Deswegen muss hier – wir werden dies auch machen – eine Anpassung an diese veränderte Realität erfolgen.
Die Bertelsmann Stiftung hat jetzt eine Umfrage durchgeführt. Die Ergebnisse haben Sie sicherlich auch zur Kenntnis ge nommen: Zwei Drittel der Befragten in Baden-Württemberg monieren das frühe Aussortieren der Kinder. Sie aber sagen: „Das differenzierte Schulsystem muss bleiben.“ Die Haupt schule muss bleiben, obwohl sie eigentlich niemand mehr will.
Dann noch eines: Ich habe gestern in der Frankfurter Allge meinen Zeitung einen sehr guten Kommentar gelesen; den kann ich Ihnen zum Schluss nicht ersparen. Wahrscheinlich haben Sie ihn auch gelesen. Die Überschrift lautet: „Lebens lüge“.
(Abg. Dieter Hillebrand CDU: Nicht alles, was in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung steht, ist gut!)
Dieser Artikel bezieht sich darauf, dass auch in Baden-Würt temberg mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs die Hoch schulreife erlangt – die Hälfte! –, und zwar über berufliche oder allgemeine Gymnasien. Ich zitiere:
Hier offenbart sich die Leistungslüge nicht weniger Kon servativer: Man beklagte stets, die Haupt- und die Real schule würden schlechtgeredet, ist aber nie auf die Idee gekommen, im Falle entsprechender Leistungen und Leh rerempfehlungen die eigenen Kinder auf ebenjene Schu len zu lassen. Dass man ein mehrgliedriges, angeblich leistungsorientiertes System, das man selbst vehement for dert, auch vorleben muss – eine unerhörte Vorstellung für die selbsternannte Elite. Das Gymnasium ist die neue Ein heitsschule, welche die CDU jetzt in Nordrhein-Westfa len verhindert haben will.
Genau das ist der Punkt. Sie müssen endlich akzeptieren, dass sich die Welt und die Gesellschaft verändert haben
und dass die Anforderungen an individuelles Lernen auch im Mittelpunkt der Ausbildung stehen müssen. Heterogenität be steht heute an allen Schularten.
Deshalb brauchen wir dringend eine Reform und nicht eine Rückbesinnung auf Dinge, die heute nicht mehr haltbar sind.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Und jeder macht zukünftig das Abitur? Und dann soll jeder glücklich sein?)
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Jeder macht zu künftig Abitur, und dann sind alle glücklich?)
Sehr geehrter Herr Präsi dent, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man als Praktiker manchen Debatten hier zuhört, wundert man sich manchmal über zwei, drei Dinge.
Ich frage mich immer wieder: Was muss denn tatsächlich im Fokus unserer Auseinandersetzung stehen? Dabei möchte ich gar nicht in Abrede stellen, dass es in letzter Zeit mit den Re
formen, die noch von der Vorgängerregierung angeleiert wor den sind, Schritte in die richtige Richtung gibt.
Aber es ist, glaube ich, unbestritten: Wir haben tatsächlich ei nen starken Anpassungsdruck, dem wir alle uns unterwerfen müssen. Das gilt insbesondere auch für den Lehrerberuf.
Da geht es um Fachwissen, um Medien, um Methodik. Über haupt niemand stellt die Qualität der Ausbildung in Abrede, schon gar nicht im Hinblick auf die Gymnasien. Aber es gibt Anpassungsleistungen, die in allen Schularten vollzogen wer den müssen.
Allerdings müssen wir mit Blick auf die Praxis auch feststel len – das habe ich in letzter Zeit als Berufsschullehrer immer wieder erlebt –, dass Kinder allzu oft durch das Raster fallen, dass Defizite zu selten erkannt werden und dass keine konse quenten Schlüsse gezogen und keine geeigneten Maßnahmen ergriffen werden. Leider wird auch viel zu häufig § 90 des Schulgesetzes herangezogen, um über disziplinarische Maß nahmen ein Problem aus dem Weg zu räumen. Dieses Vorge hen nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ hat weit reichende Folgen. Es hat menschlich weitreichende Folgen, und es hat gesellschaftliche Folgen. Das sieht man, wenn man als Kommunalpolitiker die vorhin angesprochenen Kinder später als Leistungsempfänger im Sozialetat wiederfindet.
Folgerichtig haben Grüne und SPD, die die neue Landesre gierung bilden, an zentraler Stelle im Koalitionsvertrag ver einbart, der Lehrerbildung neue Impulse zu geben. Diagnos tik und individuell ausgerichtete Förderung müssen noch stär ker in den Fokus treten. Hochbegabung oder Symptome wie ADHS, LRS, Dyskalkulie müssen schneller und besser er kannt werden, und die richtigen Maßnahmen müssen ergrif fen werden. Denn wir müssen endlich – das ist meine volle Überzeugung – viel nachhaltiger unserer Verantwortung da für gerecht werden, dass kein Kind verloren geht.
Als Lehrkraft steht man häufig in einer Situation, in der man manches möglicherweise zu spät erkennt und mit einer Prob lematik konfrontiert wird, für die man nicht ausgebildet ist. Hier muss sich dringend etwas ändern. Zielgerichtete Förde rung ist die Aufgabe unserer Zeit. Sie muss eine zentrale Schlüsselkompetenz jeder Lehrkraft sein, und zwar unabhän gig vom späteren Einsatzort. Dies gilt für alle Schularten. Wir müssen meines Erachtens viel stärker auf die jeweilige Alters stufe der Schülerinnen und Schüler eingehen. So stellen Kin der im Grundschulalter andere Anforderungen als Jugendli che in der Pubertät. Der Blick auf die Altersstufe gilt unab hängig davon, ob die Schüler in der Hauptschule, in der Re alschule oder im Gymnasium sind.
Belastungen treten nicht zuletzt auch infolge sozialer Stress situationen auf. Da haben wir als Lehrkräfte zurzeit das aus zubaden, was in der Vergangenheit versäumt wurde. G-8Druck, Perspektivlosigkeit von Hauptschülern oder auch über volle Realschulen haben hier Spuren hinterlassen.
Deswegen hat sich die neue Landesregierung zum Ziel ge setzt, strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Auch hier wird im Rahmen der Lehrerausbildung reagiert werden müs sen.
Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Stichworte für Aufga ben, die wir abzuarbeiten haben, etwa die Evaluationskompe tenz oder das nachhaltige Vorbeugen, damit es nicht zu Pra xisschocks kommt. Praktika sind zwar ein wichtiges Moment, aber wir werden hier auch noch darüber diskutieren müssen, wie viel Zeit während des Studiums hierfür investiert werden muss.
Die neue Landesregierung hat einen hohen Anspruch. Es geht um eine neue Lehr- und Lernkultur, um eine deutliche Profes sionalisierung der individuellen Förderung. Dies wollen wir in enger Zusammenarbeit mit den Hochschulen, den Gewerk schaften und den Verbänden angehen. Unser Schulwesen wird neue Impulse erfahren. Ich habe mich sehr gefreut, dass mitt lerweile selbst die CDU in Nordrhein-Westfalen bereit ist, neue Ansätze mitzuverfolgen, denn das ist der richtige Schritt heraus aus der Ideologie.
Genau das hat mich hier als jemanden, der neu in ein Parla ment kommt und Erwartungen an eine Diskussionskultur und an eine Kultur der Zusammenarbeit hat, in letzter Zeit am meisten gestört: Der ideologische Kampfbegriff des Einheits lehrers hilft an dieser Stelle nicht nur nicht weiter, sondern er ist auch Ausdruck einer völligen Fehleinschätzung des Berufs Lehrer.
Denn Lehrkraft zu sein bedeutet per se, Vielfalt zu praktizie ren – im Inhalt, im Umgang mit Menschen, in der Vielzahl der zu beherrschenden Methoden. Die Illusion, dass unterschied liche Schularten zu homogenen Schülergruppen führen, kann Ihnen jeder Praktiker und können Ihnen vor allem auch die wissenschaftlichen Ergebnisse nehmen. Nicht wir, sondern Sie werfen alle in einen Topf und vernachlässigen völlig die pädagogische Realität. Das ist meines Erachtens auch ein Aus druck mangelnder Wertschätzung. Wir empfinden diese Wert schätzung und werden diesen wunderbaren Beruf weiterent wickeln, und die Qualität und das Kind werden weiterhin im Mittelpunkt stehen.
(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Georg Wacker CDU: Am Anfang Ihrer Rede waren Sie gut, dann ging es bergab!)
Herr Präsident, meine sehr verehrten Da men und Herren! Ja, es geht uns darum – da sind Frau Kolle gin Bauer und ich uns absolut einig –, den Lehrerberuf sowie die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land weiterzuentwickeln. Das ist nichts Neues. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Kurtz, dass Sie gerade betont haben, dass wir im Grunde genommen alle gemeinsam erkannt haben, dass sich die Welt verändert hat, dass sich die Anforderungen für Schülerinnen und Schüler verändert haben
und dass wir deshalb die Lehr- und Lernkultur an den Schu len weiterentwickeln wollen und die Lehrerinnen und Lehrer mit einer verbesserten Ausbildung unterstützen wollen. Ich denke, in dieser Frage sind wir uns glücklicherweise einig.
Ja, ich habe gleich an meinem zweiten Amtstag die gemein same Prüfungsordnung für die Ausbildung der Realschul-, der Werkrealschul- und der Hauptschullehrerinnen und -lehrer un terschrieben, weil diese schon der erste Schritt in die richtige Richtung ist. Wir haben in dieser Prüfungsordnung zwar aus meiner Sicht nicht das Optimum festgeschrieben, aber es geht schon um eine deutlich stärkere Betonung der praktischen Ori entierung im Hinblick auf den Lehrerberuf, und es ist schon der richtige Schritt hin zu einer Loslösung von den Schular ten, indem wir die Ausbildung für verschiedene Schularten einfach zusammengefasst haben.
Worum geht es? Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die ausreichend Praxisorientierung haben und die sich sicher sind, dass sie den richtigen Beruf gewählt haben. Denn nur Lehre rinnen und Lehrer, die wissen, dass sie das wirklich wollen, können letztlich auch gute Lehrerinnen und Lehrer sein. Wir brauchen Lehrer, die eine ausreichende didaktische und fach wissenschaftliche Ausbildung haben. Auch in dieser Frage, denke ich, sind wir uns einig.
Mir sagen die Absolventinnen und Absolventen, die ich bis her getroffen habe – ich bin sehr dankbar für die Schilderung der Praxis –: Es reicht nicht aus, was wir lernen, insbesonde re in der Gymnasiallehrerausbildung.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ich höre anderes! – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Bei uns gibt es auch Praktiker!)
Ich bin in diesem Amt auch noch ein Stück weit Lernende. Ich höre den Leuten sehr aufmerksam zu. Sie sagen mir: „Wir brauchen gerade in der Gymnasiallehrerausbildung eine bes sere praktische Orientierung. Wir finden unsere fachliche Aus bildung gut; die wollen wir auch nicht missen. Aber wir brau chen mehr Didaktik und mehr Unterrichtsgestaltung in unse ren Ausbildungsgängen.“
Wie wollen wir das hinbekommen? Es geht doch beileibe nicht darum, die Universitäten, die Pädagogischen Hochschu len oder die Studienseminare gegeneinander auszuspielen.