Protokoll der Sitzung vom 22.04.2009

Deshalb ist übrigens ein Gedanke aufgetaucht, der beispielsweise beim großen europäischen Handwerkergipfel, der vor zwei Jahren hier in Stuttgart stattfand,

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Genau!)

eine große Rolle gespielt hat – Stichwort Small Business Act als europäisches Programm –, nämlich der Gedanke, an der Stellschraube Mehrwertsteuer noch einmal zu drehen, und zwar diesmal in Richtung Senkung. Hintergrund ist, dass wir damit natürlich auch erreichen können, ein Stück weit von dieser enormen Exportabhängigkeit, die wir haben, herunterzukommen und gewissermaßen ein zweites Standbein zu entwickeln, eine Alternative zur Industrie, zur Exportwirtschaft, und zwar in den Bereichen, die besonders arbeitsintensiv sind, die besonders lohnintensiv sind, aber natürlich auch in den Bereichen, in denen Arbeitsplätze vorhanden sind, die nicht ins Ausland exportiert werden können, die hier im Inland, in Baden-Württemberg verbleiben können. Ich nenne als Beispiele Tourismus und Handwerk; das sind typische Beispiele hierfür.

Ich plädiere sehr dafür, meine Damen und Herren, durch eine Absenkung der Mehrwertsteuer einen wichtigen Beitrag dazu zu leisten, dass diese wichtigen lohnintensiven Arbeitsplätze in Zukunft gehalten werden können und dass in diesem Bereich, in Handwerk, Mittelstand und Tourismus, ein zweites wichtiges Standbein in Baden-Württemberg entwickelt wird, auch um diese Abhängigkeit vom Export in Zukunft ein Stück weit abzumildern.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Karl-Wolf- gang Jägel CDU – Abg. Edith Sitzmann GRÜNE meldet sich.)

Jetzt kommt die Frage nach der Finanzierung. Ich sehe es meiner Kollegin Frau Sitzmann an, dass sie etwas zur Finanzierung fragen will. Ich werde Ihnen, Frau Sitzmann, die Frage gleich beantworten. Ich kenne Sie inzwischen so gut, dass ich weiß, was Sie fragen wollen.

(Heiterkeit der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Lassen Sie die Frage trotzdem zu?

Ich lasse diese Frage trotzdem zu. Ja, bitte.

Frau Kollegin Sitzmann, bitte.

Herr Minister, vielen Dank.

Ich wollte Sie gar nicht zur Finanzierung fragen, sondern ich wollte Sie Folgendes fragen: Wenn Sie dafür sind, dass man arbeitsintensive Branchen entlastet, warum setzen Sie dann

auf eine Mehrwertsteuerreduzierung für einzelne Branchen statt auf ein Modell, mit dem man die Sozialversicherungsbeiträge für alle im unteren Einkommensbereich absenkt, so, wie es die Grünen mit dem Progressivmodell fordern?

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Nein! Auf keinen Fall! – Gegenruf des Abg. Claus Schmiedel SPD: Lassen Sie ihn doch erst einmal antworten! Sie sind doch nicht der Minister!)

Die zweite Frage: Sie haben jetzt auch für das Handwerk eine Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes gefordert. Ist Ihnen bekannt, dass es nach dem Beschluss des Europäischen Rates gar nicht möglich ist, für das Handwerk insgesamt

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Die Franzo- sen machen es doch!)

die Mehrwertsteuer zu reduzieren? Das ist vielmehr nur für kleinere Reparaturleistungen – z. B. Fahrräder, Schuhe, Lederwaren –, für Friseure, das Gaststättengewerbe oder den Bereich Renovierung und Reparatur in Privatwohnungen möglich, nicht aber für das Handwerk allgemein.

Zur ersten Frage, Frau Kollegin: Über den Vorschlag, dass wir die Entlastung auch in Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge suchen sollten, sind wir uns einig.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Aber nicht in die- sem Modell!)

Nein, nein! – Auch auf Drängen dieses Hauses, auch der Liberalen, aber auch anderer – das will ich gern zugeben –, ist es z. B. gelungen, die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung von in der Vergangenheit 6,5 % auf jetzt 2,8 % abzusenken. Das war ein wichtiger Schritt. Den haben Sie auch immer mitgetragen.

Ich kann Ihnen nur sagen: Sie hätten eine wunderbare Möglichkeit, die Sozialversicherungsbeiträge in der Zukunft noch weiter abzusenken, wenn Sie den größten Unsinn, der je in dieser Republik veranstaltet worden ist, abschaffen würden, nämlich den Gesundheitsfonds.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Damit hätten Sie die beste Möglichkeit, die Sozialversicherungsbeiträge abzusenken.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Zum zweiten Punkt, zur Finanzierung: Ich verfalle nicht der Illusion, zu glauben, dass dieses strategische Ziel – so will ich es einmal nennen – eines zweiten Standbeins für extrem lohn intensive Dienstleistungen von heute auf morgen finanziert werden kann. Dass wir das Thema „Gastronomie und Hotellerie“ jetzt ein Stück weit herausgehoben haben – ohne das Handwerk zu vergessen –, hängt einfach damit zusammen, dass im Bereich „Hotellerie und Gastronomie“ eine Besonderheit gerade für Baden-Württemberg immer beachtet werden muss:

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Genau! Die La- ge!)

Wenn Sie sich die Schweiz, Österreich und Frankreich anschauen, sehen Sie, dass das exakt die drei Länder sind, die in Sachen Tourismus und Gastronomie natürlich starke Wettbewerber sind. Das sind dummerweise aber gerade auch die drei Länder, die an Baden-Württemberg angrenzen,

(Zurufe: Bayern!)

und hier zeigt sich eine ausgesprochene Wettbewerbsbenachteiligung: Die Mehrwertsteuer liegt in diesen drei Ländern im Augenblick zwischen 5 % und 10 %, während in BadenWürttemberg der Mehrwertsteuersatz 19 % beträgt. Hier muss von heute auf morgen eine Verbesserung kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Das hat etwas mit fairem Wettbewerb zu tun!)

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Nein, jetzt nicht. Nachher vielleicht noch einmal.

Ich möchte noch einmal kurz auf die Finanzierungsfrage eingehen. Wir sind keine Illusionisten, aber man muss einmal auf eines hinweisen, wenn es um die Finanzierung von solchen Dingen geht, auch im steuerlichen Bereich: Ich glaube schon, dass die Absenkung von Steuern gerade im Bereich der Mehrwertsteuer, aber auch in anderen Bereichen, etwa bei der Einkommensteuer, notwendig ist. Ich will nicht verlangen, dass von heute auf morgen eine totale Steuerreform kommt, etwa mit dem Ziel, dass es nur noch drei Stufen gibt oder dass das Steuersystem wesentlich unkomplizierter wird. Das ist alles notwendig, wird aber sicherlich nicht von heute auf morgen realisiert werden können. Aber zwei oder drei Dinge müssen wir unbedingt von heute auf morgen machen.

Erster Punkt: Ich war bisher immer der Meinung, dass das Thema Substanzbesteuerung der Vergangenheit angehört. Die letzte Substanzsteuer in Deutschland war die Gewerbekapitalsteuer, die vor fünf oder sechs Jahren in Deutschland abgeschafft worden ist. Das war die letzte Substanzsteuer. Da haben wir alle unisono gesagt: Substanzsteuern müssen abgeschafft werden, und zwar einfach deshalb, weil solche Steuern wie eben die Gewerbekapitalsteuer unabhängig davon gezahlt werden müssen, ob ein Unternehmen etwas verdient oder nichts verdient.

Jetzt haben wir im Grunde wieder eine neue Substanzsteuer eingeführt. Wenn wir Leasingraten oder Zinsen oder Pachten, also im Grunde Kosten, jetzt gewissermaßen in Gewinne umwandeln und bei der Erweiterung der Gewerbesteuer hinzurechnen, dann wird hier eine neue Substanzsteuer eingeführt, die insbesondere auch der mittelständischen Wirtschaft wehtut. Meine Forderung ist: Dieser Unfug muss so schnell wie möglich beseitigt werden. Erster Punkt.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Dr. Reinhard Löffler CDU – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Ja- wohl!)

Zweiter Punkt: Mir geht es nicht nur um den Mittelstand – natürlich geht es mir auch um mittelständische Unternehmen –, sondern mir geht es um die Mittelschicht.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Mittelschicht! Ge- nau!)

Mir geht es um diejenigen, die zwischen 40 000 € und 60 000 € im Jahr verdienen. Es geht um die Mittelschichtverdiener. Die sind in unserem Steuersystem mit der gerade in diesem Bereich steil ansteigenden Kurve besonders benachteiligt. Deswegen muss – wenn nicht vor der Wahl, dann aber auf jeden Fall nach der Wahl – diese Mittelschicht entlastet werden. Denn das sind die Leistungsträger dieser Gesellschaft.

(Beifall bei der FDP/DVP – Zurufe von der SPD)

Dritter Punkt: Jetzt werden Sie die Frage stellen: Nice to have, aber wie zu finanzieren? Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen, meine Damen und Herren: In den letzten drei bis vier Jahren, seit es diese ruhmreiche Große Koalition gibt,

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Nur neidisch!)

sind – ich glaube, Herr Kollege Theurer hat schon darauf hingewiesen – 19 Steuererhöhungen mit einem Gesamtvolumen von 180 Milliarden € durchgeführt worden.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Mehrbelastung!)

Mehrbelastung.

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Wenn wir von Ge- schenken reden!)

Dazu kam eine tolle konjunkturelle Situation, über die wir uns gefreut haben, die dazu geführt hat, dass noch einmal 180 Milliarden € an zusätzlichen, konjunkturbedingten Steuereinnahmen erzielt worden sind. Das war eine erkleckliche, stolze Summe von 300 bis 360 Milliarden € in diesen Jahren.

Wenn von diesen 360 Milliarden € jetzt u. a. auch ein Konjunkturpaket in der Größenordnung von 52 oder 50 Milliarden € geschnürt worden ist

(Abg. Claus Schmiedel SPD: 80!)

oder 80 Milliarden –, dann muss es möglich sein, dass bei wichtigen steuerpolitischen Maßnahmen von dieser großen Summe nicht nur homöopathische Dosen, sondern wesentlich größere Summen für Steuerentlastungen eingesetzt werden. Das wäre jedenfalls unser Ziel gewesen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Dringend notwendig!)