Protokoll der Sitzung vom 18.04.2012

Ich will aber den Blick noch einmal auf das Gesamte lenken. Wir und die grün-rote Landesregierung sehen mit Blick auf die Entwicklung in Deutschland unsere Aufgabe auch darin, im kooperativen Wettbewerb mit anderen Bundesländern neue

Rahmenbedingungen für Baden-Württemberg zu schaffen und dabei die gesamte Entwicklung im Blick zu haben.

Von der Opposition wird hier immer behauptet, Baden-Würt temberg liege im Bildungssektor an der Spitze Deutschlands.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Das stimmt auch!)

Nehmen wir einmal eine der letzten großen Studien, z. B. den Bildungsmonitor 2011 der Bertelsmann Stiftung: Platz 3, Herr Dr. Kern.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: 1!)

Betrachtet man diese Studie aber genauer, dann stellt man fest, dass wir in vielen Bereichen weit abgeschlagen sind. Im Be reich der Integration beispielsweise liegen wir auf Rang 13, im Bereich der Fördermöglichkeiten auf Rang 14, bei der Be treuungssituation auf Rang 9. Das ist weder die Spitze noch das Mittelfeld, meine Damen und Herren, sondern das ist das Ende der Rangliste.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Karl Zimmermann CDU)

Wenn das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Ihr Anspruch für Baden-Württemberg ist, dann können Sie alles so belassen, wie es ist. Unser Anspruch hin gegen sieht anders aus. Wir wollen endlich echte Chancenge rechtigkeit und Leistungsstärke als Ziel. Dazu bedarf es nun einmal veränderter Rahmenbedingungen. Die Gemeinschafts schule ist dabei ein entscheidender Schritt.

Wenn hier, wie bei der letzten Beratung, gesagt wird – ich zi tiere –: „Wir im Südwesten messen uns nur mit den Besten“, sage ich: Natürlich messen wir uns mit den Besten. Auch der SC Freiburg und der VfB Stuttgart messen sich mit den Bes ten.

(Abg. Walter Heiler SPD: Und der HSV!)

Und der HSV. – Aber das Entscheidende ist doch die Frage: Wo stehen wir am Ende dieses Vergleichs? Da stehen wir im Südwesten eben nicht überall auf den Champions-LeaguePlätzen. Da bedarf es Veränderungen und bedarf es Mut zur Veränderung, meine Damen und Herren.

In ganz Deutschland verändert sich die Bildungslandschaft. Kaum ein anderes Land neben Baden-Württemberg hat noch das gegliederte Schulsystem.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Die anderen haben auch Bonussysteme!)

Wenn wir in andere Bundesländer und an die Spitze der Rang liste schauen wollen, müssen wir nach Sachsen und Thürin gen schauen. Dort findet sich traditionell ein zweigliedriges Schulsystem, bestehend aus Gymnasien und aus Mittelschu len, Gesamtschulen, und es wird nicht schon nach der vierten Klasse selektiert, meine Damen und Herren.

(Zurufe von der CDU)

Mit Ausnahme von Bayern ist die Gemeinschaftsschule oder die Gesamtschule bereits in der ganzen Republik vertreten. Die Hauptschulen gehen derzeit in fast allen Bundesländern

in anderen Schularten auf, auch in Bayern beispielsweise, das die Hauptschulen derzeit in Mittelschulen umwandelt. BadenWürttemberg hat unter der vorherigen Landesregierung diese Entwicklung eindeutig verschlafen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Neben dem Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit und der Auf gabe, allen Kindern die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen, haben wir auch die Erwartung der Wirtschaft in ge wisser Weise zu erfüllen. Teamfähigkeit und Sozialkompetenz sind heute wichtige Voraussetzungen. Doch diese Erwartun gen konnten in der Vergangenheit nicht mehr uneingeschränkt erfüllt werden; daher rührt die große Zustimmung beispiels weise des Handwerkstags.

Wir haben die Situation, dass in Baden-Württemberg 25,7 % der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund zwischen 25 und 30 Jahren keinen Ausbildungsabschluss haben. Im Ge genzug haben wir einen hohen Fachkräftemangel. Das geht doch nicht zusammen, meine Damen und Herren. Da muss man doch in Baden-Württemberg aktiv werden und diese Si tuation verbessern. Ich sehe, dass wir noch einiges vor uns ha ben, um in einigen Jahren wieder von einem richtig erfolgrei chen Bildungssystem sprechen zu können.

Ich sage hier auch ganz deutlich: Das liegt nicht an der Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer, die tagtäglich an den Schulen ihr Bestes geben, sondern hier liegt der Fehler im System. Des halb sehe ich uns gefordert, dieses System zu verbessern und an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.

Ich möchte hier gern noch eine Aussage des Bildungsforschers Wilfried Bos aufgreifen. Er sagte, dass Chancengerechtigkeit und Leistungsstärke in einem Bildungssystem abbildbar sind, dass aber derzeit die Chancengerechtigkeit in Deutschland so gut wie keine Rolle spielt und wir dadurch enorm viele Bil dungsverlierer haben. Wir werden in Baden-Württemberg möglich machen, dass Chancengerechtigkeit und Leistungs stärke in einem Bildungssystem zusammengehen und BadenWürttemberg damit für ganz Deutschland zu einem Vorbild für ein modernes, chancengerechtes und leistungsstarkes Schulsystem wird.

Veränderte Schulstrukturen wie die Einführung der Gemein schaftsschule sind hierbei sicherlich kein Allheilmittel. Es sind weitere Schritte notwendig, um das möglich zu machen: die regionale Schulentwicklung beispielsweise, die Lehrerausbil dung, Investitionen in den frühkindlichen Bereich, die wir be reits getätigt haben. Doch ist der heutige Schritt, die Verab schiedung des Gesetzes zur Einführung der Gemeinschafts schule, ein wegweisender Schritt zu einem besseren, leistungs starken und chancengerechten Schulsystem in Baden-Würt temberg.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die SPD-Fraktion spricht Kolle ge Kleinböck.

Herr Präsident, liebe Kolle ginnen, liebe Kollegen, meine Damen und Herren! Wir haben einige Fakten, die für die Gemeinschaftsschule sprechen, ge

hört. Ich will gar nicht alles wiederholen, sondern nur einige wesentliche Punkte ansprechen:

Die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder werden deutlich verbessert. Das ist vielfach nachgewiesen. Dass wir insgesamt höhere Bildungsleistungen erzielen, das muss man natürlich wollen. Wir wollen das. Auch dass die Chancengleichheit beim Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen gewahrt wird, muss man natürlich wollen. Wir wollen das. Dass in fast al len Ländern länger gemeinsam gelernt wird, ist ein Fakt. Auch das Ergebnis der PISA-Studien – wir können es nachlesen –, dass das längere gemeinsame Lernen in diesen Ländern ein Erfolgsfaktor ist, muss man anerkennen. Das sind doch Argu mente, angesichts derer wir fragen müssen: Gibt es in Deutsch land besondere Rahmenbedingungen, die die Notwendigkeit des längeren gemeinsamen Lernens ernsthaft infrage stellen können?

Ganz wichtig ist uns auch, dass wir vor allem die starke Kopp lung von sozialer Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit ei nerseits und Bildungserfolg andererseits sehen. Diese zu än dern muss man natürlich auch wollen.

Sie wissen natürlich auch, meine Damen und Herren: Ein Er gebnis des längeren gemeinsamen Lernens in diesen Ländern ist eine viel geringere Leistungsstreuung. Das heißt aber nicht, dass es dort weniger Spitzenleistungen geben würde. Vielmehr ist die Gruppe derjenigen Schülerinnen und Schüler, denen notwendige Basisqualifikationen für ein lebenslanges Lernen oder für eine vernünftige Ausbildung fehlen, wesentlich klei ner. Der Anteil derjenigen, die Spitzenleistungen erbringen, ist sogar deutlich größer als in Deutschland, meine Damen und Herren von der Opposition.

Zumindest was die Steigerungsrate bei den Spitzenleistungen angeht, sollte es doch eine breite Zustimmung bei Ihnen ge ben. Dass hierzu sozusagen noch eine Zugabe gegeben wird, indem die Zahl der wenig Qualifizierten – was ich persönlich als ganz große gesellschaftliche Herausforderung betrachte – deutlich abnimmt, kann uns doch im Grunde genommen nur recht sein.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Meine Damen und Herren, ich habe an dieser Stelle schon ein mal darauf hingewiesen, dass in Deutschland momentan 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren keinen Berufsabschluss, keine Ausbildung haben. Ich habe schon da rauf hingewiesen, dass wir hier in Baden-Württemberg einen erheblichen Beitrag dazu geleistet haben. Auch wenn wir mit einem Anteil von 7 % Schulabgängern ohne Abschluss im Ranking relativ gut dastehen, sind es auch im letzten Jahr 6 200 junge Menschen gewesen, die wir so in dieses System entlassen haben. Die Altersarmut ist für diese jungen Leute bereits im Alter von 17 oder 18 Jahren vorprogrammiert. Das können wir nicht einfach sehenden Auges zulassen, meine Da men und Herren.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Wir haben, um diesen neuen Weg zu gehen – das kann man auch nicht oft genug sagen –, in den Jahren 2011/2012 insge samt 4 000 Lehrerstellen im System belassen, die Sie eigent lich streichen wollten, meine Damen und Herren von Schwarz

Gelb. Das ist ein ordentlicher Beitrag. Das sind Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden.

Wenn Sie hier auch wieder auf die Grundschulempfehlung zu sprechen kommen, deren Verbindlichkeit wir aufgehoben ha ben, muss ich einfach noch einmal deutlich sagen: Wir wis sen doch alle, dass diese Empfehlung am Ende der Klasse 4 mit erheblichen Unsicherheiten behaftet war, dass wir viele falsche Schullaufbahnempfehlungen konstatieren mussten. Ich verweise nur auf die Abschlüsse an der Integrierten Ge samtschule Mannheim, die Sie auch in der Statistik nachlesen können, und ich verweise auf die Stresssituationen für Leh rer, für Eltern und vor allem für Schülerinnen und Schüler. Manche mögen da vielleicht sagen: Das ist der Härtetest, das ist der Einstieg ins wirkliche Leben. Das kann man so sehen; wir sehen es allerdings nicht so, sondern wir wollen uns die Verbindlichkeit bei der Grundschulempfehlung wirklich er sparen.

Wir wissen natürlich auch, dass Eltern das Leistungsvermö gen ihrer Kinder nicht unbedingt immer richtig einschätzen. Auch das ist für mich ein ganz gravierender Grund dafür, dass wir uns in Richtung Gemeinschaftsschule auf den Weg ma chen müssen.

Lassen Sie mich zur Verbindlichkeit der Grundschulempfeh lung noch eines sagen: Jede falsche Beratung, die da erfolgt ist, jede einzelne falsche Beratung war eine falsche Beratung zu viel.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zurufe von der SPD: Ja! Genau!)

Meine Damen und Herren, der Wechsel nach der Klasse 4 ist sowohl im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung als auch im Hinblick auf die Lernentwicklung viel zu früh. Wir wissen es: Starke Persönlichkeiten sind gute Lerner. Das weiß man, Herr Dr. Kern, übrigens auch in Schleswig-Holstein. Sie gestatten sicherlich, dass ich die Meldung aus dem dortigen Kultusministerium zitiere: „Eltern sind froh über die Gemein schaftsschule.“ Sie wissen, dass es Ihr Parteifreund ist, der dort das Zepter in der Hand hält.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Noch!)

Die Gemeinschaftsschule ist in Schleswig Holstein ein Er folgsmodell. Das wird – das kann ich Ihnen sagen – auch bei uns so kommen.

(Abg. Klaus Herrmann CDU: Siehe PISA!)

Sie wissen, dass das seine Zeit braucht.

Im Übrigen weise ich noch einmal darauf hin: Die bildungs politische Diskussion, die wir im Land und hier im Haus er leben – z. B., Lehrer seien „Lernbegleiter“; sie seien keine Lehrer mehr, sondern sie säßen nur noch da und unterhielten sich mit den Kindern; es hieß: hoffentlich schauen sie wenigs tens, ob die Kinder überhaupt noch arbeiten –, zeigt doch ganz deutlich, dass die „Kompetenz“, die sich dahinter verbirgt, oftmals nur im eigenen Schulbesuch begründet ist oder sich durch das Parteibuch, die Parteilinie begründet. Da sollten wir, meine Damen und Herren, doch etwas mehr auf das achten, was bereits im Land läuft.

Nur die eigene Bildungsbiografie zugrunde zu legen ist für ei ne nachhaltige Bildungspolitik schlicht und ergreifend zu we nig. Da darf man sich auch im Bereich der Bildung einmal eher auf Fachleute verlassen.

Bereits in den Sechzigerjahren haben Bildungsexperten – Dahrendorf und andere – das Schulsystem angeprangert, weil es den Benachteiligten zu wenig Chancen lasse, und sie ha ben schon damals das Bürgerrecht auf Bildung gefordert. 40 Jahre später sind wir nun hier in Baden-Württemberg keinen Schritt weiter.

Deshalb ist es notwendig, dass auch in diesem Land endlich etwas geschieht. Wir haben auch im Bildungsausschuss eine breite Diskussion geführt. Sie können dies im Protokoll nach lesen.