Protokoll der Sitzung vom 18.12.2008

Ein weiterer Punkt: Bildungspotenziale von Migranten aktivieren. Der von der Industrie- und Handelskammer herausgegebene Branchenatlas ermittelt einen Fachkräftemangel in Ba

den-Württemberg für das Jahr 2020 von 500 000 Personen. Das Problem ist nicht kurzfristig lösbar. Daher kann man elf Jahre vorher nicht mehr warten. Die Strategie heißt: Wir müssen die Bildungspotenziale der Migrantenkinder aktivieren. Das ist bisher vernachlässigt worden. Da liegt das größte Bildungspotenzial brach. Hier geht es um Weiterbildung, um schnellere Anerkennung von Abschlüssen von Migranten und um klare Verfahren zur Zertifizierung von Berufskompeten zen. Es geht um berufsbezogene Sprachkurse, es geht um Anpassungsqualifizierung.

(Beifall bei den Grünen)

In Deutschland leben eine halbe Million Akademiker und Akademikerinnen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind. Deren Abschlüsse werden in der Regel nicht anerkannt. Wenn wir hier vorankommen wollen, müssen wir von dieser abstrusen Haltung wegkommen, dass Akademiker einfach Putzfrauenstellen suchen müssen. Vielmehr müssen wir schauen, dass wir diese Menschen durch Anpassungsqualifizierung in den Wirtschaftsbereich hineinbekommen, der ihrer tatsächlichen Qualifikation entspricht. Dazu muss man endlich einmal die bürokratischen Hürden abbauen und etwas bei der Anpassungsqualifizierung tun. Dann tun wir wirklich etwas zur Absicherung des Fachkräftemangels in der Zukunft.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Günther-Martin Pauli CDU: Da hat er recht!)

Ein weiterer Punkt: intelligente Verkehrskonzepte. Ich höre jetzt nur die Forderung: mehr Straßenbau. Ich höre immer wieder Widerstand gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen.

(Zuruf des Abg. Michael Theurer FDP/DVP)

Offensichtlich sind Sie noch immer nicht von dem Glauben weggekommen: Nur dann, wenn Autos auf den Autobahnen auch schnell fahren können, kauft die Welt auch schnelle deutsche Autos. Man hat jetzt gesehen, dass das ein Irrtum und ein Irrglauben ist und dass in Zukunft nur umweltfreundliche Autos verkauft werden. Sie müssen so designt werden, dass sie sich in einem vernünftigen Geschwindigkeitsrahmen bewähren, denn überall auf der Welt gibt es Geschwindigkeitsbegrenzungen. Dann muss man nämlich nicht mehr so schwere und übermotorisierte Karossen bauen. Da können wir etwas tun.

Als Landesregierung sollten Sie nicht nur in Straßen investieren, sondern auch wieder in die Beschaffung von Bussen. Das hat der Kollege Schmiedel schon ausgeführt.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Schiene!)

Wenn Sie bei den Zuständen, die im Berufsverkehr herrschen – die Menschen müssen sich wie Ölsardinen in den Zügen drängen –, beim Regionalverkehr in der Lage sind, einen einzigen Zug neu zu bestellen, dann ist das wirklich nicht in den Wandel investiert. Damit treibt man die Leute weiter ins Auto und verstopft dadurch die Straßen. Sie wollen dieses Problem lösen, indem Sie noch mehr Straßen bauen.

(Beifall bei den Grünen – Zuruf von den Grünen: Bravo!)

Wie Sie sehen, ist der Bedarf an Wandel gewaltig. Deswegen will ich ein Fazit ziehen. Ich habe eine ganze Reihe von The

men des Wandels angesprochen, deren Dringlichkeit erläutert und die Finanzierungsmöglichkeiten, Herr Mappus, aufgezeigt. Ich möchte mit einem Zitat aus der „Schwäbischen Zeitung“ schließen, das das Ganze meines Erachtens sinngemäß zusammenfasst:

(Der Redner hält einen Artikel hoch.)

Noch nie war das Arktiseis so dünn wie in diesem Jahr. Es hätte auch heißen können: Noch nie war bei den Finanzmärkten das Eis dünner als in diesem Jahr. Es hätte auch heißen können: Noch nie war bei den Arbeitsplätzen das Eis dünner als in diesem Jahr.

Große Teile der Politik und der Wirtschaft haben die Dinge zu lange laufen lassen, haben zu lange auf das kurzfristige Tagesgeschäft geschaut und an den Quartalsgewinn gedacht, haben geglaubt, dass der Markt alles von allein regle und dass sich die Natur von selbst regeneriere.

Wir erkennen jetzt, dass wir vieles ändern müssen. Diese Änderungen kommen nicht von selbst, und sie werden Jahr für Jahr schwieriger. Das Jahr 2009 wird das Jahr sein, in dem sich in Kopenhagen der Klimaschutz weltweit entscheidet. Die Wissenschaftler sagen uns: Das Zeitfenster ist noch enger geworden, und die Aussichten sind noch dramatischer. Wir reichen Länder müssen eine Vorbildfunktion einnehmen. Wir müssen in diesen Wandel investieren. Wenn wir das nicht tun, werden nicht nur die Risikoschirme immer teurer, sondern wird auch das Eis tatsächlich immer dünner mit fatalen Folgen für unseren Globus und nicht nur für unsere Finanzmärk te und Banken. Das kann man dann nicht einfach durch einen Finanzgipfel wieder abstellen.

Das heißt, dass es um unsere Lebensgrundlagen geht, die gefährdet, die „konkursgefährdet“ sind. Der Klimawandel wartet nicht auf die nächste Konjunktur, im Gegenteil. Es geht darum, in diesen Wandel zu investieren. Die Investitionen stehen unter der Leitidee, immer darauf zu achten, ob sie den Klimawandel stoppen, verringern oder vorantreiben. Das wird die Jahrhundertfrage von uns allen sein. Da muss man nicht nur pessimistisch sein.

Der britische Ökonom Nicholas Stern hat uns dargelegt, dass wir 1 % des Bruttoweltprodukts brauchen, um nicht in eine Klimakatastrophe zu geraten. Das ist viel, aber das ist leistbar. Die Menschheit ist schließlich auch mit großen Anstrengungen auf dem Mond gelandet, obwohl man schon vorher wusste, dass der Mensch auf nichts anderem landen wird als auf einem toten Stein.

Herr Kollege Kretschmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme sofort zum Schluss. – Wir müssen da also dieselben Anstrengungen unternehmen. Machen wir es nicht, dann werden wir laut Nicholas Stern mindestens 5 % des Bruttoweltprodukts, vielleicht auch 20 % wegen der Schäden ausgeben müssen. Diese vier Prozentpunkte Differenz sind das Fenster der Hoffnung und des Optimismus, wenn wir tätig sind und in den Wandel investieren.

Die Krise ist entstanden, indem man spekuliert hat und auf schnelles Geld gehofft hat. Wir müssen auf Nachhaltigkeit und

auf Werte setzen. Nur dann kommen wir aus der Krise heraus. Dazu brauchen wir nicht den Rat von Ratingagenturen. Vielmehr müssen wir selbst nachdenken. Man braucht dazu nur eines: mehr Nachhaltigkeit im Hirn.

(Beifall bei den Grünen)

Für die FDP/DVP-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Dr. Noll das Wort.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute nach der Einbringung durch den Finanzminister einen Haushalt mit einer Dimension von gut 35 Milliarden €. Aufgrund der krisenhaften Zuspitzung der Lage geht es zudem um einen Betrag in der Größenordnung zwischen 650 und 700 Millionen €, was den Landesanteil betrifft. Der entsprechende Betrag hat möglicherweise ganz großen Vorrang. Das ist einfach der Krise geschuldet. Aber wir sollten die Struktur dieses Haushalts in seiner großen Dimension nicht völlig außer Acht lassen.

Es ist wahr: Als wir Mitte letzten Jahres in sehr intensiven Gesprächen mit der Aufstellung des Haushaltsplans begonnen haben und versucht haben, dem Haushalt die Struktur zu geben, in der wir ihn jetzt vorlegen, konnte niemand ahnen, dass sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 die wirtschaftlichen Perspektiven so sehr verschlechtern würden. Wer heute behauptet, er habe das volle Ausmaß und das Durchschlagen der Finanzmarktkrise auf unsere Wirtschaft schon damals erkannt, der lügt schlicht. Das konnte man damals nicht ahnen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Damals wurde noch von einem Wirtschaftswachstum in der Größenordnung von 1,2 % ausgegangen. Noch bei der Novembersteuerschätzung ist man von einem realen Wachstum in Höhe von 0,2 % ausgegangen. Auf dieser Basis beruhen die Ergebnisse der Steuerschätzung, die in den Haushalt eingearbeitet wurden.

Gegenwärtig, meine sehr geehrten Damen und Herren, schwan ken die Prognosen hinsichtlich eines Rückgangs der Wirtschaftsleistung – Rückgang, nicht mehr Wachstum – zwischen 0,8 %, wie es die Bundesbank für wahrscheinlich hält, und 4 % nach Auffassung des Chefvolkswirts der Deutschen Bank, Walter, was einer tief greifenden Wirtschaftskrise entsprä che.

Diese Vielstimmigkeit der Experten erinnert mich immer sehr an den Spruch von Karl Valentin: „Vorhersagen sollte man immer misstrauen, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.“

(Heiterkeit der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Genau!)

Ich glaube, ihr habt den Witz von Karl Valentin nicht ganz verstanden.

(Abg. Reinhold Gall SPD: Doch, doch! – Abg. Hei- derose Berroth FDP/DVP: Es wurde getestet, wer zu- hört!)

Hinterher sind alle Experten immer klüger. Dennoch ist eines klar – ohne Horrorszenarien an die Wand malen oder andererseits Dinge kleinreden zu wollen –: Gerade Baden-Württem

berg als exportabhängiges Land profitiert von guten konjunkturellen Phasen überproportional – es erzielt dabei ein überproportionales Wachstum –, ist jedoch in der Tat auch überproportional von Einbrüchen der Weltkonjunktur

(Abg. Reinhold Gall SPD: Genau!)

und der Konjunktur allgemein bedroht. Dessen sind wir uns wohl bewusst.

Trotzdem können wir den Entwurf des Haushaltsplans für 2009, mit dessen Beratung wir heute beginnen, auch nach Einarbeitung der bisher bekannten Steuerschätzungsdaten ohne neue Kreditaufnahme vorlegen. Ich glaube, wir sollten nicht müde werden, diesen Erfolg zu kommunizieren, ihn darzustellen und ein bisschen stolz darauf zu sein. Wir sollten aber auch erklären, warum wir am Ziel der Nullnettoneuverschuldung auch in Krisenzeiten so stark festhalten.

Manche meinen ja, wir würden dieses Ziel wie eine Monstranz vor uns hertragen. Nein, ich glaube, wie in der Wirtschaft ist auch in der Politik Psychologie ein entscheidender Faktor.

Als ich die Rede von Herrn Schmiedel heute gehört habe, hatte ich genau die Befürchtung: Wenn man vom Ziel der Nullnettoneuverschuldung abgeht, sind die Schleusen für neue Ausgaben offen, sind neuen Schulden Tür und Tor geöffnet.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das wollen wir nicht. Der Ministerpräsident musste sich zwar verabschieden, aber er kennt unsere Haltung zu diesem Thema: Das meinen wir auch, wenn es um das Thema LBBW geht. Ich kann es nur in Kürze sagen: Da ist noch nichts entschieden.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Sie wollten doch die Erbschaftsteuer abschaffen! 800 Millionen €! „Alle Schleusen offen“, dass ich nicht lache! – Gegenruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

Zur Erbschaftsteuer komme ich noch, verehrter Kollege Schmiedel. Herr Schmiedel, ich kann schon verstehen, warum Ihr Kollege Schmid uns auffordert, das Ziel der Nullnettoneuverschuldung aufzugeben. Dann hätten Sie einen doppelten Effekt. Sie könnten uns für eine nachlässige Haushaltspolitik und für ein Versagen in der Haushaltspolitik kritisieren und andererseits Ihr Füllhorn an zusätzlichen Ausgaben ausschütten. Beides wollen wir natürlich nicht. Deswegen halten wir an unserem Ziel fest.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Das war nur möglich, weil die Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen angesichts einer günstigen Einnahmeentwicklung 2007/2008 die Kraft besessen haben, im Gegensatz zum Bund und zu anderen Ländern Steuermehreinnahmen nicht unmittelbar in Ausgabeprogramme fließen zu lassen,

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

sondern Vorsorge zu treffen und Rücklagen zu bilden, die jetzt dazu beitragen, dass wir nicht nur den Haushalt ausgleichen

können, sondern trotz der schwierigen Rahmenbedingungen auch neue Akzente in den Bereichen Bildungspolitik und Kinderbetreuung setzen können.