Protokoll der Sitzung vom 26.11.2009

Da wird es nicht ausreichen, wie immer wieder gefordert wird, ausschließlich auf die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte zu setzen. Es geht vielmehr darum, die Qualifikationspotenziale, die wir im Land bereits haben, besser als bisher zu nutzen, meine Damen und Herren.

Wir können es uns wirtschaftlich nicht länger leisten, dass bei uns Putzen mit Diplom an der Tagesordnung ist – ja, Putzen mit Diplom –, aber es geht auch um den Ingenieur, der Taxi fährt, oder die Lehrerin, die gerade einmal Hausaufgabenbetreuung machen darf. Gerade das Beispiel der Lehrerin oder des Lehrers zeigt, wie absurd die Situation ist. Denn auf der einen Seite hat die Landesregierung Werbekampagnen gestartet, um bundesweit Lehrerinnen und Lehrer an unsere Schulen in Baden-Württemberg zu locken,

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Mit Erfolg!)

und auf der anderen Seite haben wir hier Lehrerinnen und Lehrer, die keinen Job haben, die aber, wenn ihre gute Qualifizierung anerkannt würde, eine Bereicherung für unsere Schulen sein könnten. Sie könnten Vorbild sein, sie könnten gerade auch Kindern nicht deutscher Herkunft zeigen, dass es sich lohnt, sich anzustrengen, und dass man bei uns etwas erreichen kann. Leider ist bisher nichts passiert.

Viele Migrantinnen und Migranten, die vor ihrer Einreise nach Baden-Württemberg einen Hochschul- oder Ausbildungsabschluss erreicht haben, arbeiten bei uns also weit unter ihrer Qualifikation. Sie gelten als ungelernt und sind deshalb häufiger arbeitslos. Die Abschlüsse werden nicht anerkannt. Angebote, um diese Menschen für das weiterzuqualifizieren, was wir hier brauchen, fehlen. Wir wissen, dass ungefähr 500 000 Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland leben, die ausländische Abschlüsse haben, die jedoch hier nicht anerkannt werden.

Deshalb ist es höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass es einen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren gibt.

Da Sie alle den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP auf Bundesebene kennen, wissen Sie, dass es dort heißt:

In Deutschland leben viele Tausend qualifizierte Migranten, deren im Herkunftsland erworbene Bildungs-

und Berufsabschlüsse nicht oder nicht vollständig anerkannt werden. … Deshalb werden wir in Abstimmung mit den Ländern einen gesetzlichen Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren schaffen, …

(Beifall des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

Das ist gut und richtig, meine Damen und Herren. Wir erwarten von der CDU-FDP/DVP-Landesregierung, dass sie die Umsetzung engagiert mit vorantreibt.

Mehr als anachronistisch ist es ja, dass bei der Frage der Anerkennung nicht die Qualität der Ausbildung zählt, sondern die Herkunft.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Das ist eine Unterstel- lung!)

Zwei Absolventen derselben Fachschule – –

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Das ist eine Unterstel- lung!)

Nein, das ist keine Unterstellung;

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Natürlich!)

das sage ich Ihnen jetzt; Sie werden das sofort einsehen.

Zwei Absolventen derselben russischen Fachschule reisen nach Deutschland ein; der eine hat als Spätaussiedler einen Rechtsanspruch auf Anerkennung, sein Kollege mit dem gleichen Abschluss ist ein jüdischer Kontingentflüchtling, und seine Ausbildung wird nicht anerkannt, er wird als ungelernt eingestuft. Das ist traurig, meine Damen und Herren, das ist absurd. Deshalb müssen EU-Anerkennungsstandards endlich auch auf Drittstaatsangehörige ausgeweitet werden. Es ist Zeit zum Handeln.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den Grünen und des Abg. Nikolaos Sa- kellariou SPD)

Für die CDU-Fraktion erteile ich Frau Abg. Netzhammer das Wort.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Jetzt wird wieder zur Sache gesprochen!)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche, wieder zum Thema zurückzukommen, Frau Sitzmann.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Richtig! So ist es! – Abg. Edith Sitzmann GRÜNE: Das Thema haben wir bestimmt, Frau Netzhammer!)

Es ist richtig, dass das Thema Fachkräftemangel zwar aus den Schlagzeilen verschwunden ist, weil in der aktuellen globalen Wirtschaftskrise, die Baden-Württemberg besonders getroffen hat, die Unternehmen natürlich zunächst einmal bestrebt sind, ihre vorhandenen Fachkräfte so lange, wie es geht, zu halten, um für den Aufschwung nach der Krise gerüstet zu sein. Trotzdem müssen wir uns mit dem Thema Fachkräftemangel befassen, damit es nicht dazu kommt, dass die Un

ternehmen im Aufschwung wegen Fehlens qualifizierter Mitarbeiter ihre Wachstumsmöglichkeiten nicht ausschöpfen können.

Bezüglich des Fehlbedarfs bin ich Ihrer Meinung. Es gibt die Studie von Professor Rürup, der bis zum Jahr 2020 einen Mangel von 550 000 Fachkräften voraussagt – 180 000 akademische und 370 000 nicht akademische –, wobei in den MINT-Berufen leider von einem permanenten Mangel auszugehen ist.

Deshalb ist es sehr gut, dass die Unternehmen in BadenWürttemberg ihre anhaltend hohe Ausbildungsbereitschaft aufrechterhalten und dass sogar knapp 3 000 Unternehmen erstmals oder nach einer längeren Pause erneut in die Ausbildung eingestiegen sind. Dies zeigt, dass die Wirtschaft sehr wohl weiß: Die Auszubildenden von heute sind die Fachkräfte von morgen.

Vorausschauend handeln auch Landesregierung und Wirtschaft mit dem sogenannten MINT-Sofortprogramm. Dadurch erhalten 500 Hochschulabgänger der MINT-Fächer die Möglichkeit, in zukunftsträchtigen Forschungs- und Technologietransferprojekten ihre Qualifikationen zu erweitern, und werden damit von einer möglichen Abwanderung abgehalten. Dies ist in der jetzigen Situation genau das richtige Zeichen.

Außerdem müssen wir alles tun, um die Qualifizierungspotenziale der inländischen Arbeitnehmer optimal zu nutzen, die Weiterbildung älterer Arbeitnehmer zu steigern

(Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Sehr gut! – Beifall des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP)

und auch die Möglichkeit der Kurzarbeit wirklich zu nutzen, um in die Qualifizierung von Arbeitnehmern zu investieren.

Zum Qualifizierungspotenzial im Inland – da bin ich Ihrer Meinung, Frau Sitzmann – gehört auch die erleichterte Anerkennung ausländischer Qualifikationen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die bereits in Deutschland sind. Leider haben wir kein belastbares Zahlenmaterial, um wie viele Männer und Frauen es sich in welchen Berufen für welche Branchen handelt. Hier wäre es notwendig, genaue Daten zu erheben. Die Zahl von 500 000 Akademikerinnen und Akademikern ist eine Schätzung von Ihnen.

(Abg. Edith Sitzmann GRÜNE: In Deutschland!)

Genaues weiß man nicht.

Dass die Anerkennung ausländischer Qualifikationen nicht zufriedenstellend gelöst ist, Frau Sitzmann, ist unstrittig. Auch wir sind der Meinung, dass die Erschließung der mitgebrachten Qualifikationen von Migrantinnen und Migranten, von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern nicht nur dem Fachkräftemangel abhilft, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration darstellt. Frau Sitzmann, da sind wir Ihrer Meinung.

Zu Ihrem Pech hat die Politik den Handlungsbedarf erkannt. Auch die Landesregierung und die Bundesregierung haben ihn erkannt und sind bereits intensiv tätig. Sie haben den Kabinettsausschuss Integration angesprochen, der eine sehr seriöse Expertenanhörung durchgeführt hat. Sie haben den Ko

alitionsvertrag der Bundesregierung freundlicherweise gelesen und auch daraus zitiert. Denn der Bundesgesetzgeber ist hier ebenfalls gefordert; die Schaffung eines besseren Zugangs zum Arbeitsmarkt ist auch eine Bundesaufgabe.

Die Bundesagentur für Arbeit hat bereits seit Januar dieses Jahres – insofern hat auch die alte schwarz-rote Bundesregierung schon gehandelt – zwölf qualifizierte Anerkennungsberater im Einsatz – einen davon in Stuttgart –, die Betroffene beraten und durch das Anerkennungsverfahren begleiten. Es gibt inzwischen einen konkreten Beschlussvorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Anerkennungsverfahren“, der ganz konkrete Vorschläge an die Bundesregierung enthält, was zu tun ist.

Was müssen wir ändern? Erstens müssen wir die Regelung von Bewertungsverfahren vereinfachen und zweitens einen Rechtsanspruch auch für die Personen schaffen, die nicht EUBürger oder Spätaussiedler sind. Dabei wollen wir keine neue Bürokratie schaffen. Wir müssen flächendeckende Strukturen nutzen. Dies sind, wie auch im Berufsbildungsgesetz definiert, aus unserer Sicht die Kammern. Wir haben auch schon eine Einrichtung, die die Lotsenfunktion übernehmen kann, nämlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Wir sind der Meinung, dass es keine großzügige pauschale Anerkennung von Qualifikationen geben kann. Etikettenschwindel ist nicht hilfreich, weil die Wirtschaft dies nicht akzeptieren wird. Ausländische Berufsabschlüsse können nur dann als gleichwertig bescheinigt werden, wenn die erforderlichen Kompetenzen nachgewiesen werden. Ansonsten kann nur eine Teilanerkennung ausgesprochen werden. Nach- und Anpassungsqualifizierungen müssen erfolgen, wobei wir auch hier flächendeckend eine Struktur von Weiterbildungsträgern haben, die ihr Angebot erweitern können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind der Meinung, dass wir bezüglich der erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen auf einem sehr guten Weg sind, Frau Sitzmann, und nicht nur reden, sondern auch handeln. Der Antrag der Grünen einschließlich des Änderungsantrags hat sich deshalb aus unserer Sicht erledigt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Sehr gut! – Abg. Edith Sitzmann GRÜNE: Na!)

Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Sakellariou das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Grünen – das kann ich vorweg sagen – hat sich nicht erledigt. Wir werden ihn unterstützen, auch was den Beschlussteil angeht.

Ich will aber nicht außen vor lassen, dass das Problem erkannt ist und dass auch gehandelt wurde. Nichtsdestotrotz ist der Antrag wichtig gewesen. Es geht um ein wichtiges Thema. Auch die Zahlen, die wir bekommen haben, sind interessant.

Frau Netzhammer, Sie haben es gesagt: Zunächst einmal muss man anerkennen, dass es einen Fachkräftemangel gibt. In ferner Zukunft wird dieser Fachkräftemangel noch gravierender

werden. Das heißt, alles, was kommt, wird schwieriger. Wir müssen also schon jetzt die Weichen richtig stellen.

Wenn wir uns die Zahlen anschauen, die sich auch aus der Stellungnahme zu diesem Antrag ergeben haben, dann stellen wir in der Summe fest, dass 2,8 Millionen Menschen mit einem Berufsabschluss nach Deutschland eingereist sind und sich hier aufhalten. Das sind 2,8 Millionen Menschen, die von anderen Menschen ausgebildet wurden. Davon sind bundesweit 800 000 Menschen Akademiker, und unter ihnen sind 500 000 Akademiker, deren Abschlüsse nicht anerkannt werden. Wir haben 1,8 Millionen Personen, die im Ausland eine Berufsqualifizierung erworben haben. Das sind keine Akademiker, sondern sie haben eine hochwertige Berufsausbildung abgeschlossen. Wir haben nur 200 000 Personen ohne jegliche Qualifikation.