Protokoll der Sitzung vom 29.10.2015

„Ende oder Wende“, geschrieben 1974. Ich habe es 1979 in die Hände bekommen. Ich kann Ihnen sagen: Damals stand genau das drin, was wir heute erleben. 1974 hat Erhard Epp ler geschrieben, was heute passieren wird und was jetzt ein getreten ist. Deswegen ist es so schlimm, dass wir im selben Atemzug, in dem wir über Transitzonen fabulieren, die Mit tel für die Ernährungshilfe von 2014 bis 2015 in erheblichem Umfang heruntergeschraubt haben.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Ich lese Ihnen die Zahlen vor: minus 100 %, minus 51 %, mi nus 25 %, minus 54 %. Wir haben die Ernährungshilfe gestri chen, und die Menschen sind zu uns gekommen, und nun spre chen wir über Transitzonen, anstatt Lösungen zu präsentieren.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Zuruf von der CDU: Heißt das, dass der Vorschlag des Innenminis ters falsch war?)

Für die Landesregierung erteile ich Herrn Innenminister Gall das Wort.

Herr Präsident, werte Kolle ginnen, werte Kollegen! Obwohl ich wusste, von wem dieser Tagesordnungspunkt beantragt wurde und wer von der FDP/ DVP ans Rednerpult gehen würde, hatte ich mir doch erhofft, dass das Niveau der Diskussion ein anderes sein wird

(Abg. Peter Hauk CDU: So ein Sermon! – Zuruf von der CDU: Das kann man nicht mehr hören!)

als das, was Herr Rülke angeschlagen hat.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Jetzt sind wir auf je den Fall am Tiefpunkt der Debatte! – Gegenruf der Abg. Muhterem Aras GRÜNE)

Wenn wir uns darüber einig sind – diesen Eindruck habe ich jedenfalls –, dass wir eine enorme Herausforderung zu bewäl tigen haben und all jene, die sich dies zu eigen machen, auch bereit sind, der daraus resultierenden Verantwortung gerecht zu werden, dann haben wir eine gemeinsame Basis. Aber, Herr Dr. Rülke, Sie haben heute Morgen wieder etwas getan, was

ich nicht als verantwortungsvoll empfinde. Sie haben nämlich wieder das getan, was Sie in den zurückliegenden Wochen und Monaten häufig getan haben, nämlich Sprechblasen pro duziert und damit in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, dass Sprechblasen eine vernünftige Antwort auf die drängen den Fragen und Probleme wären. Meines Erachtens sind sie das aber nicht.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zurufe der Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke und Dr. Timm Kern FDP/DVP)

Deshalb beschäftige ich mich beispielsweise auch nicht mit dem Zitat der letzten Wochen, sondern wir beschäftigen uns sehr intensiv damit, wie wir mit der gegenwärtigen Situation umgehen, und wir bemühen uns auf einer breiten Basis dar um, die entsprechenden Antworten zu finden, um, wie gesagt, den Herausforderungen zu begegnen.

(Zuruf des Abg. Helmut Walter Rüeck CDU)

Mit „wir“ meine ich all diejenigen, die Verantwortung tragen: die Landesregierung mit vielen Unterstützern in der Gesell schaft, in der Öffentlichkeit, in den Kommunen bis hinein ins Ehrenamt. Wir tragen dafür Sorge, dass wir unserer Pflicht ge nügen, wenn es darum geht, die Menschen, die in Deutsch land Zuflucht suchen, menschenwürdig unterzubringen und sie entsprechend zu versorgen. Wir müssen jene, bei denen wir uns, glaube ich, in der breiten Mehrheit einig sind, dass sie in den kommenden Monaten und Jahren ein Bleiberecht in Deutschland haben werden, so gut es irgend geht, integrie ren.

Auf der anderen Seite müssen wir aber auch Verantwortung übernehmen – dafür haben wir, die Landesregierung, in den zurückliegenden Wochen, denke ich, beredte Beispiele abge liefert –, was das Thema Rückführung jener betrifft, die kei ne Bleibeaussicht in Deutschland, in Baden-Württemberg ha ben. Dies wurde gerade zitiert. Dazu hat der Bundesinnenmi nister ausdrücklich erklärt, dass sich Baden-Württemberg diesbezüglich geradezu vorbildhaft aufgestellt habe.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Lachen des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Meine Damen und Herren, es ist in der Tat so – da habe ich keinen Grund, meine bisherige Meinung zu verändern –: Das System der Außengrenzen der Europäischen Union ist notlei dend, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Das Schen gen-System droht auseinanderzufallen. Deshalb kommt es da rauf an, dass die Europäische Union hierauf Antworten findet. Aber wenn Sie glauben, dass dies im Landtag von BadenWürttemberg gelöst werden könnte, dann sind Sie meines Er achtens auf dem falschen Boot unterwegs. Es kommt darauf an – deshalb verstehe ich die Kritik am Ministerpräsidenten auch überhaupt nicht –,

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Das ist ja euer Problem!)

dass die Länder als Teil der Bundesrepublik Deutschland der Kanzlerin den Rücken stärken. Wenn man nämlich beobach tet, wie diskutiert wird und welche Ansichten bestehen – ich war letzte Woche beispielsweise in Tschechien unterwegs –, dann weiß man, welch schweren Stand die Bundesrepublik

innerhalb der Europäischen Union gerade hat. Deshalb hat sie ganz einfach Rückendeckung verdient und keine Kritik, wie von Ihnen heute geäußert.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Damit dürften auch die Damen und Herren von der CDU ein verstanden sein.

Es geht darum, eine geregelte Aufnahme von Asylsuchenden und eine zügige Bearbeitung von Asylverfahren sicherzustel len. Dies alles ist – das wissen wir, glaube ich, alle – unter den gegebenen Umständen, dass der Zustrom bislang eben nicht nachgelassen hat und in den letzten 24 Stunden 1 600 Men schen in Baden-Württemberg angekommen sind und tagtäg lich im Schnitt 1 050 Menschen in Baden-Württemberg an kommen, nicht einfach zu bewältigen, und es bedarf einer gro ßen Kraftanstrengung aller. Deshalb ist es zwingend notwen dig – das ist überhaupt keine Frage –, dass die getroffenen ge setzlichen Maßnahmen auf der Bundesebene im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes jetzt umgesetzt wer den.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Herr Minister, wir sind noch bei TOP 1, Sie reden schon zu TOP 2!)

Sie stellen einen Beitrag dazu dar, den Flüchtlingszustrom strukturell zu steuern. Ohne diese Maßnahmen wird all das noch problematischer, wie ich bereits angedeutet hatte. Das trifft – –

(Glocke des Präsidenten)

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abg. Pröfrock?

Herr Pröfrock, lassen Sie mich doch erst einmal ausführen. Sie erwarten doch auch ein paar Antworten und Stellungnahmen zu dem Antrag, der gestellt worden ist.

(Zurufe von der CDU)

Also nein?

Nein. – Ich will in erster Li nie sagen: Was es an diesen Maßnahmen, die wir umsetzen, zu kritisieren gibt, ist mir völlig schleierhaft. Sie dienen in ers ter Linie – –

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das ist Ihr Problem!)

Warten Sie doch mal ab, Herr Rülke, bevor Sie immer da zwischenquatschen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD – Abg. Peter Hauk CDU: Fangen Sie doch mal an! – Zuruf des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Diese Maßnahmen dienen in erster Linie den Asylsuchenden, die einen eindeutigen Schutz benötigen. Darüber soll es doch überhaupt keine Diskussion geben. Zu gewährleisten, dass die Menschen, die nach unseren Asylgesetzen die Möglichkeit da zu haben, in Deutschland – jedenfalls vorübergehend und manche auch langfristig – Schutz finden, diese Aufgabe be werkstelligen wir gerade auch durch die Änderungen und die

gesetzlichen Maßnahmen, die auf den Weg gebracht worden sind. Was Sie daran zu kritisieren haben, das bleibt mir schlei erhaft,

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Das ist Ihr Problem!)

und bisher haben Sie es auch nicht erklären können. – Sind Sie denn dagegen, dass wir dies tun? – Ja, eben.

Deshalb – das ist die Kehrseite der Medaille, wenn man so will – werden wir natürlich auch die Maßnahmen umsetzen, die darauf hinwirken, dass den Menschen, die keine Bleibe chance und -möglichkeit haben,

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Darum geht es!)

dies auch deutlich gemacht wird. Dies tun wir ebenfalls auf der Grundlage dessen, was auf der Bundesebene mit den Län dern gemeinsam beschlossen worden ist, indem wir nämlich – dabei beraten wir sie entsprechend; das wird ein großes Au genmerk unserer zukünftigen Arbeit sein – diesen Menschen die Perspektivlosigkeit ihres Unterfangens deutlich machen und sie dazu bewegen, möglichst freiwillig in ihre Herkunfts länder zurückzukehren. Wir machen sie aber nicht nur darauf aufmerksam, wir machen ihnen nicht nur ihre Situation deut lich, sondern wir reichen ihnen auch die Hand. Wir unterstüt zen sie bei der freiwilligen Rückkehr in ihre Herkunftsländer. Dies wird mindestens den gleichen Aufwand erfordern wie je nen, der notwendig ist, um Menschen – so sage ich einmal – zwangsweise in ihre Heimatländer zurückzuführen. Was Sie daran zu kritisieren haben, ist mir völlig schleierhaft.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Meine Damen und Herren, nun zum Kern Ihres Antrags, zu dem sogenannten Landgrenzverfahren – so will ich es einmal nennen, da bisher niemand die Begriffe „Transitzonen“ und „Transitzentren“ sauber definiert hat, weder der Bund noch die Länder, übrigens auch Sie nicht. Auch Sie haben nicht deutlich gemacht, was Sie sich darunter eigentlich vorstellen.

Inwieweit das sogenannte Landgrenzverfahren geeignet sein wird, die Aufgaben, die auf der europäischen Ebene gelöst werden müssen, umzusetzen, das wissen wir nicht. Diesbe züglich gibt es keine Erfahrungen. Bayern beispielsweise hat gegenwärtig gerade auch zwei – sie nennen dies, glaube ich, so – Aufnahme- und Rückführungszentren in Manching und in Bamberg. Auch dort ist bisher nicht belegt, dass diese Ein richtungen am Ende des Tages so, wie von Bayern gedacht, funktionieren.

(Abg. Winfried Mack CDU: Waren Sie schon dort?)

Mein Signal – das bleibt bestehen – ist, dass wir Überlegun gen gegenüber aufgeschlossen sind, dass ich Überlegungen gegenüber aufgeschlossen bin, die dazu beitragen können, die se Verfahren zu beschleunigen und Rückführungen zügiger und zeitiger umzusetzen, als dies gegenwärtig der Fall ist.

Ich sage Ihnen aber auf jeden Fall klar und deutlich: Mit den Maßnahmen, die wir jetzt in die Wege leiten – – Ich habe – das ist, denke ich, zwischenzeitlich bekannt – eine Arbeits gruppe in meinem Haus eingerichtet. Diese wird sich morgen

noch einmal vollumfänglich mit allen Beteiligten zusammen setzen und das Für und Wider sowie die Vor- und Nachteile abwägen. Denn nicht jeder Vorschlag taugt am Ende wirklich etwas. Vorschläge sind dazu da, dass sie erörtert, diskutiert, gewichtet, bewertet werden und dann entschieden wird, was tatsächlich umgesetzt wird.

(Zuruf von der CDU)

Damit werden wir dazu beitragen, diese Prozesse und diese Verfahren entsprechend zu beschleunigen. Ob damit eine Si gnalwirkung an jene verbunden werden kann, die bisher über das Asylrecht eine bessere Zukunft in Deutschland suchen, aber aus Ländern kommen, die jetzt zu den sicheren Her kunftsstaaten zählen, das bleibt abzuwarten.