nen die Jugendlichen die meiste Unterstützung brauchen: Das sind das Berufsvorbereitungsjahr, das Berufseinstiegsjahr und das „Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf“. Ganztagsbetreu ung wird hier bedeuten, dass die Jugendlichen nicht nur eine zeitlich ausgeweitete, sondern auch eine deutlich intensivier te Unterstützung bekommen. Wir können nun mit den Mit teln, die uns zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, Pro jekte fortführen, die früher aus ESF-Mitteln finanziert worden sind, und wir können sie auch ausweiten.
In eine ähnliche Richtung geht die Verstärkung des prakti schen Anteils dieser eben genannten Maßnahmen. Im Berufs vorbereitungsjahr, im Berufseinstiegsjahr und im „Vorquali fizierungsjahr Arbeit/Beruf“ werden wir künftig darauf ach ten, dass die schulischen Anteile ein Stück weit in den Hin tergrund treten und die praktischen Anteile gewichtiger wer den. Die Überschrift hierzu ist die Dualisierung dieser berufs vorbereitenden Maßnahmen.
Welcher Grund steckt dahinter? Die Enquete hat dies deutlich herausgearbeitet: Junge Menschen, die bei der Aufnahme the oretisch dargebotenen Wissens schon viele Misserfolgserleb nisse hatten und dort einfach nicht die Gewinner sind, lernen besser, indem an die praktische Umsetzung angeknüpft wird.
Sie bekommen ihre wahre neue Lernchance vor allem da durch, dass sie eben nicht wieder theoretisches Wissen auf nehmen müssen, sondern dass sie zeigen können, was sie be reits können, und dass sie erfolgreiches Lernen als freudvoll erleben. Deswegen ist diese Maßnahme, die Dualisierung der berufsvorbereitenden Schulen, für uns auch von besonderer Bedeutung.
In den gleichen Schwerpunktbereich reiht sich die Einführung individueller Unterstützungssysteme ein. Auch hier greifen wir die Empfehlungen der Enquete unmittelbar auf. Für leis tungsschwächere Jugendliche sollen zusätzliche individuelle Unterstützungsmaßnahmen in der Berufsschule entwickelt werden, basierend auf einer Kompetenzanalyse, die uns dann ganz klar zeigt: Wo müssen wir ansetzen? Wo brauchen die jungen Menschen zusätzliche Unterstützung? Das kann auch in den Kernfächern Deutsch und Mathematik sein, das kann aber auch in anderen Bereichen des beruflichen Lernspekt rums sein.
Für die Lernstärkeren und für die Höherqualifikation beispiel gebend ist eine Maßnahme, die überfällig ist – die Enquete hat das deutlich gemacht –: Das ist die verpflichtende Einfüh rung der Fremdsprache Englisch an der Berufsschule. Eng lisch wird als einstündiges Fach integriert werden. Das ist ein notwendiger Anfang, aber sicherlich nicht der Abschluss der Fremdsprachenorientierung an der Berufsschule.
Ebenfalls wichtig sind uns der immer stärker werdende Zusam menhalt und die Zusammenarbeit zwischen Schule und Arbeits welt. Dabei greifen wir die Anregungen der Enquetekommis sion sehr gern auf und richten gemäß der Empfehlung Wirt schaftsbeiräte an den Berufsschulen ein. Diese haben die Funk tion, Mittler zwischen den Anforderungen der Arbeitswelt, der beruflichen Systeme und der Schule zu sein. Sie werden ein Austauschgremium sein, in dem alle Fragen der berufsprakti schen Orientierung intensiv entwickelt werden können.
wird dazu führen, dass sich junge Menschen in dem komple xen Gebilde der beruflichen Bildung in unserem Land besser zurechtfinden und alle Chancen, die es gibt, ausschöpfen kön nen.
Ich will nur einmal kurz darauf hinweisen: Die Regierung ist davon ausgegangen, dass jetzt auch Herr Minister Pfister ei ne Erklärung abgibt. Das kann ich leider nicht zulassen, weil bei einer Regierungsbefragung nur ein Mitglied der Landes regierung die einleitende Erklärung abgibt. Aber Herr Minis ter Pfister war so freundlich, zu sagen, er gebe seine Rede zu Protokoll. Deshalb würde ich sagen: Wir nehmen die Rede zu Protokoll und gehen gleich zur Regierungsbefragung über. (Siehe Erklärung zu Protokoll am Schluss des Tagesordnungs punkts.)
Frau Ministerin, ich darf Sie in Ihrer Aussage unterstützen, dass es sich um längst überfäl lige Maßnahmen handelt. Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Maßnahmen in diesem Haus schon öfter eine Rolle ge spielt haben und dass das auch Forderungen waren, die – auch mit entsprechenden Anträgen – von unserer Seite hier immer wieder zur Abstimmung gestellt wurden.
Dass der Englischunterricht in der Sekundarstufe II, in der Oberstufe, endlich auch an den Berufsschulen eingeführt wird, ist eine reine Selbstverständlichkeit. Ich erinnere an die Dis kussion mit den IHKs, in der gefragt wurde: Wie lange muss ein Betrieb für einen Außenhandelskaufmann, der ausgebil det wird, noch den Unterricht an der Berlitz-School oder sonst irgendwo selbst bezahlen? Diese Maßnahme war also über fällig.
Aber ich darf Sie auch fragen, ob nicht auch Sie es für not wendig erachten, in der dualen Ausbildung zusätzlich auch bestimmte Anreicherungen anzubieten, und zwar beispiels weise den Erwerb der Fachhochschulreife, um die Attraktivi tät der Lehre entsprechend zu steigern. Das ist ja auch in der Kommission zum Ausdruck gekommen.
Was Ihre Position und Ihre Ausführungen zu den Ganztagsan geboten betrifft, so darf ich Sie fragen, ob nicht auch Sie mit uns der Meinung sind, dass solche Angebote nicht nur auf BEJ und BVJ begrenzt sein dürfen, sondern dass natürlich auch in dem gesamten beruflichen Bereich einschließlich der Koope rationsklassen, einschließlich der Berufsförderklassen Schul sozialarbeit einzuführen ist. Es wird Sie auch nicht verwun dern, dass wir Sie noch einmal daran erinnern, dass wir Schul sozialarbeit als eine Aufgabe der Bildungspolitik ansehen und insoweit hier auch eine Finanzierung des Landes einfordern.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter, ich darf die drei Punkte abarbeiten und mit dem letzten beginnen. Sie wissen, dass das Land zurzeit auch in Gesprächen mit den Spitzen der kommunalen Landesverbände ist, und zwar mit dem Ziel, ei nen Pakt für Chancengerechtigkeit abzuschließen, der auch eine Übereinkunft zwischen den kommunalen Landesverbän den und dem Land beinhaltet, wie man mit der Frage der Ju gendsozialarbeit an Schulen umgeht. Dies ist tatsächlich ein Thema, bei dem den Bürgern und Bürgerinnen vor allem nicht signalisiert werden sollte, dass ein ständiger Kompetenzstreit besteht, sondern bei dem eine gemeinschaftlichen Vorgehens weise signalisiert werden sollte.
Die Landesregierung ist nicht der Ansicht, dass es Aufgabe des Landes ist, Jugendsozialarbeit an Schulen zu finanzieren. Aber wir sind in Gesprächen mit den kommunalen Landes verbänden darüber, wie wir hier die Unterstützungssysteme, die in der Zuständigkeit des Landes sind, und die Unterstüt zungssysteme, die in der Zuständigkeit der Kommunen sind, miteinander in Einklang bringen.
Zu Ihrer Frage nach der Ausweitung der Ganztagsangebote: Ich darf Ihnen tatsächlich zustimmen. Ich bin wie Sie der An sicht, dass dieser Einstieg in einen Ausbau und in eine Um setzung von Ganztagsangeboten in den genannten Klassen und schulischen Angeboten nicht der Endzustand sein wird. Ich bin wie Sie auch der Ansicht, dass wir die Erfahrungen, die wir nun machen werden, in die Beantwortung der Frage einbringen müssen: Welche Bereiche der beruflichen Bildung – über die genannten hinaus – bedürfen in nächster Priorität solcher Ganztagsangebote? Ich glaube, wir sind uns in der Analyse einig, dass gerade die Leistungsschwächeren stark davon profitieren. Dies gilt insbesondere für Teilnehmer an berufsqualifizierenden Maßnahmen, die für den ersten Aus bildungs- und Beschäftigungsmarkt noch nicht fit genug wa ren.
Ich bin hier also durchaus Ihrer Ansicht, plädiere aber – so werden wir es auch tun – für ein stufenweises Vorgehen. Die ersten Stufen habe ich genannt. Lassen Sie uns Erfahrungen sammeln, wo die Gelder, die hier jetzt zusätzlich zur Verfü gung stehen, am besten eingesetzt werden können.
Ich darf auf Ihre erste Frage zurückkommen, die – wenn ich sie etwas grundsätzlicher beantworten darf – darauf abzielte, wie wir Phasen beruflicher Tätigkeit und beruflicher Ausbil dung mit der Weiterqualifizierung in formellen Schulabschlüs sen und formalen Bildungswegen vermengen. Auch hier bin ich sicher, es überrascht Sie nicht, wenn ich sage: Ja, ich bin Ihrer Ansicht, dass das Entwicklungsziel in den nächsten Jah ren ganz eindeutig sein wird, dass wir Trennungen zwischen dem allgemeinbildenden Schulwesen und dessen Abschlüs sen und beruflicher Qualifikation und dabei erworbenen Kom petenzen, so sie noch vorhanden sind, weiter abbauen müs sen. Dies entspricht der Grundlinie unserer Bildungspolitik, nämlich der Gleichwertigkeit zwischen allgemeiner und be ruflicher Bildung.
Daher haben Sie ein Ziel beschrieben, das eine moderne Bil dungspolitik, die die berufliche Bildung ernst nimmt, intensiv verfolgen muss. Es darf nicht sein, dass im beruflichen Be reich erworbene Kompetenzen für allgemeinbildende Schul wege nicht anschlussfähig sind.
Hier haben wir in den letzten Jahren schon viel erreicht. Ich denke z. B. an die Möglichkeit des Hochschulzugangs für Meister. Aber auch dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Bil dungspolitisch steht er für uns in der Agenda auch sehr weit vorn.
Herr Präsident, sehr geehrte Frau Ministerin! Zunächst will ich eine Bemerkung voraus schicken. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gerade eben in Ihrer Antwort noch einmal auf das Thema Gleichwertigkeit abgehoben haben. Denn es ist, glaube ich, dem gesamten Haus und insbesondere natürlich den Mitgliedern der Enquete wirk lich sehr wichtig, dass wir diesen Punkt immer wieder deut lich machen.
Ein Weiteres will ich noch vorausschicken: Ich will daran er innern, dass die berufliche Bildung in Baden-Württemberg
schon heute die Spitzenposition in der Bundesrepublik ein nimmt. Das sage nicht ich, und das sagt nicht die CDU. Viel mehr hat das Institut der deutschen Wirtschaft in seinen Stu dien über viele Jahre hinweg den großen Abstand zu allen an deren Ländern sehr eindeutig belegt.
Dennoch will ich noch einmal kurz auf zwei Bereiche einge hen, die Sie in Ihrer Einleitung auch schon angesprochen ha ben, Frau Ministerin. Ich meine den Bereich der individuel len Förderung und den der Vernetzung. Wir wollten mit der Enquete deshalb, weil man auch Gutes immer noch besser ma chen kann und soll, insbesondere auf die Herausforderungen, die uns in der Zukunft ins Haus stehen, bereits im Vorfeld frühzeitig, rechtzeitig eingehen. Ich darf an das Prognos-Gut achten erinnern, das uns bis zum Jahr 2030 einen Fachkräfte mangel von 500 000 Menschen prognostiziert. Allein die Hälf te davon sind Meister und Techniker. Das ist für uns als Ge sellschaft insgesamt und insbesondere auch für unsere Wirt schaft eine sehr große Herausforderung, der wir uns auch stel len wollen.
Wir müssen schon heute vor allem im Handwerk feststellen – das kam auch in den Stellungnahmen in der Enquete zum Aus druck –, dass die Betriebe Probleme haben, Auszubildende zu gewinnen, die sie für die Weiterführung ihrer Betriebe und die Ausübung ihrer Gewerke brauchen. Gleichzeitig wissen wir, dass die beruflichen Schulen die jungen Menschen, auch die leistungsschwächeren, besonders dann motivieren können, wenn wir über andere Formen der Lernmotivation an sie he rangehen.
Ich denke insbesondere auch an die Förderangebote, die Sie bereits angesprochen haben, auch an diejenigen, die außer schulisch mit einbezogen werden können.
Ich will aber auch noch einmal deutlich machen: Es geht nicht, dass wir die beruflichen Schulen sich selbst überlassen. Viel mehr sind da die Eltern, die Betriebe, die Gesellschaft insge samt gefordert und gefragt.
Sie haben vorhin darauf abgehoben, dass die individuelle För derung ein regulärer Bestandteil der Bildungsangebote an den beruflichen Schulen sein muss. Diese Auffassung teile ich vollinhaltlich. Ich will trotzdem noch zwei vertiefende Fra gen an Sie richten.
Zur Einführung der individuellen Unterstützungssysteme: Wir haben bereits heute eine ganze Reihe von unterstützenden Maßnahmen. Ich denke an die ausbildungsbegleitenden Hil fen. Vielleicht können Sie noch einmal konkretisieren, wie Sie diese Vertiefung, die Sie schon angesprochen haben, gerade für die Lernschwächeren in der konkreten Ausgestaltung vor sehen. Vielleicht haben Sie dazu auch schon eine zeitliche Vorstellung.