was sich andererseits aber bei den Menschen, die einen Be zug zur Praxis haben, also bei Lehrern, Schülern und auch bei den meisten Eltern, als ein wichtiger Baustein einer vernünf tigen Schulpolitik erwiesen hat?
Mit dieser leistungsfeindlichen Einstellung kann man im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe nicht be stehen und wird langfristig im Mittelmaß enden.
Und der Verband Bildung und Erziehung hier in Baden-Würt temberg warnt vor einer „Schule der Beliebigkeit“.
Meine Damen und Herren, aus der Praxis möchte ich anfü gen: Keine Schule lässt heute noch leichtfertig einen Schüler sitzen. Die Verantwortlichen besprechen das offen mit den Schülern und Eltern. Man überlegt gemeinsam, ob ein Wie derholen oder gegebenenfalls auch der Wechsel zu einer an deren Schulart infrage kommt, die möglicherweise für den Schüler besser geeignet ist. Außerdem – auch das ist ein wich tiger Hinweis, weil es unbekannt zu sein scheint –: Die Klas senkonferenz hat eine ganze Reihe von Möglichkeiten, den Schüler trotz schlechter Noten doch noch in die nächste Klas senstufe zu versetzen,
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass Sie mit der Abschaffung dieses leistungsorientierten Instruments gerade den schwäche ren Schülern einen Bärendienst erweisen, denn diese Schüler brauchen einen Lehrer, der ihnen je nach Situation mal die Hand, aber auch mal die Stirn bietet.
Genauso vernünftig und unideologisch wie die Praktiker sieht das übrigens auch die Mehrheit in Deutschland. In einer Em nid-Umfrage sprachen sich 54 % der Befragten dafür aus, dass Schüler, die das Klassenziel nicht erreicht haben, die Klasse wiederholen. Bei den 14- bis 29-Jährigen der Befragten ist so gar eine deutliche Mehrheit von 63 % für das Sitzenbleiben; nur 36 % sind dagegen.
Man sieht, sehr geehrter Herr Minister Stoch: Mit Ihrer For derung haben Sie weder die Schulpraktiker auf Ihrer Seite noch eine Mehrheit im Volk hinter sich.
Herr Minister, wenn es Ihnen wirklich um das Wohl der Schüle rinnen und Schüler in Baden-Württemberg ginge, dann müss ten Sie sich überlegen, welche Maßnahmen Sie ergreifen müs sen, um das Sitzenbleiben an Schulen tatsächlich überflüssig zu machen. Denn die Sitzenbleiber fallen ja nicht vom Him mel. Die Leistungsprobleme von Schülern tauchen in der Re gel doch schon lange vor der Versetzungsentscheidung auf.
Wer es mit einer besseren Betreuung von Schülern ernst meint, der müsste so ehrlich sein, zu sagen, dass wir dafür mehr Lehrerstellen ins Bildungssystem geben müssten, um kleine re Klassengrößen zu haben. Sie von Grün-Rot geben aber nicht mehr Ressourcen in unser Bildungssystem, sondern Sie bauen in den nächsten Jahren 11 600 Lehrerstellen ab. Wer wie Sie mehr individuelle Förderung von Schülern verbal ein fordert, gleichzeitig aber im Parlament die Entscheidung trifft, Ressourcen einzusparen, ist scheinheilig.
Da wir hier heute schon die Bibel zitiert haben: So etwas wur de vor 2 000 Jahren als Pharisäertum bezeichnet.
Der Vorstoß des Kultusministers zielt im Kern auf etwas ganz anderes. Die von Grün-Rot offensichtlich geplante Abschaf fung des Sitzenbleibens ist ein weiterer Baustein, ein weite res Element des gezielten Angriffs auf das leistungsorientierte Bildungswesen in Baden-Württemberg. Wenn man die grünrote Schullandschaft der Zukunft verstehen will, muss man sich die Gemeinschaftsschulen anschauen. Sie sind die Blau pausen, nach denen das gesamte Schulwesen umgekrempelt werden soll.
Man sollte sich nur einmal anschauen, mit welcher bemer kenswerten Schnelligkeit und mit welcher Kaltschnäuzigkeit Grün-Rot in den vergangenen Monaten den bildungspoliti schen Garten in Baden-Württemberg mit dem Schaufelrad bagger umgegraben hat, um dieses Ziel der einen Schule für alle zu erreichen.
(Oh-Rufe von den Grünen und der SPD – Abg. Hans- Ulrich Sckerl GRÜNE: „Schaufelradbagger“! Geht es nicht ein bisschen ruhiger? – Zuruf des Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD)
Wir erinnern uns: Abschaffung der verbindlichen Grundschul empfehlung, keine verbindlichen Noten und kein Sitzenblei ben an der Gemeinschaftsschule, keine Niveaustufen an den Gemeinschaftsschulen, Austrocknen des beruflichen Bildungs wesens durch die Gemeinschaftsschule, der grün-rote Kampf gegen die Realschule als Rückgrat des gegliederten Bildungs wesens,
Abschaffung der Notenhürde in der Werkrealschule von Klas se 9 nach 10 – alles Angriffe auf die Bildungsvielfalt in Ba den-Württemberg.
Und nun erfolgt der neueste Angriff, nämlich die postulierte Abschaffung des Sitzenbleibens, ein weiterer Baustein im Ge neralangriff. Sie arbeiten nach wie vor an einem Einheitsbil dungsplan, denn es wird keinen eigenständigen Bildungsplan bei der Realschule mehr geben, und ob es zu einem eigenstän digen gymnasialen Bildungsplan von Klasse 5 bis Klasse 12 kommt, bleibt abzuwarten. Es steht zu befürchten, dass es le diglich einen gymnasialen Aufsatz obendrüber gibt.
Die Gemeinschaftsschule – das ist interessant – könnte man fast als die neue Erlöserschule bezeichnen, denn nach Ansicht von Grün-Rot ist die Gemeinschaftsschule die richtige Schu le für Lernbehinderte – Stichwort Inklusion –, die richtige Schule für die Hauptschüler, die richtige Schule für die Real schüler, die richtige Schule für die Gymnasiasten,
und im letzten Bildungsausschuss haben wir erfahren, dass auch für die Hochbegabten die Gemeinschaftsschule die rich tige Schule ist. Ich empfehle allen, dieses umfangreiche Buch hier genau zu lesen.
(Der Redner hält eine Ausgabe des Buches „Experti se Gemeinschaftsschule“ von Dr. Thorsten Bohl und Sibylle Meissner hoch.)
Ich kann Sie beruhigen, vor allem das Fazit ist entscheidend. Geschrieben wurde dieses Buch u. a. von Professor Bohl. Wer sich die entsprechenden vier Doppelseiten am Ende des Bu ches durchliest, wird erkennen, dass Professor Bohl – ein ideo logischer Vordenker und wissenschaftlicher Begleiter der Ge meinschaftsschule – folgendes Fazit zieht: Solange die Real schulen, solange die Gymnasien in Baden-Württemberg exis tieren, ist die Existenz der Gemeinschaftsschulen, das Funk tionieren der Gemeinschaftsschulen massiv gefährdet.
Jeder kann es nachlesen, schwarz auf weiß: Die Existenz von Realschulen und Gymnasien gefährdet die Gemeinschafts schulen. Wettbewerb wird bei Ihnen als etwas Schädliches
dargestellt. Die Pädagogik der Gemeinschaftsschule soll für alle anderen Schularten die Leitpädagogik werden.
Nachdem das Sitzenbleiben an den Gemeinschaftsschulen ver boten ist, soll dies nun auch an allen anderen Schulen der Fall werden. Das Ziel von Grün-Rot ist, dass überall die gleichen Bedingungen erfüllt werden.
Sie wollen die Einheitsschule in Baden-Württemberg. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Grün-Rot, machen Sie mit Ih rer Bildungspolitik nur so weiter wie bisher: ideologisch ver krampft, an der Praxis und an den Interessen der Menschen in Baden-Württemberg vorbei.
(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Das Buch gleich hierlassen, Herr Kollege!)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Eine Klasse zu wiederholen ist kein Drama, schon gar kein Weltuntergang und sicher auch kein lebenslan ges Trauma für die Schüler.
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Heiterkeit des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU – Abg. Karl-Wil helm Röhm CDU: Das kann ich bestätigen! – Gegen ruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Ehrlich? Bist du sitzengeblieben?)
Es ist ein pädagogisches Instrument, das die Chance bietet, einmal zusätzliche Zeit zu haben. Manche brauchen das, weil sie zu früh eingeschult wurden; das ist die andere Seite dieser Medaille. Manche brauchen diese Chance, um größere Wis senslücken zu schließen. Manche brauchen diese Chance, um Wissen zu festigen und dann besser weiterzumarschieren. Für manche ist es auch ein ultimativer Weckruf, dass sich ein Wei terkommen ohne Anstrengungen und Leistungsbereitschaft nicht automatisch einstellt.