Protokoll der Sitzung vom 09.11.2011

SPD: Katrin Altpeter, Christoph Bayer, Sascha Binder, Wolfgang Drex ler, Dr. Stefan Fulst-Blei, Thomas Funk, Reinhold Gall, Gernot Gruber, Hans-Martin Haller, Rita Haller-Haid, Walter Heiler, Rainer Hinderer, Peter Hofelich, Klaus Käppeler, Gerhard Kleinböck, Ernst Kopp, Klaus Maier, Dr. Frank Mentrup, Georg Nelius, Thomas Reusch-Frey, Martin Rivoir, Gabi Rolland, Ingo Rust, Nikolaos Sakellariou, Dr. Nils Schmid, Claus Schmiedel, Johannes Stober, Andreas Stoch, Hans-Peter Storz, Florian Wahl, Alfred Winkler, Sabine Wölfle.

Der Stimme e n t h a l t e n hat sich:

CDU: Dr. Reinhard Löffler.

Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:

Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion GRÜNE, der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP und Stellungnahme des Staatsministeriums – Förderung der Gedenkstätten zur Erinnerung an die Verbrechen des Na tionalsozialismus in Baden-Württemberg – Drucksache 15/354

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich unterhal ten wollen, tun Sie dies bitte außerhalb des Plenarsaals. Ge rade bei diesem Tagesordnungspunkt sollte im Plenarsaal mehr Ruhe herrschen als beim vorherigen Punkt.

Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Be gründung fünf Minuten, für die Aussprache fünf Minuten je Fraktion. Offensichtlich bestand die Absprache, dass zur Be gründung nur ein Abgeordneter für alle vier Fraktionen reden soll. Davon ist wohl abgegangen worden, sodass nun vier Fraktionen den Antrag begründen. Insofern werden wir die fünf Minuten Redezeit für die Begründung anteilig jedem Fraktionsredner zuschlagen. Damit sind Sie sicherlich einver standen.

Für die CDU-Fraktion erhält Herr Abg. Hitzler das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, mei ne Damen und Herren! Die Gedenkstätten im Land sind Teil der politischen Kultur. Die Erinnerung an die Unterdrückung, an die Verfolgung und an die Ermordung von Menschen un ter der Herrschaft des Nationalsozialismus ist ein wesentli cher Bestandteil unserer politischen Kultur.

Orte, die sich mit diesen Geschehnissen verbinden, eignen sich in besonderer Weise, um Einsicht und Wissen zu vermit teln. Sie bieten Raum für Trauer, zum Gedenken und zum Nachdenken. Das Erinnern an Widerstand und Verweigerung gegenüber dem nationalsozialistischen Verbrecherregime ist unverzichtbarer Teil der Erziehung zur Achtung der Men schenwürde, zu Demokratie und Zivilcourage.

Täglich sterben auch Zeitzeugen, die das mitgemacht haben. Deshalb ist es umso wichtiger, hier am Ball zu bleiben.

Um dies leisten zu können, verfügen die Gedenkstätten auch über eine geschichtswissenschaftliche Grundlage sowie ein pädagogisches Konzept und bieten Betreuung durch kundiges Personal.

Deshalb hat der Landtag bereits im Jahr 1995 beschlossen, die Gedenkstättenarbeit in Baden-Württemberg zu fördern. Hier zu wurde in der damit beauftragten Landeszentrale für politi sche Bildung der Fachbereich Gedenkstättenarbeit eingerich tet. Er fördert die Arbeit der Gedenkstätten und Gedenkstät teninitiativen in Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsge meinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen in Baden-Württemberg.

Die Gedenkstätten leisten durch die Erforschung der Orts- und Landesgeschichte historische Grundlagenarbeit. Mit Doku mentationen, Archivalien, Ausstellungen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur politischen Kultur des Landes.

Die Arbeit in den Gedenkstätten wird noch weitgehend ehren amtlich durch bürgerschaftliches Engagement geleistet, was besonders löblich ist.

Nun haben uns die im Ehrenamt Tätigen zu Recht darauf hin gewiesen, dass die finanzielle Förderung in diesem Bereich seit 16 Jahren unverändert ist. Seitdem hat sich die Zahl der Gedenkstätten jedoch verdreifacht; mittlerweile sind es 62. Dies hat sicherlich auch die vier Fraktionen bewogen, zusam men mit dem Staatsministerium jetzt für eine Erhöhung der Zuwendungen einzutreten. Deshalb wollen wir den entspre chenden Haushaltsansatz auf 300 000 € erhöhen. Dies ist si cherlich ein guter Tag für die Gedenkstätten und alle dort Tä tigen.

Lassen Sie mich aber am Rande noch etwas erwähnen, was unserer Fraktion missfällt. Die Georg-Elser-Initiative Mün chen – nicht Stuttgart, nicht Heidenheim – hat beschlossen, Herrn Dietrich Wagner, der im Schlossgarten verletzt wurde, den Elser-Preis zu verleihen. Darin sieht meine Fraktion eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Georg Elser hat gegen einen Diktator und ein Unrechtsregime gekämpft. Wagner protestierte gegen ein demokratisch legiti miertes Bauprojekt. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

(Beifall bei der CDU – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Sehr gut! – Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Sehr richtig!)

Mein Großvater, ein gestandener Sozialdemokrat, ist mitsamt Freunden im Zusammenhang mit Georg Elser von der Gesta po verhört worden. Er würde sich im Grab umdrehen ange sichts der Preisverleihung an Herrn Wagner. Dies aber nur am Rande.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Das ist völlig de platziert!)

Insgesamt stelle ich fest: Die CDU-Fraktion und auch das gan ze Parlament stehen zu den Gedenkstätten, und wir danken al len, die hier ehrenamtlich tätig sind und der politischen Kul tur in unserem Land dienen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Für die Fraktion GRÜ NE erteile ich Herrn Abg. Manfred Kern das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! 9. November – ein Datum, das wie fast kein an deres als Schicksalsdatum der Deutschen in die Geschichts bücher eingegangen ist: Novemberrevolution 1918, Hitler putsch 1923,

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch und Abg. Winfried Mack CDU: Reichskristallnacht!)

Fall der Berliner Mauer 1989, aber auch der 9. November 1938, die Reichspogromnacht, die Nacht, in der überall im Deutschen Reich Menschen geschlagen, getreten, beraubt, mit

Stöcken traktiert und mit Messern erstochen wurden, nur weil sie jüdischer Herkunft waren, die Nacht, in der Synagogen brannten, Bücher angezündet, jüdische Geschäfte geplündert wurden, die Nacht, die den Startschuss gab für die Verschär fung der Politik der Nazis gegenüber allen, die nicht in ihr ari sches Weltbild passten, sozusagen ein Freibrief von ganz oben, eine Aufforderung zur Verfolgung, Demütigung, Diskriminie rung, zu unendlichem Leid und Tod. Die Folgen sind uns be kannt.

Mehr als 70 Jahre danach gedenken wir einmal mehr der Op fer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Wir er innern uns an ihr Leid, wir mahnen, reflektieren, blicken zu rück und schauen nach vorn. Jährliche Routine? Keineswegs. Wir müssen achtgeben, dass sich das Gedenken an die Opfer von Diskriminierung, Rassismus und tödlicher Verfolgung nicht einfach einreiht in einen immer wiederkehrenden Ka non politischer Reden, Mahnungen, Äußerungen von Betrof fenheit und Fassungslosigkeit angesichts dessen, was in der jüngeren deutschen Geschichte passieren konnte.

Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, das genügt nicht. Wir müssen versuchen, zu erreichen, dass junge Men schen bei diesem Thema nicht einfach abwinken, sondern hin hören. Wir müssen den Dialog und die Diskussion suchen. Wir müssen gerade Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, um mittels die ser Reflexion ihrem Leben eine humane Orientierung zu ge ben.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der SPD)

Wir müssen sie sensibilisieren, ihr Gespür schärfen für unter schwelligen Rassismus, für Ausgrenzung, für Pauschalierung, für die Gefahren der Macht und die Verantwortung der Ge sellschaft gegenüber Minderheiten. Unsere Aufgabe soll es nicht sein, die Schuld vergangener Generationen auf die Schul tern unserer Kinder zu laden. Unsere Aufgabe muss es sein, ihnen zu erklären, dass Rassismus und Diskriminierung nicht aufgrund äußerer Umstände entstehen, sondern von innen he raus, aus Neid, aus Angst, aus Unkenntnis, aus Ignoranz.

Erinnern bedeutet in diesem Kontext insbesondere das Ein treten für eine offene Gesellschaft, für eine Toleranz, die aus dem Herzen kommt und die nicht nur in den Köpfen besteht. Damit meine ich ausdrücklich alle Menschen, die hier leben, unabhängig von ihrer kulturellen oder nationalen Identität. Al le sind aufgefordert, unsere freiheitliche demokratische Grund ordnung mit Leben zu erfüllen und gegen die vorzugehen, die sie aushebeln wollen.

Einen erheblichen Beitrag hierzu leisten seit vielen Jahren die Gedenkstätten in Baden-Württemberg. Sie lassen sich von den Grundsätzen leiten, an das Leiden der Opfer von Verfolgung zu erinnern, eine Verständigung und Versöhnung mit den Völ kern herbeizuführen, die unter dem Nationalsozialismus ge litten haben, gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Anti semitismus einzutreten und das Gespräch zwischen Zeitzeu gen und Nachgeborenen zu fördern, um damit eine neue Di alogfähigkeit zu erlangen.

Auch heute stehen die mehr als 60 Gedenkstätten im Land vor großen Aufgaben. Es geht darum, die wissenschaftlichen Grundlagen zu sichern, zeitgemäße gedenkstättenpädagogi

sche, politische Angebote zu unterbreiten und damit am Bil dungs- und Kulturauftrag des Landes mitzuwirken.

Diese wertvolle Aufgabe wird zum größten Teil ehrenamtlich geleistet und stellt einen bedeutenden Beitrag zur demokrati schen Bildung und zur Pflege der Erinnerungskultur dar.

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei all jenen bedanken, die hier mit hohem Einsatz und mit viel Engage ment hervorragende Arbeit leisten.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der SPD)

Danke schön. – Diese Arbeit ist vielschichtig und reicht von historischer Recherche und Dokumentation über die Errich tung von Dokumentations- und Begegnungszentren bis hin zur Erstellung von Schriften für Schulklassen zu Themen wie Vertreibung, Rassenhass und Verfolgung von Minderheiten wie Sinti und Roma oder Homosexuellen.

Diese Gedenk- und Erinnerungsstätten belegen, wie umfas send die Verfolgung durch die Nazis, wie allgegenwärtig der NS-Terror in Württemberg, Baden und Hohenzollern war. Mehr als 40 % der Besucherinnen und Besucher der Stätten sind übrigens Jugendliche, oftmals angeführt von ihren enga gierten Lehrerinnen und Lehrern. Sie spüren nach, zu welchen Handlungen Menschen unter totalitärem Einfluss fähig sind.

An dieser Stelle möchte ich betonen: Ich freue mich ganz be sonders, dass die Fraktionen durch ihren gemeinsamen An trag erreichen konnten, dass der jährliche Zuschuss für die Ge denkstätten in erheblichem Umfang, nämlich um 50 % bzw. um 100 000 €, erhöht wird.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der SPD)

Die Tatsache, dass man die Landesregierung hierum nicht lan ge bitten musste, ist ein deutliches Signal dafür, welch hohen Stellenwert die grün-rote Regierung der Gedenkstättenarbeit einräumt, ein Signal für eine Kultur des Erinnerns, für eine Kultur gegen das Vergessen, für eine Kultur der Offenheit, der Toleranz und der Humanität, eine Kultur, die von uns vorge lebt und von unseren Kindern weitergetragen werden muss.

Erinnern und Besinnen – immer wieder aufs Neue, nicht nur an diesem historischen Tag, dem 9. November.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)