Protokoll der Sitzung vom 25.06.2008

Das Wort erteile ich Frau Abg. Rastätter.

(Abg. Alfred Winkler SPD: Jetzt ist es dort drüben aber ruhig!)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eingangs die Bildungsberichte im Bund und in Baden-Württemberg erwähnt. Viele Länder haben inzwischen aus dem Bundesbildungsbericht gelernt. Dieser Bericht enthält klare Fakten über das Bildungswesen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in Hamburg und Schleswig-Holstein aus der Krise des Systems und aus den Erkenntnissen des Bundesbildungsberichts gelernt wird, dann sehen wir, dass es auch möglich ist, ein Bildungswesen im Konsens mit den Parteien und mit der Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Wenn ich mir heute die Debatte anschaue, ist zu erkennen, dass Sie, Herr Kultusminister Rau, sich in der Festung „dreigliedriges Schulsystem, Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert“ so fest eingebunkert haben, dass Sie die Realität der sozialen Ungerechtigkeit dieses Systems nicht mehr erkennen können.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns einmal an, was heute in der Grundschule passiert. In der Grundschule gibt es Stress, Angst und Druck bei allen Beteiligten. Es ist doch kein gerechtes, kein humanes und kein zukunftsfähiges Bildungssystem, wenn Eltern und Kinder bereits in der dritten und vierten Klasse nicht mehr schlafen können und unter Druck stehen.

Wenn wir feststellen, dass die Auslese nach der Grundschule nicht nach Begabung, sondern nach sozialer Herkunft der Kinder erfolgt,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das stimmt doch wirklich nicht!)

wenn wir feststellen, dass wir in den Hauptschulen fast ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien haben, dann müssen wir doch auch feststellen, dass wir Probleme in unserem Bildungssystem haben, die nicht mit diesen traditionellen, überkommenen archaischen Strukturen aus dem vorletzten Jahrhundert gelöst werden können.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sagen: Über die Durchlässigkeit lässt sich dieses Problem in Baden-Württemberg lösen. Wenn Sie den Bildungsbericht des Landes Baden-Würt temberg anschauen, dann werden Sie feststellen, dass die Kinder mit Migrationshintergrund auch in den Schulen des beruflichen Schulwesens vornehmlich in den Schulformen Berufsvorbereitungsjahr und Berufsfachschule zu finden sind, aber nicht in den beruflichen Gymnasien und in den Berufskollegs, die zur Fachhochschulreife führen.

Das heißt konkret: Auch im Bereich des beruflichen Schulwesens bekommen wir die Bildungsgerechtigkeit, die wir brauchen, nicht hergestellt.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Wann ist die Bil- dungsgerechtigkeit Ihrer Meinung nach vollendet? Wenn alle Abitur haben?)

Schauen Sie sich unsere Schulen in Baden-Württemberg an. Wo sind die Lehrer und Lehrerinnen mit Migrationshintergrund? 33 % der Kinder unter 18 Jahren haben einen Migrationshintergrund. Wo sind die Lehrer und Lehrerinnen mit Migrationshintergrund? Warum gibt es die im Schulsystem nicht?

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Wozu brauchen wir die? Jeder kann Lehrer werden, der Lust dazu hat!)

Das hat etwas damit zu tun, dass diese Schüler und Schülerinnen trotz vorhandener Begabung – die Streuung der Begabung ist bei Kindern von Migranten die gleiche wie bei Kindern von Akademikern – überhaupt nicht oder nur in zu geringer Anzahl zum Abitur gebracht werden können. Sie bleiben im Bildungswesen sozial benachteiligt.

Herr Kollege und Kultusminister Rau, Sie haben vorhin festgestellt, Zugangsgerechtigkeit in einem Bildungswesen definiere sich dadurch, ob die Potenziale der jungen Menschen, ihre Talente und Begabungen ausgeschöpft werden. Wenn ein Bildungssystem daran gemessen wird, dann muss ich sagen: Baden-Württemberg hat ein Bildungssystem, das die Note Ungenügend verdient.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ha no! – Abg. Ste- fan Mappus CDU: Jetzt machen Sie bitte halblang, Frau Rastätter! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das nehmen Sie bitte zurück! Das muss sie bei Ge- legenheit wieder zurücknehmen!)

Denn die Bildungspotenziale von Jugendlichen mit Migrationshintergrund werden in diesem Schulsystem nicht geför

dert. Insofern Note Sechs für den Bereich Chancengerechtigkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Dr. Arnold.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich lehne es ab, mich hier wiederholt zu einer Strukturdebatte herausfordern zu lassen. Wir haben heute schon ausführlich gehört, wie erfolgreich unser Bildungssystem ist, und wir stehen dazu.

Ich möchte gern – ich habe es schon angekündigt – kurz drei Herausforderungen ansprechen, die auch Herr Schebesta in seinem Redebeitrag schon skizziert hat.

In einem Punkt, meine Damen und Herren, gebe ich Frau Merkel voll und ganz recht: Nur über die Bildung können wir unseren Wohlstand dauerhaft sichern. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: In hochentwickelten Volkswirtschaften wie der unsrigen in Baden-Württemberg sind die Humanressourcen wichtiger als das Sachkapital. Personenbezogene Dienstleistungen, Wissensberufe, Informationsberufe – all das erfordert neue und hohe Qualifikationen.

Außerdem: Die deutsche und damit auch die baden-württembergische Wirtschaft ist von den Wirtschaften aller Industriestaaten am intensivsten in den Weltmarkt eingebunden. Die Globalisierung zusammen mit dem technischen Fortschritt hat direkte Auswirkungen auf unser Bildungssystem. Diese Zusammenhänge verstärken die Notwendigkeit einer guten Erst ausbildung und eines permanenten Weiterlernens.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Die demografische Entwicklung, meine Damen und Herren, zwingt uns dazu, mehr Menschen als bisher für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren und für den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Bis 2030 wird die Bevölkerung in der Bundesrepublik von jetzt 82 Millionen auf 77 Millionen Einwohner schrumpfen. Eine Modellrechnung für das Jahr 2016 zeigt: Wenn wir nicht gegensteuern, ergibt sich bei den 25- und 26-Jährigen im Jahr 2016 ein Defizit von 400 000 Erwerbstätigen.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Um dieses Defizit auszugleichen, müsste der Anteil der Erwerbstätigen an den 25- und 26-Jährigen von derzeit 57 % auf 80 % steigen. Das bedeutet: Wenn wir für unsere Wirtschaft, für unsere Gesellschaft ausreichenden Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften bereithalten wollen, müssen wir mit unserem Bildungssystem alle Gruppen in unserer Gesellschaft erreichen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wissensbasierte Wirtschaft, Globalisierung, demografische Entwicklung: Um den von mir skizzierten Herausforderungen begegnen zu können, brauchen wir – das ist völlig richtig – auch die Bildungsreserven der jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Punkt 1.

Punkt 2: Wir brauchen möglichst viele junge Menschen mit einem mittleren Bildungsabschluss.

Punkt 3: Der Anteil der jungen Menschen mit Abitur, mit Hochschulreife, muss sich auch in unserem Land noch erhöhen.

Die Bildung und Ausbildung unserer Kinder und Enkel ist für die Zukunftsfähigkeit und den Wohlstand in Baden-Württemberg genauso wichtig wie eine moderne und europaweit vernetzte Verkehrsinfrastruktur, von der wir heute früh gesprochen haben. Dieser Erkenntnis müssen wir uns endlich stellen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Sie hat in unseren Augen ein Stück weit auch finanzielle Konsequenzen. Ich habe es in der Fraktion bereits mehrfach angesprochen: Ich wünsche mir mehr Ressourcen im Bildungsbereich. Herr Minister, Sie haben es vorsichtig angedeutet: Auch Sie erstreben ein neues Personalentwicklungskonzept. Da ich zu diesem Thema wohl ein bisschen freier reden kann, möchte ich Sie in diesem Bemühen hier nachdrücklich unterstützen.

Wir brauchen mehr und besser ausgebildete Erzieherinnen. Andernfalls erreichen wir unser großes Ziel nicht, jedes Kind zur Schulreife zu führen. Wir müssen den Kindern dabei die nötigen Sprachkenntnisse vermitteln; das ist in meinen Augen die wichtigste bildungspolitische Aufgabe in der nächsten Zeit.

Die Hauptschulen haben wir ein gutes Stück auf den Weg gebracht. Die entsprechenden finanziellen Mittel sind bereitgestellt worden; das müssen wir hier nicht weiter ausführen. Ganz wichtig ist jedoch auch, dass wir mit Blick auf die von mir skizzierten Probleme die individuelle Förderung – die inzwischen auch in den Hauptschulen viel eher möglich ist – auch für Realschulen und Gymnasien möglich machen. Angesichts der randvollen Klassen, die es in diesen beiden Schularten gibt, haben wir hier einen größeren Personalbedarf.

Woher nehmen und nicht stehlen? Natürlich ist für die FDP/ DVP die Haushaltskonsolidierung ein ganz wichtiges Ziel, an dem wir festhalten. Aber noch einmal: Es bedarf eines neuen Personalentwicklungskonzepts, verbunden gerade auch mit einer stärkeren individuellen Förderung der Schüler in Realschulen und Gymnasien.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: An allen Schular- ten!)

Natürlich. Die Hauptschule ist hier ja bereits auf einem guten Weg.

Hierzu ein paar Anregungen: Vielleicht – ich weiß, dass wir da dicke Bretter bohren müssen und dass ich damit auch ein heißes Eisen anfasse – ist ja eine Umschichtung zwischen den Ressorts möglich.

(Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Wenn ich von mehr Personalbedarf spreche, meine ich nicht automatisch mehr Lehrerstellen. Vielen Schulen wäre schon geholfen, wenn sie ein Personalbudget hätten, das sie in die

Lage versetzte, zusätzliches Betreuungspersonal einzukaufen.

Wir müssen uns auch überlegen, ob wir die ESF-Mittel noch mehr als bisher im Bildungsbereich einsetzen können. Wir haben das im Rahmen der Kompetenzanalyse der Hauptschule schon jetzt in gewissem Umfang leisten können. Vielleicht gibt es hier noch mehr Möglichkeiten, aus den Mitteln des Europäischen Strukturfonds Mittel in den Bildungsbereich umzuschichten.

Herr Rau, hier haben Sie unsere, auch meine vollste Unterstützung: Wir müssen uns ernsthaft überlegen, ob wir über die Legislaturperiode hinaus die frei werdenden Lehrerstellen so lange im System behalten, bis diese Aufgaben erfüllt sind. Das wäre auch eine sehr gute Perspektive, meine Damen und Herren, mit der wir im Wahljahr 2011 vor unsere Wählerinnen und Wähler treten könnten.

Ich sage abschließend: Wenn wir den Wohlstand in unserem Land halten wollen, wenn wir der Wirtschaft ausreichend qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stellen wollen, wenn wir auch das Bildungspotenzial der jungen Menschen mit Migrationshintergrund ausschöpfen wollen, dann brauchen wir mehr Ressourcen im Bildungsbereich. In diesem finanzpolitischen Sinn appelliere ich an Sie, Herr Ministerpräsident: Machen Sie tatsächlich die Bildungspolitik zur Chefsache in BadenWürttemberg.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP)