Protokoll der Sitzung vom 11.03.2010

Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der Intention zu. Allerdings – Frau Rastätter, das hatte ich Ihnen auch schon im Schulausschuss gesagt – findet § 84 nicht unsere Zustimmung. Unsere Zustimmung bedeutet also in diesem Fall eine modifizierte Zustimmung, weil wir in der Tat der Meinung sind, dass wir insgesamt das Sonderschulangebot erhalten sollten, weil Eltern erst dann tatsächlich ein Wahlrecht haben, wenn sie zwischen einer Regelschule und einer entsprechenden Sonderschule wählen können.

Entscheidend ist aber, meine Damen und Herren, dass die Regelschulen wirklich die Aufgabe erfüllen können, ein behindertes Kind entsprechend zu fördern. Es kann also nicht so sein, dass man den Eltern sagt: Ihr könnt das Kind entweder in eine entsprechende Sonderschule schicken oder in eine Regelschule, aber da bekommt es leider nicht die Förderung, die eigentlich notwendig wäre. Das darf nicht sein. In einer Regelschule muss vielmehr die Förderung gewährleistet werden, die ein Kind auch an einer Sonderschule hat.

Natürlich bedeutet das auch, dass wir die Lehreraus- und -fortbildung – ich sage dies an dieser Stelle ganz deutlich – entsprechend vorantreiben. Die Lehrerinnen und Lehrer – das gilt nicht nur für Sonderpädagogen, sondern genauso für die Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen – müssen auf die neue Situation vorbereitet werden.

Dass dies in der Praxis funktioniert, zeigen uns viele, viele Beispiele. Ich kann Ihnen – den Skeptikern, die sagen, so etwas könne nicht funktionieren – eine ganze Reihe von Beispielen mitgeben, damit Sie es nachlesen können, wenn Sie es mir nicht glauben wollen. Viele Studien, viele konkrete Berichte über inklusive Schulentwicklung belegen, dass so etwas nicht nur machbar ist, sondern auch sehr erfolgreich stattfinden kann.

Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir die entsprechenden Rahmenbedingungen einhalten. Für uns ist klar, dass dazu der zieldifferente Unterricht und infolgedessen auch die individuelle Förderung gehört. Auch gehört das Teamteaching dazu, in der Regel durch das Zwei-Klassenlehrer-Prinzip, mit der maximalen Zahl von 20 Kindern in einer Klasse.

Wir wissen auch, dass es nicht nur um eine Inklusionsklasse an einer Schule geht, sondern dass sich die Schule insgesamt verändern muss, dass das Schulklima sozusagen inklusiv sein muss. Solche Schulen gibt es inzwischen genügend.

Frau Ministerin, Sie können jetzt hier und heute ein neues Zeichen setzen. Wir wissen, dass es eine ganze Reihe von Schulen gibt, die beabsichtigen, diesen Weg zu gehen, die bisher aber von Ihrem Vorgänger aus nicht nachvollziehbaren Gründen keine Genehmigung hierfür erhalten haben.

In der Tat wäre es ein Neuanfang, ein neues Zeichen, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: „Solchen Schulen, die diesen Weg gehen wollen, werde ich die Chance einräumen und die entsprechenden Rahmenbedingungen geben.“ Das wäre in der Tat ein Fortschritt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich Frau Abg. Rastätter das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind dazu verpflichtet, die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in allen Bundesländern, also auch in Baden-Württemberg, umzusetzen.

(Abg. Dieter Hillebrand CDU: Selbstverständlich!)

Unser Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, § 24 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen,

(Abg. Dieter Hillebrand CDU: Das ist schon gesche- hen!)

indem wir in Baden-Württemberg ein inklusives Bildungssys tem schaffen.

(Beifall bei den Grünen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Hoffmann, wir haben unseren Gesetzentwurf seit Juni 2009 nicht in der Schub lade aufbewahrt,

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Sondern im Schrank! – Abg. Theresia Bauer GRÜNE: Dazu ist er viel zu gut!)

sondern wir sind mit unserem Gesetzentwurf vor Ort in die Schulen gegangen. Wir haben mit Eltern gesprochen, wir haben mit Schulleitern gesprochen, und wir haben im November 2009 eine große Anhörung im Landtag von Baden-Würt temberg durchgeführt, bei der wir 500 Teilnehmer hatten.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Keine von der CDU!)

Dabei gab es eine sehr intensive, konstruktive und auch kritische Diskussion. Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass vor allem diejenigen, die jetzt Vorbehalte haben und uns auffordern, langsamere Schritte zu machen, diejenigen sind, die schlechte Erfahrungen gemacht haben, weil unser Regelschulsystem in Baden-Württemberg bislang überhaupt nicht darauf ausgerichtet war, Kinder mit Behinderungen zieldifferent und optimal zu fördern.

Es sind die Ängste davor, dass die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an den allgemeinen Schulen nicht ausreichend gefördert werden. Deshalb muss es unser Ziel sein, die Regelschulen so auszugestalten, dass alle Kinder, deren Eltern den Wunsch haben, sie dort unterrichten zu lassen, die Rahmenbedingen bekommen, die sie brauchen.

(Beifall bei den Grünen sowie der Abg. Dr. Frank Mentrup und Katrin Altpeter SPD)

Wir brauchen vor allem die Rahmenbedingungen dafür, dass Kinder dort optimal unterrichtet werden können.

(Zuruf des Abg. Andreas Hoffmann CDU)

Herr Kollege Hoffmann, es ist auch kein Zufall, dass wir unseren Gesetzentwurf in die zweite Lesung eingebracht haben, nachdem der Expertenrat seine Empfehlungen vorgelegt hat. Denn genau darauf haben wir gewartet.

Eines muss ich jetzt deutlich machen: Selbst Sie sagen – auch Herr Staatssekretär Wacker hat das im Schulausschuss gesagt –, Ihnen gingen die Empfehlungen des Expertenrats nicht weit genug. Der Expertenrat schlägt vor, erst in eine langjährige Erprobungsphase einzutreten. Sie sagen – wie auch wir Grünen –: Wir brauchen keine jahrelangen Erprobungen mehr. Wir haben in Baden-Württemberg trotz restriktiver gesetzlicher Vorgaben sehr viele positive Erfahrungen mit Inklu sionsklassen gemacht.

Frau Kultusministerin, ich habe in der letzten Woche das ers te Gymnasium in Baden-Württemberg besucht, das Kinder mit körperlichen Behinderungen zieldifferent unterrichtet, nämlich das Anne-Frank-Gymnasium in Rheinau. Die zehn Kinder, die dort unterrichtet werden, haben keine Empfehlung für das Gymnasium, sondern sind körperbehinderte Kinder mit einem Förderbedarf in geistiger Entwicklung und im Förderbereich Lernen. Das gesamte Kollegium dieser Schule hat mir gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass der Unterricht dieser Kinder eine große Bereicherung sei und die Lehrkräfte viel von den Sonderpädagogen und auch von diesen Kindern gelernt hätten.

Das zeigt uns, dass auch in Gymnasien – von dieser Schulart hatten wir es bislang am wenigsten erwartet – inzwischen Lehrkräfte unterrichten, die bereit sind, sich für die Inklusion zu öffnen. Wir können also deutlich in Richtung Inklusion gehen und können dabei alle Schularten mitnehmen. Daher verlangen wir, dass alle Schularten in diesen Prozess eingebunden werden, auch und vor allem die Gymnasien. Denn mittlerweile gehen die meisten Schüler aufs Gymnasium.

(Beifall bei den Grünen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch immer aber bestehen hohe Hürden. Ich habe an Sie, Frau Kultusministerin Schick, seit Beginn Ihrer Amtszeit bereits zwei Abgeordnetenbriefe geschrieben und Ihnen darin Fälle geschildert, in denen neue inklusive Klassen scheitern, weil die Rahmenbedingungen vor Ort nicht stimmen. Wir haben also Handlungsbedarf hinsichtlich der Anpassung dieser Rahmenbedingungen; deshalb betone ich das hier noch einmal. Wir Grünen werden ein Eckpunktepapier vorlegen, mit dem wir die erforderlichen Rahmenbedingungen noch einmal definieren.

(Abg. Andreas Hoffmann CDU: Zu spät!)

Auf die Fragen, die Sie heute angesprochen haben, Herr Kollege Hoffmann, werden wir eine Antwort vorlegen.

Jetzt möchte ich noch etwas zu dem Punkt sagen, an dem wir die größten Unterschiede zu Ihnen haben. Sie kritisieren vor

allem – auch die SPD ist noch nicht so weit, diesen Weg mitzugehen –, dass wir sagen: Wir wollen die komplette Förderung der Kinder im Förderbereich Lernen und die weitgehende Förderung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung in die Regelschulen integrieren.

Sie selbst wissen – wenn Sie in eine Förderschule für Lernbehinderte gehen, sehen Sie das sofort –, dass es sich bei den Kindern, die diese Schulen besuchen, im Wesentlichen um Kinder handelt, die aus sozialen Gründen oder aufgrund ihres Migrationshintergrunds benachteiligt sind. Deren Eltern hatten in der Vergangenheit oftmals gar nicht die Möglichkeit, ihre Kinder in eine integrative Maßnahme zu bringen. Faktisch gibt es so gut wie keine Außenklassen von Schulen für lernbehinderte Kinder, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl fast 50 % der Kinder, die überhaupt eine Sonderschule besuchen, eine Förderschule für Lernbehinderte besuchen.

Ich orientiere mich an unserem Gesetzentwurf und an den beiden Sondervoten des Expertenrats. Frau Professorin MerzAtalik hat – so, wie wir als Grüne das auch vorsehen – empfohlen, dass die sonderpädagogische Förderung als Basisförderung an allen Schulen, mit der Grundschule beginnend, eingeführt werden soll. Mit einer solchen sonderpädagogischen Basisförderung können wir die Kinder mit individueller Begleitung, Unterstützung und sonderpädagogischer Förderung integrieren.

Es gibt übrigens eine Grundschule, die diesen Prozess in diesem Schuljahr bereits begonnen hat. Auch da wird also nicht bei Adam und Eva begonnen. Auch die Rektoren der Erziehungshilfeschulen sagen mir: Wenn wir die Förderung dieser Kinder an den Regelschulen optimal ausgestalteten, könnten wir mindestens 50 % der Kinder mit Behinderungen an Regelschulen unterrichten.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: 50 % sind aber nicht 100 %!)

Wir brauchen also nicht so zu tun, als könnte man den Förderbedarf beim Lernen nicht weitgehend auch in den allgemeinbildenden Schulen integrieren. Das wollen wir erreichen; das ist unser Ziel.

Für die anderen Kinder – das setzt unser Gesetzentwurf voraus; die Zahl der Kinder mit körperlichen bzw. geistigen Behinderungen oder mit Sinnesbeeinträchtigungen ist gar nicht so hoch – gilt das Rucksackprinzip. Diese Kinder nehmen auf Wunsch ihrer Eltern ihre Förderung mit an die Regelschule.

Der Punkt, an dem wir uns aber völlig einig sind, Frau Kultusministerin Schick, ist, dass wir die Sonderschulen als sonderpädagogische Beratungs-, Förder- und Bildungszentren erhalten wollen und dass diese Zentren als Kompetenzzentren auch die allgemeinbildenden Schulen unterstützen. Sie sollen sozusagen die Basisstation für die Sonderpädagogen sein.

(Glocke der Präsidentin)

Frau Abgeordnete, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Da haben wir eine große Übereinstimmung.

Ich meine also, an einigen Punkten sind wir nicht so weit voneinander entfernt. Aber, Herr Kollege Hoffmann, Sie werden verstehen, dass wir bei der Inklusion wieder eine Perspektive auftun, der Sie noch nicht folgen können.

(Oh-Rufe von der CDU – Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Ojemine!)

Wir sind jedoch davon überzeugt, dass Sie sich im Lauf der nächsten Jahre auch an dieser Stelle weiterbewegen werden.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU zu den Grünen: Da wird’s schon dunkel, da seid ihr nicht einmal aufge- standen, was Jugendpolitik angeht! – Glocke der Prä- sidentin)

Frau Abgeordnete, Sie sind dabei, Ihre Redezeit zu verdoppeln.